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    WDH/VERMISCHTES  405  0 Kommentare Chicago ist wieder ein Hotspot der Kriminalität

    (Buchstabe im ersten Absatz, vorletzter Satz, ergänzt: "Kindern".)

    CHICAGO (dpa-AFX) - Tannika Humphries ist verzweifelt. Vor dem Altar der Stone Temple Missionary Baptist Church in Chicago liegt die Leiche ihrer Tochter. Aufgebahrt in einem offenen weißen Sarg, ausgeschlagen mit lila Samt. Jahnae war das älteste Mädchen und dennoch ihr "Baby", wie sie sagt. Die 41-Jährige ist Mutter von neun Kindern, sechs Jungen und drei Mädchen. "Jetzt habe ich nur noch acht", sagt sie.

    Jahnae ist vor wenigen Tagen Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, ein Schuss ins Gesicht hat die Leiche der jungen Frau entstellt. Ihr Tod ist Teil der brutalen Realität in den Straßen von Chicago. Banden junger Leute marodieren in den schäbigen Vierteln im Süden und Westen der Stadt. Die Polizei muss zusehen, wie Halbwüchsige das junge Leben von Altergenossen auslöschen. Fast täglich.

    Tannika Humphries kommt nicht einmal in der Trauer zur Ruhe. Die Beisetzung hat noch nicht begonnen, da wird es wuselig vor dem Sarg. Mitglieder einer Straßengang sind gekommen, um Abschied zu nehmen, mit großer Geste und noch mehr Pathos. Handys werden aus den Taschen der Hosen gezückt, deren Bund auf Kniehöhe hängt, eine Kurznachricht von Rivalen reicht, um die Trauerfeier zu sprengen. Polizei rückt an, die Gäste flüchten sich aus Angst vor Schüssen hinter massive Türen.

    Chicago im Sommer 2018 - die Stadt Al Capones ist wieder zur Kapitale des Verbrechens geworden. Auch wenn die Mordraten gemessen an der Einwohnerzahl in Memphis oder Baltimore noch höher sein mögen - in einigen Stadtteilen der Metropole am Michigansee herrscht wie kaum anderswo das Recht der Straße. Die Kriminalität steigt im Sommer sprunghaft an - und Kriminalität heißt in Chicago häufig: Mord.

    Am ersten Augustwochenende wurden 77 Menschen von Gewehr- und Pistolenkugeln getroffen, 12 starben. Auch Wochen danach ist nur ein Ermittlungsverfahren gegen einen Verdächtigen eingeleitet. Die Bilanz des Chicago Police Department zwei Wochen später ist nicht viel ermutigender: 55 Schussverletzungen, 9 Tote. Hunderte von Straßengangs bekämpfen sich gegenseitig und terrorisieren die Stadt, oft sind schon Zwölfjährige mit Schusswaffen unterwegs. Es geht um Drogen, Geld - und einfach die Vorrangstellung im Viertel.

    Der Straßenkrieg in der Drei-Millionen-Stadt ist auf wenige Stadtteile an der West Side und an der South Side begrenzt - Stadtteile, vor allem von Afro-Amerikanern bewohnt, unterentwickelt, perspektivlos. Barack Obama sammelte hier einst frühe politische Erfahrungen und seine Frau Michelle wuchs hier auf.

    Die Gegend um den Garfield-Park an der West Side mit dem angrenzenden Viertel Lawndale gehört dazu. Die Ziegelbauten sind schmucklos, die Grünflächen würde man zweckmäßig nennen, wenn man das Wort lieblos vermeiden möchte. Nicht viele trauen sich auf die Straße, nach Anbruch der Dunkelheit schon gar nicht.

    Die Polizei ist machtlos, versucht das Schlimmste zu verhindern und die Gewalt zu managen. "Sie schießen. Und der Grund, warum sie das tun, ist, weil sie damit durchkommen", sagt Polizeichef Eddie Johnson. Gerichte und Staatsanwälte müssten härter durchgreifen. "Diese Schießereien sind nicht zufällig", sagt der Polizeichef. Sie seien in ihrer Mehrzahl Folge von Rivalitäten zwischen Straßengangs. "Wir kennen sie", fügt Johnson hinzu und wirkt hilflos.

    Die Aufklärungsquote für Mord in Deutschland liegt bei 90 Prozent. In Chicago liegt sie bei 14 Prozent. Kritiker wie der Pfarrer Ira Acree sagen, die Polizei sei personell ausgedünnt. Die Mordrate im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist fast doppelt so hoch wie etwa in New York. Bürgermeister Rahm Emmanuel hat Probleme, genügend Polizisten anzuheuern. Sein Versuch, vor allem mehr Streifenpolizisten in die Viertel zu schicken, scheiterte.

    Überhaupt: Emmanuel, seit über sieben Jahren Bürgermeister der Stadt, ist der Fokus der Kritik an der Obrigkeit, die in diesen Tagen geradezu überschäumt. Von jahrelanger Korruption ist die Rede, Arroganz, gar Rassismus. "Chicago ist die rassistischste Stadt der Vereinigten Staaten", sagte der schwarze Pastor Greg Livingstone, der eine Organisation mit der Bezeichnung "Coalition for a New Chicago" anführt.

    Livingstone ist ein groß gewachsener, bulliger Mann. Er wohnt im rauen Süden, in den Problemvierteln kennt er sich aus. Livingstone geht dahin, wo andere nicht mehr weitergehen, in die Parks und Grünanlagen etwa, auch bei Dunkelheit. "Wir haben hier zwei verschiedene Städte", sagt Livingstone. Auf der einen Seite der mondäne Norden, am Ufer des Michigansees, wo die Reichen und Schönen auf Booten Sekt schlürfen und die Touristen sich die Architektur der historischen Art-Déco-Hochhäuser anschauen. Auf der anderen Seite der vernachlässigte Süden und Westen.

    Dort haben die Menschen keine Arbeit, sind Häuser heruntergekommen, unbewohnbar, schmuddelig. "Hört auf, die Innenstadt noch schöner zu machen", ruft Livingstone dem Bürgermeister zu. "Steckt Geld in die Problemviertel." Neue Häuser müssten gebaut werden - und zwar von Schwarzen. Geschlossene Schulen sollen wieder aufmachen. An diesem Montag zog der Pastor mit einigen Hundert Gleichgesinnten auf einem Highway in der Nähe des Flughafens auf - aus Protest gegen die Gewalt und die Ohnmacht der Staatsgewalt.

    Livingstone sammelt Geld und hilft den Armen. Ohne ihn hätte Tannika Humphries die Beerdigung ihrer Tochter nicht bezahlen können. "I love you, okay!", sagt er zu der Frau. Dann muss er weiter.

    Bürgerinitiativen wie die von Livingstone schießen in Chicago wie Pilze aus dem Boden. Oft sind es kleine Organisationen, die auf Nachbarschaftsebene versuchen, ein paar Dinge zu verbessern. Viele organisieren Friedensfeste, mit Basketball-Körben und kostenlosem Essen - der verzweifelte Versuch, den Kindern und Jugendlichen aus dem Block eine Alternative zu bieten zum gewaltbetonten Leben in der Gang.

    Elizabeth Ramirez und Robert Torres etwa. Sie haben die Initiative "Parents for Peace and Justice" gegründet und versuchen, die Kinder von der Straße zu holen. Gleichzeitig wollen sie Eltern, deren Kinder getötet wurden, ein wenig Trost spenden. Die 53-jährige Ramirez hat selbst vor sieben Jahren ihren Sohn bei einer Schießerei verloren. "Er hat sein Leben für zwei andere gegeben", sagt die Mutter mit Tränen in den Augen. Wer ihn umgebracht hat, weiß sie bis heute nicht. "Wir brauchen mehr Ermittler", sagt auch sie.

    Marshaun Bacon und seine professionell geführte Initiative BAM ("Becoming A Man") verfolgen einen anderen, einen optimistischen Ansatz. Die Sozialarbeiter gehen direkt in die Schulen und betreuen dort Jugendliche, die von ihren Lehrern als gefährdet eingestuft wurden. 6800 Jungen und 1800 Mädchen - fast ausschließlich Afro-Amerikaner und Latinos - haben in dem großen Interventionsprogramm einen besseren Halt gefunden.

    "Wir konnten die Quote von Schulabschlüssen um 20 Prozent steigern", sagt Sprecherin Veronica Resa. Die Kriminalitätsrate unter den Teilnehmern fiel um 50 Prozent. "Was unser Programm von anderen unterscheidet, ist die sozial-emotionale Komponente", sagt Bacon. Die Jugendlichen lernten, dass es besser sei, einmal tief Atem zu holen, bevor man etwa auf eine Provokation antwortet. "Das hilft im Klassenzimmer mit dem Lehrer oder bei dem rassistischen Polizisten, der irgendetwas von einem will oder auch beim Chef, der einem schlicht auf die Nerven geht."

    Der Fortschritt in Chicago - da sind sich die Experten einig - muss in kleinen Schritten kommen. Derzeit ist die Statistik ernüchternd. Alle 3 Stunden wird jemand angeschossen, alle 15 Stunden kommt jemand durch Kugeln zu Tode. Ein Erfolg wäre es schon, wenn die Zeitspannen dazwischen größer würden. Immerhin: Das abgelaufene Wochenende war vergleichsweise ruhig - 23 Verletzte und 6 Tote bis zum Labor Day am Montag. Wann immer es besser werden mag in Chicago: Für Tannika Humphries und ihre Familie ist es bereits zu spät./dm/DP/zb/fba





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