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    Börsen-Zeitung  779  0 Kommentare Vox Populi und Mr. Market, Marktkommentar von Dietegen Müller

    Frankfurt (ots) - Selten, dass eine einzige, noch dazu weitgehend
    unbekannte Person Aktien- und Devisenmarkt zugleich in Aufruhr
    versetzt. Dem Präsidenten des Unterhauses des brasilianischen
    Parlaments, Waldir Maranhão, ist dies kürzlich gelungen. Er hatte
    überraschend das Amtsenthebungsverfahren gegen die brasilianische
    Präsidentin Dilma Rousseff für ungültig erklärt. Damit schickte er
    die Landeswährung Real kurzfristig um 4,6% und den Leitindex Bovespa
    um 3,5% in den Keller (vgl. Chart). Der Spuk war von kurzer Dauer,
    Währung und Börse erholten sich, Rousseff wurde schließlich doch
    suspendiert.

    Das Beispiel bedient zwei gängige Klischees: Politische Börsen
    haben kurze Beine. Und wenn überhaupt, spielt Politik vor allem auf
    den Finanzmärkten in Schwellenländern eine Rolle. Beides ist eine
    Fehleinschätzung. In den vergangenen zehn Jahren haben europäische
    Aktien gemessen am MSCI Europe Index etwa nicht viel besser
    abgeschnitten als Schwellenländermärkte. Es ist nicht von der Hand zu
    weisen, dass dies mit politischer Instabilität und Unsicherheit zu
    tun hatte: Das europäische Schuldendrama und die Befürchtungen um ein
    Auseinanderbrechen der Währungsunion haben ihre Spuren im Wachstum
    und im Vertrauen von Investoren hinterlassen.

    Es gibt Marktbeobachter wie der Vermögensverwalter William Blair,
    die meinen, seit dem Ende des Kalten Kriegs seien politische
    Extremrisiken wie ein Nuklearschlag einer Supermacht von der
    Bildfläche verschwunden. Dafür sei die Welt permanent unsicherer
    geworden, geprägt von größeren und kleineren Konflikten. Dieser Sicht
    ist viel abzugewinnen. Die Welt ist multipolar geworden, die Zahl
    internationaler kriegerischer Konflikte hat in den letzten Jahren
    zugenommen. Auch sind vermeintlich stabile Gefüge in Bewegung. Eine
    Sorge ist etwa, ob in Europa weitere autoritär und
    interventionistisch geprägte Regierungen Einfluss gewinnen werden.
    Die US-Großbank Citigroup spricht in diesem Zusammenhang von
    "Vox-Populi-Risiken" sowie "neuen sozioökonomischen Risiken", die
    ihre Kraft auch aus Umverteilungsfragen sowie einer terroristischen
    Bedrohungslage ziehen.

    Die nächsten eineinhalb Jahre werden neue Anhaltspunkte geben,
    wohin Europa steuert: In Deutschland und in den Niederlanden stehen
    2017 Parlamentswahlen an, in Frankreich Präsidentschaftswahlen. Eine
    Antwort müssen auch die spanischen Wähler finden, wem sie ein Mandat
    für die Führung ihres defizitgeplagten Landes geben wollen. Schon im
    Juni werden die britischen Wähler über die EU-Mitgliedschaft der
    Insel entscheiden. Und am 8. November wird sich zeigen, ob in den USA
    der von Wall Street gefürchtete republikanische Kandidat Donald Trump
    das Rennen macht oder die als moderat geltende Demokratin Hillary
    Clinton.

    Die Börse ist eine Wahl- und eine Gewichtungsmaschine, sagte der
    legendäre US-Investor Benjamin Graham einmal: Langfristig entscheiden
    Fundamentaldaten, kurzfristig die Launen der Anleger. Die
    Charaktereigenschaft von Mr. Market trifft also in politischen Fragen
    auf die kurzfristigen Launen der Wähler, was ein komplexes, mitunter
    explosives Gemisch ergibt. Finanzmarkt und Politik sind beides
    vielschichtige, sehr volatile, anpassungsfähige Systeme mit
    Rückkoppelungseffekten. Damit entziehen sie sich allen langfristigen
    Prognosen. Doch ist unstrittig, dass Politik, Regulierung und Markt
    sich gegenseitig beeinflussen. Politische und regulatorische
    Veränderungen können genauso Ursachen für Marktverwerfungen sein wie
    eine Folge davon, wenn etwa der Kapitalmarkt signalisiert, dass die
    Schuldenlast eines Staates oder das Geschäftsmodell eines
    Unternehmens untragbar geworden ist.

    Noch fehlt der überzeugende Ansatz, wie politische Risiken in
    ihren Auswirkungen auf die Finanzmärkte erfassbar sind. In den
    Kinderschuhen stecken Experimente mit Plattformen, die sich hier die
    "Weisheit der Masse" zunutze machen wollen. Market und Vox Populi
    sind beide schwer fassbar. So ist trotz Flüchtlingskrise und Sorgen
    vor einem EU-Austritt Großbritanniens etwa der Euro Break-up Index
    des Analysehauses Sentix im April auf niedrigem Niveau geblieben. Mit
    16,7 % liegt er weit unter dem Höhepunkt von 73%. Den hatte der Index
    im Juli 2012 erreicht, ein Jahr nach einem Einbruch von fast 20 % am
    Aktienmarkt. Und doch provozieren Umfragen zum Ausgang des
    Brexit-Referendums schön regelmäßig neue Kursschwankungen. Politische
    Risiken zu gewichten, fällt Mr. Market so schwer wie Fundamentaldaten
    zu interpretieren - auch er ist eben zunächst eine kurzfristig
    geprägte "Voting Machine".

    OTS: Börsen-Zeitung
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