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    Armut - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 17.09.05 10:26:20 von
    neuester Beitrag 17.09.05 19:27:12 von
    Beiträge: 10
    ID: 1.007.728
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      schrieb am 17.09.05 10:26:20
      Beitrag Nr. 1 ()
      Quelle: Sueddeutsche Zeitung

      Arm gegen Reich

      Die Letzten werden die Letzten sein

      Armut ist keine Frage des Geldes mehr, sondern eine Schande: Arm ist, wer die Kleider der älteren Geschwister anziehen muss und die falschen Schuhe trägt. Der Staat kann da nix machen. Jeder ist sich selbst am nächsten.
      Von WILLI WINKLER

      Die neue Verarmung ist schleichend. Tendenziell arm sind geringer Qualifizierte, Kinderreiche, alleinerziehende Mütter, Kranke. Armut droht jedem, der länger arbeitslos und bereits über 50 Jahre alt ist.



      Meine Großmutter hat acht Kinder geboren und dafür vom Führer Adolf Hitler das Mutterkreuz bekommen, auf das sie sehr stolz war. Zwei Kinder blieben ihr im Krieg, zwei starben an Diphtherie, aber die anderen vier brachte sie durch, zog sie in Ehren groß und ging weiter jeden Tag zwei Mal in den Stall, um die Kühe zu melken. Als ihr Mann gestorben und der Hof an ihre Tochter und den Schwiegersohn übergeben war, arbeitete sie weiter, versah den Haushalt, betreute die fünf Kinder ihrer Tochter und ging auch noch jeden Morgen in die Frühmesse. Fast bis zum letzten Tag arbeitete sie, und als sie im 80. Lebensjahr starb, im späten Winter vor 34 Jahren, bezog sie eine Rente von 125 Mark, von der sie den größten Teil für ihre Enkel beiseite legte.

      Nach dem "2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung", der im April 2005 veröffentlicht wurde, wäre meine Großmutter bettelarm gewesen, schlimmer noch, sie wäre jenem einen Prozent der Bevölkerung zugerechnet worden, das 2003 aus finanziellen Gründen einen Fernseher und ein Telefon entbehren musste oder jenen immerhin sieben Prozent, die sich "nicht in der Lage sehen, ein Auto zu unterhalten oder einmal im Monat Gäste zu bewirten".


      Tod durch die Guillotine
      Dennoch ist das nicht ganz die Armut, wie man sie über die letzten 250 Jahre angeprangert, bekämpft und benutzt hat. Noch früher, im christlichen Mittelalter, saßen die Armen vor dem Kirchenausgang und hofften auf eine milde Gabe, die sie auch erhielten. (Den Muslimen ist dies gute Werk bis heute vorgeschrieben.) Die bürgerlichen Städte ließen sich im Interesse der Gemeinschaft die Versorgung jener Unglücklichen angelegen sein, die durch die Wechselfälle des Lebens zum rechten Gelderwerb außerstande waren und zuletzt auch keine Familie mehr hatten.

      Erst die massenhafte Migration in die Städte in der beginnenden Industrialisierung machte die Armut sozialauffällig und politisch interessant. Plötzlich überforderte sie Bürgersinn und Stadtsäckel. François-Noël Babeuf, einer der wenigen Revolutionäre, die selber in der Armut aufgewachsen waren, nannte die Armen "Fremde im eigenen Vaterland" und wollte "endlich einmal eine Revolution durchführen, die für alle Zeiten das Glück der Volksmassen und die wahre Volksherrschaft sichert". Die Ordnungspolitiker der Französischen Revolution verurteilten ihn dafür zum Tode. Noch im Gericht stach er sich ein Messer in die Brust – es waren heroische Zeiten! –, überlebte aber, so dass ihm die Guillotine am nächsten Tag vorschriftsmäßig den letzten Lebenshauch nehmen konnte.

      Romantiker wie Marx und Engels glaubten, in den Armen, die durch den antikischen Begriff "Proletarier" geadelt wurden, die Streitmacht gefunden zu haben, mit der sich zur Morgenröte der Revolution aufbrechen ließe. Der pathetische Spruch, dass sie nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten, war schon 1848 nicht mehr als eine überhitzte Intellektuellenphantasie, eine sentimentale Erinnerung vielleicht an den Lateinunterricht, und fand später seine angemessene Endlagerung als Werbespruch eines Kreuzberger Fahrradladens.


      Untergrundarmee von Recht- und Besitzlosen
      Die Armut sei, wie Rilke Millionen von Besserverdienern weiszumachen suchte, ein großer Glanz von innen, aber vor allem erleuchtete sie bürgerliche Revolutionäre. Die Intellektuellen konnten ihre brandstiftenden Reden halten, pamphletieren und manifestieren, soviel sie wollten, und am Ende sogar Winterpaläste stürmen, die Armen, denen zulieb das doch geschah, mochten sich nicht erheben. Die Armut verschwand trotzdem, zumindest auf der Nordhalbkugel.

      Um so mehr staunte die westliche Welt, staunten auch die Amerikaner, als sich aus der Überschwemmung in New Orleans eine ganze Untergrundarmee von Recht- und Besitzlosen erhob, den ungekannten Armen der postindustriellen Gesellschaft, die zum allgemeinen Entsetzen tausendfach nicht in der Lage waren, ein Auto zu unterhalten, und ob sie wenigstens sommers jemanden auf ihrer jämmerlichen Veranda bewirtet haben, ist auch eher zweifelhaft. Es war wie die nachgereichte Illustration des vorwurfsvollen Brecht-Schlagers von jenen im Dunkeln, die man nicht sieht.


      Arm ist, wer in Großfamilien die Kleider der älteren Geschwister auftragen muss, wer die falschen Turnschuhe trägt, wer am Hockey-Kurs nicht teilnehmen kann, weil die Eltern noch an zwei weitere Kinder denken müssen. Der gute Staat kann da nicht mehr helfen.





      In Deutschland wäre eine solche massenhafte Armut unvorstellbar. Zwei Weltkriege, die Millionen Vertriebenen, der Adenauersche Lastenausgleich, die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards und vor allem der rasche wirtschaftliche Daueraufschwung in den fünfziger und sechziger Jahren verwandelten die Klassengesellschaft des 19. in die klassenlose Gesellschaft gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als soziale Revolution von oben ein welteinmaliger Zu- und Glücksfall. Der von Erhard versprochene "Wohlstand für alle" trat in der Ära Brandt/Schmidt tatsächlich ein. Als Helmut Kohl 1998 das Bundeskanzleramt verließ, war erreicht, was Marx und Engels sich als ersten Schritt zum Kommunismus ausgemalt hatten: der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden.


      Armutsrisikoquote und Nettoäquivalenzeinkommen
      Für die Soziologen hieß das die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", in der der Gegensatz zwischen Arm und Reich nicht bloß aufgehoben war, sondern in der es das Phänomen Arm und Reich gar nicht mehr geben sollte. Der neue Armutsbericht rühmt sich dieser Nivellierung als politischer, auch menschlicher Leistung und muss doch melden, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich wieder auftut.

      Zur "Armutsrisikoquote" gehören in der behördlichen Sprache Personen, deren "bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen" weniger als 60 Prozent des Mittelwerts beträgt; ihr Anteil ist zwischen 1998 und 2003 von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen.

      Die untere Hälfte der Haushalte verfügt über vier Prozent des Nettovermögens der Bundesrepublik, während die obersten zehn Prozent 47 Prozent halten. Die Zahl der Millionärshaushalte (in Mark) ist zwischen 1998 und 2003 von 1,1 auf 1,6 Millionen gestiegen.

      Von einer allgemeinen Verarmung kann dennoch nicht die Rede sein, und die Revolution, die sich Engels so blutigrot ausmalte vor 160 Jahren, wird trotz aller Appelle der Linkspartei, wird trotz Attac und Hartz IV niemals kommen.

      Warum? "In Gesellschaften wie der unseren", formuliert der "Armuts- und Reichtumsbericht" landpflegerisch, "liegt das durchschnittliche Wohlstandsniveau wesentlich über dem physischen Existenzminimum." In Deutschland liegt die "Armutsrisikogrenze" bei 938 Euro. Vor allem die Transferzahlungen des Staates haben das Armutsrisiko bei der gefährdeten Gruppe noch mal um zwei Drittel reduziert.


      Tanz den Apocalypso
      Die neue Verarmung ist schleichend und sie findet zur Verwirrung aller Sozialromantiker auf einem historisch einmaligen Niveau statt. Tendenziell arm sind geringer Qualifizierte, Kinderreiche, alleinerziehende Mütter, Kranke. Armut droht jedem, der länger arbeitslos und bereits über 50 Jahre alt ist.

      Arbeit wird als Lösung für alle Probleme gepriesen, aber Politiker dürfen nicht aussprechen, dass in Industriegesellschaften selbst Vollbeschäftigung eine beständige Sockelarbeitslosigkeit von fünf bis sieben Prozent bedeutet. Das sind nicht unbedingt die Arbeitsscheuen, das sind auch Suchtkranke, Behinderte, in vieler Hinsicht Gescheiterte. Bisher war auch für sie gesorgt. Die Kommission der Bundesregierung plädiert für einen "relativen Armutsbegriff", was in der fürsorglichen Sprache des Sozialstaates heißt, dass arm wäre, wer von der "Teilhabe an der Gesellschaft" ausgeschlossen ist.

      So einfach ist das aber nicht: "Die offizielle Gesellschaft", schreibt Ralf Dahrendorf, "hat den Armen noch stets ihre Lebenslage zum Vorwurf gemacht." Armut ist heute und jedenfalls in Deutschland keine Frage des Geldes, sondern eine Schande. Arm ist, wer in Großfamilien die Kleider der älteren Geschwister auftragen muss, wer die falschen Turnschuhe trägt, wer am Hockey-Kurs nicht teilnehmen kann, weil die Eltern noch an zwei weitere Kinder denken müssen. Der gute Staat kann da nicht mehr helfen.

      Der gute Staat vermag immer weniger. Der Lastenausgleich zwischen West und Ost, der Deutschland einigen sollte, hat inzwischen eine volkswirtschaftlich bedenkliche Größe angenommen, die Arbeitslosigkeit ist von den Arbeitsplatzbesitzern nicht mehr finanzierbar, die Gesunden und Arbeitsfähigen sind demnächst nicht mehr in der Lage, die Kranken und Alten mitzuversorgen.

      Das Ende der Transferleistungen – Renten, Kindergeld, Arbeitslosen- und Sozialhilfe –, der Abbau des Sozialstaats insgesamt mag eine wirtschaftliche Notwendigkeit sein, es beginnt damit aber eine unverhoffte Revolution. Die Besitzenden fürchten den Makel der Armut nicht weniger als die Armen und sind deshalb entschlossen, den Gesellschaftsvertrag aufzukündigen. Anders als es die Romantiker seit Babeuf erwartet haben, ist heute eher mit einer Rebellion der Reichen gegen die Ärmeren zu rechnen. Die Rente, der Arbeitsplatz, die Regierung, die Zukunft: Nichts ist mehr sicher. Wenn einem täglich dieser Apocalypso vorgetanzt wird, ist sich jeder selber am nächsten. Die Armen, das sind die anderen.

      Meine Großmutter war nicht arm, aber anspruchslos. 1970 kostete die Maß Bier auf dem Oktoberfest 2,75 Mark. Das hätte sie sich mit ihrer Rente vielleicht gerade leisten können. Meine Großmutter brauchte den aufblühenden Sozialstaat nicht. Sie wohnte bei ihrer Familie und sie starb dort auch. Weil sie jeden Samstag die Stadt Gottes ausgetragen hatte, erschien bei ihrer Beerdigung ein Pater der Steyler Mission. Meine Großmutter war nicht arm, sie hat, weil sie es nicht besser wusste, ihr Leben lang um Gottes Lohn gearbeitet.

      (SZ vom 14.09.2005)
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 10:46:56
      Beitrag Nr. 2 ()
      Jeder denkt sich sein Leben irgendwie selber aus, arm und reich wird bei uns eher gefühlt, als gelebt.

      Eine Bekannte von uns konnte ihrem 7-jährigen Sohn zur Einschulung kein neues handy kaufen, Sie fühlt sich seither arm und als nicht besonders tolle Mutter.:rolleyes:

      Ist das wirkliche Armut?:look:
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 10:58:52
      Beitrag Nr. 3 ()
      [posting]17.933.375 von Effektentiger am 17.09.05 10:46:56[/posting]nein, daß ist eine Absurde Auffassung daß man ständig glaubt mithalten zu müssen auch wenn es vorn und hinnten icht reicht. Es gibt aber in Deutschland immer mehr
      Familien oder Alleinerziehende die ohne solche Allüren
      echte Probleme haben über den Monat zu kommen und da liegt das Problem.

      A.
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 11:15:50
      Beitrag Nr. 4 ()
      Auf alle Fälle eine wahnsinnig gute Beschreibung, die ich in der SZ zweimal las.

      Trotzdem hätte ich gerne eine Diskussion über die Armut in Deutschland. Was ist eigentlich Armut?

      Ist Armut nicht auch, wenn man als Einzelkind aufwächst und alles, aber auch alles hat nur keine wirklichen Freunde? Ist Armut auch wenn man einen sehr guten Job hat und in keinster Weise bereit ist was abzugeben?

      @Effektentiger ich seh´s natürlich auch so, dieses Kind ist nicht unbedingt arm.
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 11:24:03
      Beitrag Nr. 5 ()
      Tja - Armutsdiskussionen sind z.Z. en vogue.

      Ich frage mich wirklich, ob die Gesellschaft dafür aufkommen muß, wenn sich jemand nun nicht das neueste Handy leisten kann, oder die Klamotten seiner Geschwister tragen muß - und ist dies wirklich Armut??

      Und ein zweiter Punkt :
      In der Argumentation wird regelmäßig Armut angeprangert und als gottgegeben dargestellt - aber sind all die Armen ohne eigenes Verschulden in diese Situation gekommen?? - oft wohl nicht - und soll ich dafür auch noch soziale Verantwortung übernehmen?

      Ich höre schon die Antworten -
      Soziale Kälte in D, der Egoismus nimmt zu, usw. - ein endloses Thema...

      Gruß,
      C.

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      Avatar
      schrieb am 17.09.05 12:11:21
      Beitrag Nr. 6 ()
      Elend ohne Not und Hunger
      VON STEFAN SAUER, 03.03.05, 06:45h

      Die Überschriften zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sind schnell getippt: „Arme werden immer ärmer, Reiche immer reicher“ oder „Die Wohlstandsschere öffnet sich weiter“.
      Daran ist - bei aller Plakativität- viel Wahres. Diese Wahrheit ist vielschichtig und bezieht sich nicht zuvörderst auf das verfügbare Einkommen. Paradox genug: Viele Arme leben teuer. Sie verzehren überdurchschnittlich häufig ungesunde Fertigprodukte, anstatt preiswerter und gesünder zu kochen. Fettleibigkeit ist längst zu einem Statusmerkmal der Unterschicht geworden. Sie verfügen über ein Arsenal an Unterhaltungselektronik, auf das Gutverdiener oft dankend verzichten. Sie rauchen mehr als Bessergestellte. Nach den Tabaksteuererhöhungen sank die Raucherquote bundesweit um sieben Prozent. Nur 12- bis 17-Jährige in den neuen Ländern qualmen wie eh und je. Von materieller Not oder gar Hunger sind jene 13,5 Prozent der Menschen, für die nun ein Armutsrisiko festgestellt wurde, offenbar nicht betroffen.

      Von Elend schon. Es zeigt sich, wenn der Fernseher acht Stunden läuft; wenn Kinder nicht mehr auf Bäume klettern; wenn Erwachsene nicht gelernt haben, dass sie selbst für ihr Leben Verantwortung tragen; wenn Anstrengung und Disziplin als Zumutungen begriffen werden; wenn Vorlesen flach fällt und später auch das Lesen; wenn Kartoffelchips und DVD-Player Gespräche ersetzen.

      Das Elend ist mental. Es vererbt sich in Deutschland von Generation zu Generation mit einer Wahrscheinlichkeit, wie sie keine andere entwickelte Gesellschaft aufweist. Die Pisa-Studie erzählt die Geschichte von vererbter „Bildungsferne“, wie Unbildung neuerdings politisch korrekt genannt wird. Kindergarten und Schule beseitigen die Defizite nicht.

      Die Elendsspirale beginnt mit dem Wegbrechen von Industriezweigen in Ost und West, mit unverschuldeter Massenarbeitslosigkeit. Das sozialstaatliche System der Bundesrepublik war darauf ausgerichtet, mit relativ hohen Transfers vorübergehende Not aufzufangen. Als daraus massenhafte Dauerarbeitslosigkeit wurde, flossen die Gelder weiter und prägten eine Kultur der Abhängig- und Hilflosigkeit. Heute leben viele Familien in der dritten Generation von „Stütze“.

      Was muss geschehen, um den Teufelskreis zu durchbrechen? Erstens: Bildung. Fördern und fordern von Anfang an, nicht nur die Kinder, auch die Eltern. Ausgerechnet Erwachsene, die jede Menge Zeit hätten, lassen Engagement für Kindertagesstätte und Schule oft vermissen. Wäre es so abwegig, die Zahlung des Kindergeldes von der regelmäßigen Teilnahme an Elternabenden, Schulfesten und Kita-Ausflügen abhängig zu machen?

      Zweitens: Arbeit. Auch schlecht bezahlte Arbeit, auch staatlich bezuschusste, ist tausendmal besser als keine. Arbeit hat Wert, wer arbeitet, verdient Respekt. Leistung muss sich wieder lohnen. Für Hochnäsigkeit gibt es nicht den geringsten Anlass. Dazu gehört freilich auch, dass Spitzenverdiener sich vor dem Fiskus nicht länger arm rechnen können. Notwendig ist ein gesellschaftlicher Mentalitätswechsel, unten wie oben. Armes reiches Deutschland. Natürlich: Geld spielt eine Rolle. Aber ausschlaggebend ist es nicht.


      Gruß Dirac
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 14:38:39
      Beitrag Nr. 7 ()
      Quelle:Bundeszentrale für politische Bildung

      III. Kampf der Armen gegen die Reichen?

      Nicht nur Sozialwissenschaftler fragen sich, warum "die in einer Gesellschaft (bzw. in der Welt) bei der Verteilung begehrter Güter regelmäßig benachteiligte, an der selbstständigen Bestimmung ihres Schicksals gehinderte und vielfach diskriminierte Mehrheit der Bevölkerung diesen Zustand so häufig tatenlos hinnimmt" [31] . Karl Marx hatte vor über 150 Jahren prognostiziert, dass die Ausgebeuteten immer ärmer und die Ausbeuter immer reicher würden, so dass ein Umsturz der Verhältnisse zu erwarten sei. Auch wenn dieses Szenario nicht eingetreten ist, gilt die bis heute anhaltende und in jüngerer Zeit wieder zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen als problematisch und konfliktträchtig. Lehnen sich die Armen gegen die Reichen auf? Werden sie es in Zukunft tun?

      Betrachtet man die modernen Schauplätze, an denen Arme Reiche treffen könnten, um ihre Ansprüche zu formulieren, muss man zwangsläufig das Gegenteil annehmen. Lenkt man zunächst den Blick auf mögliche Reichtumskonflikte in der Welt der Berufe, fällt ein banales, aber nicht minder wirksames Phänomen auf: Als hierarchisch strukturierte Gebilde erzeugen Betriebe als Arbeitsorganisationen in der modernen Gesellschaft zwar primär ungleiche Einkommen, schließen jedoch intern Konflikte weitgehend aus. Der Grund dafür liegt in der Mitgliedschaftsregel. Sie besagt, dass sich jedes Mitglied einer formalen Organisation mit seinem Beitritt bestimmten, teilweise ausformulierten Verhaltenserwartungen unterwirft. In Konfliktsituationen zieht sich die Arbeitsorganisation darauf zurück, dass alle Mitglieder primär und auf gleiche Weise dem Organisationszweck verbunden sein sollen. [32]

      Frustrationen, Enttäuschungen und Konflikte müssen sich deshalb in der Berufswelt ihren Weg oft unterirdisch bahnen. So ist die Ungleichheit von Karrieremöglichkeiten und die Benachteiligung der Frauen zwar offenkundig, dennoch können Enttäuschungen nicht adäquat ausgedrückt werden. Karrierehoffnungen treffen angesichts der Knappheit höherer Stellen zwangsläufig auf die arbeitsorganisatorische Abwehr von Ansprüchen, die den Mitgliedern eine enttäuschungsbereite Vorsichtshaltung nahe legt.

      Das duale System der industriellen Beziehungen verhindert zudem schon im Ansatz die Verhärtung von Konflikten zwischen Mitarbeitern, Betriebsräten und Geschäftsführungen. Während sich der Betriebsrat um die interne Vertretung von Interessen kümmert, wird der Streit ums Geld jeweils der Bühne des Unternehmens ausgetragen. [33] Er findet als Tarifverhandlung an einem fernen Ort statt und wird mit massenmedialer Aura umgeben. Die dabei ausgesprochenen harten Worte machen für Mitarbeiter und Arbeitgeber deutlich, dass für ihre Interessen entschieden gekämpft werde. Eher selten, aber grundsätzlich erwartbar kommt es zu Streiks, die spürbare Schmerzen zufügen. Zum Ritual der Verhandlungspartner gehört es, nach einem Streik auch die Unzufriedenheit mit dem Erreichten auszudrücken und so dem Kontrahenten bei der Gesichtswahrung behilflich zu sein.

      Die Ventilfunktion des Flächentarifvertrags wird dadurch jedoch nicht vermindert. Wären an seiner Stelle unzählige Verhandlungen zu führen, würden die Verteilungskonflikte in jedem Betrieb zu einer viel debattierten Realität. Sie würden nicht nur von der Arbeit abhalten. Folgenreicher wäre ihre Verunsicherung über die Angemessenheit ungleicher Einkommensverteilungen. Flächentarifverträge speisen so das Normalitätsempfinden. Auch wenn man sein Gehalt bescheiden findet, weiß man wenigstens, dass die Kolleginnen und Kollegen auf derselben Stufe genauso bezahlt werden, und zwar nicht nur die am nächsten Schreibtisch, sondern auch im gesamten Land.

      Was im außertariflichen Bereich passiert, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Die tariflich bezahlten Mitarbeiter stellen bestenfalls Vermutungen über die Gehälter der leitenden Angestellten und Führungskräfte an. Werden Spitzengehälter dennoch thematisiert, führen sie eher zur Bewunderung als zu Konflikt und Aufbegehren. Die hohen Gehälter der Leitenden erscheinen dann eher als Beweis für ihre Übermacht.

      Immerhin schreibt z. B. das Aktiengesetz im § 87 Abs. 1 vor, dass "die Gesamtbezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft" stehen müssten. Wenn der Aufsichtsrat der Deutschen Bank ihrem Vorstandsvorsitzenden 12,682 Millionen Euro Jahresgehalt zubilligt, dann scheint das für die normalen Angestellten kaum nachvollziehbar zu sein. Diese Vergütung entspricht dem Jahresgehalt von mehr als 400 Bankangestellten, die gemäß Tarifvertrag mit rund 30 000 Euro "angemessen" entlohnt werden.

      Die frühere Faustregel, dass Vorstandsmitglieder das Zwanzigfache des Facharbeiterlohnes verdienen, bewegt sich heute jenseits des Dreihundertfachen. Ganz abgesehen davon schließen hohe Abfindungen das persönliche Existenzrisiko ohnehin aus, auch wenn "goldene Handschläge" wie jene für Mannesmann-Chef Klaus Esser (60 Millionen DM) oder Chrysler-Chef Robert Eaton (97 Millionen Dollar) von der Größenordnung her Ausnahmen waren. Die Angemessenheit ungleicher Bezahlungen ist kaum mehr erkennbar, wenn sich die durchschnittliche Vergütung der Vorstände deutscher Großunternehmen zwischen 1995 und 2000 fast verdreifacht und ihre Grundvergütung mehr als verdoppelt, während tarifvertraglich entlohnte Arbeitnehmer in dieser Zeit in den meisten Branchen nur knapp zehn Prozent mehr Geld erzielen konnten. [34] Da liegt die Erklärung mit dem "Kartell der Bosse", das sich gegenseitig die Millionen genehmigt, freilich nahe, weil die Aufsichtsräte, welche die Gehälter der Vorstände beschließen, wiederum aus ehemaligen Vorständen oder Vorständen anderer Unternehmen bestehen.

      Diese Entwicklung ändert jedoch nichts daran, dass es in der Berufswelt heute im Regelfall gelingt, mit Hilfe von kollektiven Tarifverträgen das Willkürempfinden der Menschen weitgehend aufzulösen. Wer als Neuankömmling in der Welt der Berufe eine Enttäuschung erlebt und ungerechte Unterordnung beklagt, dem bestätigen die bereits sozialisierten Kollegen, dass alles seine Richtigkeit habe. Der erste mögliche Schauplatz des Konflikts zwischen Arm und Reich stellt sich für den Bürger erstaunlich konfliktfern dar.

      Wendet sich der Bürger hingegen politischen Öffentlichkeiten zu, kann er anders erleben, empfinden und handeln, denn dort gilt die Hemmung des Konfliktausdrucks gerade nicht. In der Familie, Verwandtschaft und in geselligen Freundeskreisen, im öffentlichen Protest, neuen sozialen Bewegungen oder abends vor dem Bildschirm beschwert sich der Bürger nicht selten über die Ungerechtigkeit von Armut und Reichtum. Wer es im Beruf nicht geschafft hat, eine Tarifgruppe höher eingestuft zu werden, ganz zu schweigen von Beförderungen in Führungsebenen, die andere Einkommensdimensionen versprechen, sucht nach Ausdrucksmöglichkeiten für seine Enttäuschungen. Das gilt vor allem dann, wenn ein Vorankommen im Berufsleben ausbleibt oder sich das Gegenteil einstellt: der berufliche Abstieg, der durch Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Firmenschließungen, Karriereeinbrüche und Standortverlagerungen heute millionenfach eintritt.

      Wenn der Bürger seinen Frust in der Öffentlichkeit ausspricht, bleibt wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass dessen eigentliche Quellen politisch nicht konfliktfähig sind. Die Organisationshierarchie hat in politischen Konflikten noch nie zur Disposition gestanden. Über Berufskarrieren kann nur in Unternehmen selbst entschieden werden. Führungspositionen können nicht vermehrt werden. Dass berufliche Hierarchien ungleiche Anerkennungs- und Achtungschancen hervorbringen, können Gewerkschaften ebenso wenig verhindern wie die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit von Berufskarrieren schon zu einem frühen Zeitpunkt in eine Sackgasse mündet und in erstaunlichem Ausmaß immer noch vom Status der Herkunftsfamilie abhängt. [35]

      Zudem können, seitdem in den siebziger Jahren der kurze Traum immerwährender Prosperität zu Ende gegangen ist, die westlichen Wohlfahrtsstaaten die Kluft zwischen Arm und Reich nicht mehr durch steigende Steuereinnahmen mildern. Noch Anfang der siebziger Jahre haben die Erfahrung ständiger Einkommenserhöhungen, wachsender Konsumchancen und der Glaube an ein ewiges Wachstum dem Bürger eine Lebensperspektive gegeben, die gleichsam automatisch nach "oben" zeigte. Berufliche Mobilitätserwartungen brauchten sich deshalb nicht unbedingt auf hierarchische Aufstiege zu richten. [36]

      Seit dem Ende dieser Träume befinden sich die Rollen der Menschen im Berufsleben und als Staatsbürger im Rückwärtsgang, so dass der Bürger nicht nur viel öfter in "unkonventionellen" Rollen gegenüber dem Staat auftritt. [37] Der Bürger zeigt auch einen veränderten Erwartungsstil, denn er ist nicht anspruchslos, wenn er die öffentliche Bühne betritt. [38] Wer sich im Kampf um Armut und Reichtum unterlegen sieht, kann wenigstens dem "Aufstand des Publikums" gegen den Staat beitreten und entsprechende Forderungen stellen. [39]

      Während Finanzminister, egal welcher politischen Couleur, schon beim Amtsantritt ein grundsätzliches Veto gegen jeglichen Ausgabenwunsch verkünden, wird die Anspruchsinflation durch Interessenvertreter, Verbände, Parteien und Massenmedien verstärkt. Die Klagen über neue Armut, Massenarbeitslosigkeit und die sich erweiternde Schere von Arm und Reich verhallen zwar nicht ungehört. Aber das laute, politische Getöse spaltet die Gesellschaft nicht, weil es weitgehend folgenlos bleibt. Im Ergebnis findet sich der Staatsbürger am Feierabend zu den Nachrichten wieder und schüttelt den Kopf über das, was Interessenvertreter und Politik ihm zu bieten haben. Politikverdrossenheit ist das Ergebnis; Armut und Reichtum bleiben von öffentlichen Auseinandersetzungen weitgehend unberührt.

      In der korporatistisch formierten Gesellschaft Deutschlands ist ein etwaiger Schauplatz für Kämpfe um Vermögensverteilungen nicht auszumachen. Im institutionalisierten, entschärften Tarifkonflikt geht es um Einkommens-, nicht um Vermögensfragen, schon gar nicht um grundsätzliche Verteilungsfragen. Vermögen wird still vererbt, leise angehäuft oder zufällig im Lotto gewonnen, nicht jedoch durch öffentlich sichtbare, beabsichtigte und bestimmten Gruppen zurechenbare Entscheidungen zugewiesen. Dadurch ist es desintegrierenden Auseinandersetzungen von vornherein entzogen. Die weniger Reichen und auch die Armen erleben den Reichtum der Reichen mit Bewunderung in den Boulevardblättern und bei RTL-Exklusiv. Sie schauen zu ihnen auf, hegen keine Umsturzgelüste und wissen zudem nicht viel über das genaue Ausmaß dieses Reichtums.

      Wie Untersuchungen immer wieder gezeigt haben, definieren die Menschen ihre Lage nicht, wie man als externer Beobachter leicht glauben könnte, nach statistischen Verteilungsmaßstäben sozialer Gleichheit oder Gerechtigkeit. Sie beurteilen ihre materielle Lebenslage vielmehr im Verhältnis zu ihren jeweiligen Bezugsgruppen, um eigene Normalitätserwartungen zu bilden. Selbst wenn sie "objektiv" als arm erscheinen, meinen sie, sie seien selbst eher ein Durchschnittsfall. [40] Und so fühlen sich Kolleginnen und Kollegen in einer Arbeitsgruppe ungerecht behandelt, weil ihr Einkommensunterschied vielleicht bei 1 000 Euro im Jahr liegt, während sich der deutsche Vorstandsvorsitzende eines internationalen Konzerns mit rund 6 Millionen Euro Jahressalär unterbezahlt fühlt, weil sein amerikanischer Kollege ein Vielfaches davon verdient. [41] Auch wenn es dadurch zu "lokalen" Streitigkeiten kommen mag, wird der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt durch Bezugsgruppenkonflikte eher verstärkt, weil Konfliktlinien mit größerer Sprengkraft vielfältig gebrochen und entschärft werden.
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 17:49:33
      Beitrag Nr. 8 ()
      was für eine kacke...

      ich habe viel geld - aber natürlich trägt mein jüngerer sohn auch vom älteren die sachen. der hat auch kein problem damit.
      diese wegwerfmetalität ist ja widerlich...

      handy haben sie auch noch keins.

      fahrrad haben wir von bekannten gebraucht gekauft.
      für was bitte ein teures bike wenn die dinger sowieso geschunden und rumgeschmissen werden...
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 18:23:36
      Beitrag Nr. 9 ()
      Armut ist ein geistiger Zustand.
      Avatar
      schrieb am 17.09.05 19:27:12
      Beitrag Nr. 10 ()
      Denke ich ehrlich gesagt auch, stimmt aber trotzdem nicht ganz.


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