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    "Ein Skandal, für den man sich nur schämen kann"  5045  2 Kommentare Arbeit schützt vor Armut nicht - schon gar nicht in Deutschland

    In Deutschland war letztes Jahr fast jeder Zehnte Beschäftigte von Armut bedroht. Besonders bei jungen Menschen gehört es mittlerweile zur Normalität, erst einmal einen prekären Job anzunehmen. Das eingesparte Geld fließt indes woandershin.

    Zwei Fragen vorweg: Was bringt es einer Gesellschaft, wenn fast alle ihre Mitglieder in Arbeit stehen und sich dennoch nur das Nötigste von ihrem Einkommen leisten können? Wie viel wichtiger können schöne Arbeitsmarktdaten im Vergleich zur Zufriedenheit der Bevölkerung sein? 

    Tatsächlich befindet sich die Arbeitslosenquote der Bundesrepublik aktuell auf einem absoluten Rekordtief. 2015 waren gerade mal 4,6 Prozent aller Erwerbspersonen arbeitslos, fünf Jahre zuvor waren es noch 7,6 Prozent. Die damals ergriffenen Arbeitsmarktreformen scheinen also - oberflächlich betrachtet - Wirkung gezeigt zu haben. 

    Unter der Oberfläche brodelt es jedoch gewaltig. Denn die neu geschaffenen Jobs haben keineswegs zu mehr Wohlstand unter den Arbeitnehmern geführt, im Gegenteil. Die neuesten Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat zeigen auf erschreckende Weise, dass immer mehr Beschäftigte einem Armutsrisiko ausgesetzt sind.

    Das heißt, dass die Betroffenen mit weniger als 60 Prozent des mittleren deutschen Einkommens (derzeit rund 890 Euro netto im Monat) auskommen müssen. Während dies im Jahr 2005 noch für 4,8 Prozent aller Arbeitnehmer galt, war 2015 fast jeder Zehnte (9,7 Prozent) von Armut bedroht. 

    Arbeits-Armutsgefährdungsquote in Deutschland

    Quelle: Eurostat

    Noch größer ist das Risiko für jene, die prekär, also zum Beispiel befristet oder in Leiharbeit beschäftigt sind. Wer keinen unbefristeten Arbeitsvertrags hat, der droht mit 20-prozentiger Wahrscheinlichkeit - und damit am schnellsten - in die Armut abzugleiten. 

    Das trifft vor allem auf junge Menschen und Berufseinsteiger zu. Es ist mittlerweile traurige Normalität geworden, dass das Gehalt in den ersten Berufsjahren kaum zum Leben reicht. So geht fast jeder vierte Deutsche unter 30 Jahren heute einer atypischen Beschäftigung nach. Unnötig zu erwähnen, dass sich die individuelle Misere immer doppelt niederschlägt. Wer als Arbeitnehmer nicht viel hat, der hat auch später als Rentner nicht viel. 

    Das Geld ist nicht weg, es ist nur woanders

    Natürlich löst sich das von den Arbeitgebern eingesparte Entgelt nicht einfach in Luft auf, es fließt nur in anderer Form einer anderen Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern zu. In der empirischen Verteilungsforschung werden diese Leute meist in den oberen Dezilen der Einkommensanteile verortet.

    Wer zu den glücklichen oberen zehn Prozent gehört, der bezieht sein Einkommen häufig nicht mehr nur aus Arbeit, sondern teilweise oder sogar gänzlich aus Kapitalerträgen. Das können zum Beispiel Gewinne aus Aktien oder sonstigem Vermögen sein, die mit verschiedenen Kostensenkungsmaßnahmen der Unternehmen logischerweise steigen.

    Die verantwortlichen Manager werden für ihren Firmenerfolg ebenfalls mit Gehältern und Bonizahlungen in Millionenhöhe belohnt. Aktuell verdienen die DAX-Chefs mehr als das 50-fache des Durchschnittsgehalts ihrer Angestellten. Zusammengerechnet sitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen damit auf insgesamt 60 Prozent allen Einkommens. 

    Ungleichheit in Deutschland am größten

    Dass das Einkommen aus Firmenbesitz und Vermögen damit in den letzten Jahren mehr als vier Mal so stark angestiegen ist, wie die Löhne, hat in Deutschland zu einer extrem großen Kluft zwischen arm und reich geführt. Schon vor zwei Jahren kam das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu dem Schluss, dass das vorhandene Vermögen in keinem anderen Land der Eurozone so dermaßen ungleich verteilt ist, wie in Deutschland.

    Messen lässt sich das anhand des sogenannten Gini-Koeffizienten, ein Ungleichheitsmaß, welches die Verteilung von Vermögen auf die verschiedenen Einkommensgruppen wiedergibt. Je stärker sich der Wert einer 1 nähert, umso ungleicher ist das Vermögen verteilt, eine Null deutet hingegen auf vollkommene Gleichverteilung hin. In Deutschland lag der Koeffizient 2014 bei 0,78, in Frankreich dagegen nur bei 0,68, in Italien bei 0,61 und in der Slowakei sogar nur bei 0,45.

    Ein "Armutszeugnis"

    Besonders bitter ist dieses Ergebnis angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Bundesrepublik um eines der reichsten Länder der Welt handelt. Ein "Armutszeugnis, das seinesgleichen sucht", kommentierte der DGB-Bundesjugendsekretär Florian Haggenmiller diese Entwicklung auf einer Gewerkschaftsveranstaltung. Es sei ein "Skandal, für den man sich nur schämen kann."

    Auf die anfangs gestellte Frage über den Nutzen hübscherer Arbeitsmarktdaten lässt sich daher nur schwerlich eine akzeptable Antwort finden. Denn die daraus resultierende Ungleichheit führt über kurz oder lang zwangsläufig zu wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Dass man diese nicht unterschätzen darf, hat das Jahr 2016 nun mehrmals eindrücklich bewiesen. 





    wallstreetONLINE Redaktion
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