Sinn fordert Karenzzeit für Sozialeistungen
"Wir können den Sozialstaat nicht aus purer Gesinnungsethik für die ganze Welt öffnen"
Ein Vorschlag, der garantiert für Zündstoff sorgen wird: Hans-Werner Sinn fordert eine „Karenzzeit für Sozialleistungen“ – aber nur für Immigranten. Treibt es der ifo-Präsident damit endgültig auf die Spitze? Ein Kommentar.
Beim Wort „Karenzzeit“ denke ich an Politiker wie Ronald Pofalla, der erst einmal eine Pause einlegen sollte, bevor er vom Ministeriumschefsessel des Bundeskanzleramts in die Vorstandsetage der Deutschen Bahn wechselt. Oder ich denke an ausgebrannte Manager, die sich inmitten ihres stressigen Berufslebens ins Sabbatjahr verabschieden. Aber an eine syrische Flüchtlingsfamilie, die aus ihrem zerbombten Zuhause flieht und nach einer wochenlangen Tortur über den Balkan nach Deutschland gelangt, um hier Schutz vor Krieg und Terror zu finden, nein, die kommt mir beim Wort „Karenzzeit“ nun wirklich nicht in den Sinn.
Bei ifo-Präsident Hans-Werner Sinn ist das offenbar anders. In der „WirtschaftsWoche“ fordert Deutschlands streitbarster Ökonom jetzt nämlich eine „Karenzzeit für Sozialleistungen“. Genauer gesagt solle die Bundesregierung eine solche Wartezeit für Immigranten einführen. Man dürfe keine Einwanderung in den Sozialstaat zulassen, so Sinn. Dann suchten sich Immigranten den großzügigsten Sozialstaat aus. Um dem einen Riegel vorzuschieben, hält es der ifo-Präsident deshalb für „vernünftig, eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen festzulegen, damit es am Ende nicht zur Erosion des Sozialstaates kommt.“
Die Mär vom gierigen Immigranten
Da ist er wieder, der gierige Immigrant, der nur nach Deutschland kommt, um sich hier Sozialleistungen zu erschleichen. Aber mal abgesehen davon, dass Studien diese steile These widerlegen (z.B. hier, hier oder hier). Mit welcher Begründung sollten diese Menschen von den Leistungen des Sozialstaats ausgenommen werden? Weil sie bislang noch nichts eingezahlt haben? Mag sein, aber was ist dann beispielsweise mit einem (deutschen) jungen Erwachsenen, der nach seinem Studium zunächst keinen Job findet. Müsste er dann nicht auch eine Karenzzeit nehmen, immerhin hat er ebenfalls noch nichts in die Sozialkassen eingezahlt? Oder was ist mit der zweiten oder dritten Generation von Menschen, die in Hartz IV leben müssen?
„Wir können den Sozialstaat nicht aus purer Gesinnungsethik für die ganze Welt öffnen“, argumentiert Sinn. Aber wir können ihn aus purer Gesinnungsethik schließen? In unserem Grundgesetz steht, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist …
Anmerkung: In einer früheren Version war von einer "monatelangen" Tortur die Rede. Dabei handelt es sich um einen Schreibfehler, gemeint war eine "wochenlange" Tortur. Die Redaktion bittet dies zu entschuldigen und bedankt sich bei Micro99 für den Hinweis.