Mittelbayerische Zeitung
Berechnend und dominant/Algorithmen verändern nicht die Zukunft, sondern sie beherrschen bereits unsere Gegenwart. Von Christine Strasser
Regensburg (ots) - Bilanzen, Handelskonflikte, Aktienkurse oder
eine Zinsentscheidung wie die der EZB vergangene Woche - was prägt
unsere Wirtschaft? Nach welchen Logiken funktioniert das
Wirtschaftssystem? Kluge Köpfe denken wirtschaftliche und soziale
Entwicklung zusammen. Auf der Frankfurter Buchmesse wird man auf
solche Denker stoßen. Denn dort wird das beste Wirtschaftsbuch des
Jahres mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Verdient
hätten diesen Preis Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, die mit "Wir
und die intelligenten Maschinen" zu den Finalisten gehören. Sie
beschreiben die "algorithmische Gesellschaft" - nicht in der Zukunft,
sondern in der Gegenwart. Längst sollte über eine Art neuen
Gesellschaftsvertrag im Zeitalter der künstlichen Intelligenz
gestritten werden. Aber die allzu oft lahmende Digitalrepublik
Deutschland hinkt nicht nur beim Glasfaserausbau, sondern auch bei
der Debatte über soziale Folgen und Gestaltungsfragen beim Megathema
KI hinterher. Laut einer Bertelsmann-Umfrage, die Dräger und
Müller-Eiselt zitieren, weiß nur ein Zehntel der Deutschen, wie
Algorithmen in etwa funktionieren. Dabei durchdringen sie unser
Leben. In Teilen Berlins werden etwa Grundschulplätze seit einigen
Jahren algorithmengestützt vergeben. Es gibt Fälle, da wird die
Datenanalyse zu einem Vorteil für die Gesellschaft. Man denke an
Kriminalitätsprognosen, bei denen anhand von Daten über Bebauung,
Demografie, Wetter und Verkehrslage die Wahrscheinlichkeit für
Einbrüche berechnet werden kann. Aber Künstliche Intelligenz steckt
auch voller Tücken. Die Mathematikerin Cathy O'Neil macht sich schon
länger Gedanken über "Mathezerstörungswaffen". Damit ist nicht
gemeint, dass Algorithmen die Mathematik zerstören, sondern sie
benutzen sie. Sie durchforsten riesige Datenmengen auf der Suche nach
Mustern, auf die sie Vorhersagen gründen: da-rüber, ob ein Bankkunde
einen Kredit zurückzahlen wird, ob ein Bewerber für einen Job
geeignet ist oder wie Arbeitskräfte am wirkungsvollsten eingesetzt
werden können. Algorithmen stellen gefühllos Berechnungen an. Für sie
spricht, dass sie, wenn sie gut programmiert sind, zu ehrlichen
Ergebnissen kommen. Zahlen lügen nicht, sagt man. Andererseits sind
Algorithmen einfach nur berechnend, stets auf ein Ziel bedacht, das
oft genug darin besteht, menschliche Fehler zu erkennen. Geschähe das
auf transparente Art, wäre das wohl noch hinnehmbar, aber oft bleiben
die Berechnungen für den Betroffenen verborgen. In den USA gibt es
beispielsweise bereits Unternehmen, die Fotos von Bewerbern
analysieren lassen. Angeblich lassen sich so Wahrscheinlichkeiten für
Krankheiten berechnen. Bei einer Jobabsage erfährt der Bewerber aber
nicht, dass das der Grund für sein Scheitern war. Sein Leben wird von
einem Algorithmus gelenkt, ohne dass er das überhaupt weiß. Menschen
weichen im Denken und Handeln ständig von der vollständigen Vernunft
ab. Viele Algorithmen, denen wir online begegnen, setzen da an. Es
geht darum, Dinge zu vermarkten und zu verkaufen. Greift der Käufer
zu, weil er entschieden hat, dass er das angebotene Produkt braucht?
Viele Entwickler stecken ihre Energie jedenfalls gerade nicht in die
Lösung von Menschheitsproblemen, sondern vor allem in die
Programmierung solcher Anwendungen, die menschliche Schwachstellen
ausnutzen. Ausgefeilte Verkaufsstrategien sind kein neues Phänomen.
Genauso wenig wie Automatisierung. Insbesondere sie wird in ihren
aggressiven Ausprägungen durch Künstliche Intelligenz verstärkt. Das
birgt sozialen Sprengstoff. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen
leitet ihren Selbstwert von ihrer Arbeit ab. In den meisten
Industrieländern ist eine Kehrseite der KI zu spüren: die
Aufspreizung in hoch bezahlte Jobs und in immer mehr schlecht
bezahlte. Diese Entwicklung wird nicht erst kommen, sie läuft bereit
ab. Um mit Algorithmen umzugehen, muss man sich klarmachen: Es geht
nicht um eine düstere Zukunftsvision, sondern um die Realität.
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eine Zinsentscheidung wie die der EZB vergangene Woche - was prägt
unsere Wirtschaft? Nach welchen Logiken funktioniert das
Wirtschaftssystem? Kluge Köpfe denken wirtschaftliche und soziale
Entwicklung zusammen. Auf der Frankfurter Buchmesse wird man auf
solche Denker stoßen. Denn dort wird das beste Wirtschaftsbuch des
Jahres mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Verdient
hätten diesen Preis Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, die mit "Wir
und die intelligenten Maschinen" zu den Finalisten gehören. Sie
beschreiben die "algorithmische Gesellschaft" - nicht in der Zukunft,
sondern in der Gegenwart. Längst sollte über eine Art neuen
Gesellschaftsvertrag im Zeitalter der künstlichen Intelligenz
gestritten werden. Aber die allzu oft lahmende Digitalrepublik
Deutschland hinkt nicht nur beim Glasfaserausbau, sondern auch bei
der Debatte über soziale Folgen und Gestaltungsfragen beim Megathema
KI hinterher. Laut einer Bertelsmann-Umfrage, die Dräger und
Müller-Eiselt zitieren, weiß nur ein Zehntel der Deutschen, wie
Algorithmen in etwa funktionieren. Dabei durchdringen sie unser
Leben. In Teilen Berlins werden etwa Grundschulplätze seit einigen
Jahren algorithmengestützt vergeben. Es gibt Fälle, da wird die
Datenanalyse zu einem Vorteil für die Gesellschaft. Man denke an
Kriminalitätsprognosen, bei denen anhand von Daten über Bebauung,
Demografie, Wetter und Verkehrslage die Wahrscheinlichkeit für
Einbrüche berechnet werden kann. Aber Künstliche Intelligenz steckt
auch voller Tücken. Die Mathematikerin Cathy O'Neil macht sich schon
länger Gedanken über "Mathezerstörungswaffen". Damit ist nicht
gemeint, dass Algorithmen die Mathematik zerstören, sondern sie
benutzen sie. Sie durchforsten riesige Datenmengen auf der Suche nach
Mustern, auf die sie Vorhersagen gründen: da-rüber, ob ein Bankkunde
einen Kredit zurückzahlen wird, ob ein Bewerber für einen Job
geeignet ist oder wie Arbeitskräfte am wirkungsvollsten eingesetzt
werden können. Algorithmen stellen gefühllos Berechnungen an. Für sie
spricht, dass sie, wenn sie gut programmiert sind, zu ehrlichen
Ergebnissen kommen. Zahlen lügen nicht, sagt man. Andererseits sind
Algorithmen einfach nur berechnend, stets auf ein Ziel bedacht, das
oft genug darin besteht, menschliche Fehler zu erkennen. Geschähe das
auf transparente Art, wäre das wohl noch hinnehmbar, aber oft bleiben
die Berechnungen für den Betroffenen verborgen. In den USA gibt es
beispielsweise bereits Unternehmen, die Fotos von Bewerbern
analysieren lassen. Angeblich lassen sich so Wahrscheinlichkeiten für
Krankheiten berechnen. Bei einer Jobabsage erfährt der Bewerber aber
nicht, dass das der Grund für sein Scheitern war. Sein Leben wird von
einem Algorithmus gelenkt, ohne dass er das überhaupt weiß. Menschen
weichen im Denken und Handeln ständig von der vollständigen Vernunft
ab. Viele Algorithmen, denen wir online begegnen, setzen da an. Es
geht darum, Dinge zu vermarkten und zu verkaufen. Greift der Käufer
zu, weil er entschieden hat, dass er das angebotene Produkt braucht?
Viele Entwickler stecken ihre Energie jedenfalls gerade nicht in die
Lösung von Menschheitsproblemen, sondern vor allem in die
Programmierung solcher Anwendungen, die menschliche Schwachstellen
ausnutzen. Ausgefeilte Verkaufsstrategien sind kein neues Phänomen.
Genauso wenig wie Automatisierung. Insbesondere sie wird in ihren
aggressiven Ausprägungen durch Künstliche Intelligenz verstärkt. Das
birgt sozialen Sprengstoff. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen
leitet ihren Selbstwert von ihrer Arbeit ab. In den meisten
Industrieländern ist eine Kehrseite der KI zu spüren: die
Aufspreizung in hoch bezahlte Jobs und in immer mehr schlecht
bezahlte. Diese Entwicklung wird nicht erst kommen, sie läuft bereit
ab. Um mit Algorithmen umzugehen, muss man sich klarmachen: Es geht
nicht um eine düstere Zukunftsvision, sondern um die Realität.
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