Wann eine Rally in Euphorie endet
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
eine alte Börsenregel besagt, dass eine Rally in einer Euphorie endet. Aber offenbar gilt das nicht in jedem Fall: Vor der Finanzkrise 2007/08 war von Euphorie an den Aktienmärkten nichts zu spüren. Warum Rally nicht gleich Rally ist und was das für den laufenden Bullenmarkt bedeutet.
Wie die Börsenregel zum Börsenmythos wird
Viele Börsenregeln sind inzwischen zu Börsenmythen geworden – sie halten einer genaueren Überprüfung nicht stand. Grund dafür ist meist der Stille-Post-Effekt: Die ursprüngliche Formulierung der Regel hat sich im Laufe der Zeit (auch dank tatkräftiger Mithilfe der Medien) auf möglichst kurze und griffige Bonmots verkürzt. Dadurch werden sie zwar für jedermann leicht verständlich, aber allzu häufig geht dadurch der Kerngedanke verloren.
So dürfte es auch mit der eingangs erwähnten Börsenregel gewesen sein. Sie geht auf einen Ausspruch der Investmentlegende Sir John Templeton zurück, der vollständig so lautet: „Bullenmärkte werden im Pessimismus geboren, wachsen durch Zweifel, reifen im Optimismus und sterben in der Euphorie.“
Gegenüber der einfachen Regel, dass eine Rally in einer Euphorie stirbt, sind zwei wichtige Unterschiede zu erkennen: Erstens spricht Templeton nicht von einer Rally, sondern vom Bullenmarkt und zweitens beschreibt er dessen vollständigen Zyklus.
Der große Stimmungszyklus der Anleger
Diese Unterschiede scheinen auf den ersten Blick spitzfindig zu sein. Rally oder Bullenmarkt – wo ist da der Unterschied? Und es ist ja klar, dass etwas vor dem Ende kommen muss, wenn irgendwann Schluss sein soll.
Allerdings spiegeln Zitate stets auch das Credo der betreffenden Person wider. Und Templeton war ein ausgesprochen langfristiger Investor, kein Spekulant. Er dürfte also bei seinem Ausspruch die langanhaltenden Aufschwünge der Börsen im Sinn gehabt haben. Und diese langfristigen Kursanstiege dauern in der Regel viele Jahre – weil der Stimmungszyklus der Anleger, den Templeton beschreibt, nicht in wenigen Monaten durchlaufen wird. Insbesondere die Phase des Zweifels dauert häufig sehr lange (wie wir derzeit wieder sehr gut sehen können).