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     3920  0 Kommentare Betrug bei Premiere?

    Weit schlimmer noch!

    Am Wochenende ist bei „Spiegel-Online“ ein Bericht erschienen, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg gegen den Fernsehsender „Premiere“ vorgehe „wegen Abzocke-Vorwurf“, und gegen den Vorstandschef Kofler sogar „wegen Verdachts auf Betrug ermittelt werde.“ Betrug bei einem börsennotierten Unternehmen? Ich denke: Weit schlimmer noch!

    Was ist passiert? Premiere wird von Tausenden Kunden vorgeworfen, dass Kündigungen nicht beachtet wurden. Wäre dieser Vorwurf richtig, handelte es sich also um ein Fall von allgemeiner Geltung. Ich selbst bin als Fan des englischen Fußballs seit langen Jahren Premiere-Kunde. Doch eines Tages kann ich das Programm nicht mehr empfangen. „Diese Sendung ist nicht zu entschlüsseln“ zeigt mir der Decoder an. Die Hotline ist nicht zu erreichen. „Versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.“ Als auf sieben Mails nicht geantwortet wird, kündige ich meinen Vertrag fristlos. Keine Leistung, keine Zahlung. Diese Kündigung wird nicht beachtet. Die wiederholte Kündigung wird mit den Worten kommentiert, dass man sie „natürlich nicht akzeptiere“. Das Programm kann ich weiterhin nicht empfangen, doch das ist kein Thema in der Ablehnung der Kündigung.

    Seitdem türmen sich aufgrund eingestellter Zahlungen Mahnungen auf. Und an diesem Punkt wird es für jeden Kunden schwierig. Riskiert man für hundert Euro einen Prozess mit einem Giganten, der zudem in München stattfindet, weil dies der Sitz des Unternehmens ist? Was ist mit meiner Schufa, wenn ich einen Mahnbescheid bekomme? Da ich noch niemals in meinem Leben mit so etwas konfrontiert worden bin, kenne ich mich nicht aus, bin unsicher. Und genau darauf scheint man zu setzen, ist mein Gefühl.

    Ich schreibe Briefe, drei an der Zahl. Sie werden allesamt nicht beantwortet. Es kommen nur Musterbriefe, ich möge meine Zahlungen ausgleichen. Das Programm kann ich weiterhin nicht empfangen. Darauf wird jedoch nicht eingegangen. Ich fühle mich wie der Landvermesser K. in Kafkas „Das Schloss“. Mein persönlicher Eindruck ist: Hier geht ein Unternehmen einfach unter, zumal ich eine Weiterführung meines Abonnements in Aussucht stelle, wenn ich es wieder empfangen könnte. Wahrscheinlich ist das Personal radikal abgebaut worden, denke ich, und niemand wird den Kundenkontakten mehr Herr.

    Seit ich den Artikel in „Spiegel-Online“ gelesen habe, ist mir allerdings der Zahn der Naivität gezogen. Jetzt höre ich die Nachtigall trapsen, wie wir Berliner sagen. Ich kann mich des Eindruck nicht mehr erwehren, dass es sich hier um ein allgemeines Geschäftsmodell handelt, das Modell einer fehlgeleiteten New Economy, dass ganz bewusst Asymmetrien ausnutzt und eine ganz besondere Form der „Kundenbindung“ kreiert, um daraus Erträge zu erwirtschaften.

    Wir alle werden uns in Zukunft auf dieses Geschäftsmodell einstellen müssen, nicht nur bei Premiere, sondern überall. Die technischen Revolutionen haben dazu geführt, dass Unternehmen für den Kunden nicht mehr greifbar sind. Der Kunde hat keine Ansprechpartner und kann sich nicht wehren. Kaum streckt er seinen Arm aus, um dennoch zu versuchen, sich zu wehren, weicht die große Krake zur Seite. Der Schlag geht ins Leere, doch der Saugarm der Krake klebt auf der Stirn. Ein Entkommen wird immer schwieriger, manchmal gar unmöglich.

    Dass Unternehmen mit Callcentern arbeiten und sich Routinen und Musterbriefen bedienen müssen, liegt in der Natur der Sache. Es kommt nur darauf an, was daraus gemacht wird. An dieser Stelle möchte ich das höchste Lob auf ein Unternehmen wie die Deutsche Telekom aussprechen. Auch hier tut man sich schwer, dem Kunden im Einzelfall gerecht zu werden, wie ich aus leidvoller eigener Erfahrung weiß. Doch der Unterschied zwischen Premiere und der Deutschen Telekom ist, als ob man eine Geschäftsbeziehung nach Nigeria und eine in die Schweiz unterhält. Der Anleger sollte derartige Überlegungen ebenfalls anstellen.


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Betrug bei Premiere? Weit schlimmer noch! Am Wochenende ist bei „Spiegel-Online“ ein Bericht erschienen, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg gegen den Fernsehsender „Premiere“ vorgehe „wegen Abzocke-Vorwurf“, und gegen den Vorstandschef Kofler sogar …