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     2640  0 Kommentare Börsen-Kindergarten

    So sehr ich mich auch bemühe: Als Börsianer und Vater eines kleinen Kindes kann ich die Parallelitäten zwischen der Börsenwelt und der Kinderwelt einfach nicht länger verdrängen. Es ist wirklich erstaunlich, wie identisch hier gedacht wird.

    Meine Tochter zieht beispielsweise am liebsten die Strümpfe mit den Kirschen darauf an. Dann erzählt sie immer, dass sie die Kirschen von den Strümpfen essen wird. Das ist natürlich unmöglich, wie lächerlich, kleine Kinder sind eben vielfach noch sehr naiv. Kirschen von den Strümpfen essen - pah! Doch nichts anderes glauben auch die Aktionäre. Sie glauben, dass Aktien einen inneren Wert haben, nach dem sich das Kursniveau ausrichtet, und dass sie diesen inneren Wert selbst auch einmal selbst aufessen können.

    Der Trugschluss des Aktionärs könnte jedoch nicht größer sein und erweist sich als völlig identisch mit dem des kleinen Mädchens. Denn wenn eine Aktiengesellschaft nicht liquidiert und der Liquidationserlös an die Aktionäre ausgeschüttet wird, kommt der Aktionär niemals, ich wiederhole: niemals! an den inneren Wert der Aktie heran. Denn alles, was er machen kann, ist, seine Aktie an jemand anders weiter zu verkaufen, der jedoch ebenso wenig die Kuh selbst schlachten und in Form von Schnitzeln verspeisen kann. Aktienkurse richten sich daher niemals nach den Fakten oder der Realität, also dem, was der Fall ist, sondern zu hundert Prozent nach dem, was die Leute glauben, dass es der Fall ist. Und wie die Geschichte zeigt, haben diese beiden Größen in der Regel eigentlich nichts miteinander gemein.

    Ebenso schön ist es, wenn meine Tochter auf ihre Kinderfrau wartet. Sehnsüchtig harrt sie dann, dass die Petra endlich klingelt. Und wenn die Ungeduld zu groß wird, dann sagt sie oft: "Pappa, geh doch mal klingeln, damit die Petra bald kommt." Dies entspricht haargenau der Konstruktionsweise des ZEW-Indikators sowie vieler sogenannter "Leading-Indicators": Man fragt die Leute, ob sie lieber den grünen oder den roten Klingelknopf drücken wollen. Entscheidet sich die Mehrheit für den grünen Klingelknopf, dann steigen daraufhin die Aktienkurse, weil grünes Licht ja freie Fahrt für die Aktien bedeutet.

    Irgendwann ist dann jedoch auch der längste Kindertag zu Ende. Dann heißt es, ins Bett zu gehen, die Augen zuzumachen und von den Schäfchen zu träumen, wie sie von einer Wolke zur anderen springen. Auch hier kann ich wirklich keinen einzigen Unterschied zur Börsenwelt erblicken.

    berndniquet@t-online.de


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Börsen-Kindergarten So sehr ich mich auch bemühe: Als Börsianer und Vater eines kleinen Kindes kann ich die Parallelitäten zwischen der Börsenwelt und der Kinderwelt einfach nicht länger verdrängen. Es ist wirklich erstaunlich, wie identisch hier gedacht …