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     1754  3 Kommentare Robert Habeck zur Hartz-IV-Debatte: Die Wirtschaft von der Gesellschaft her denken

    Ein Plädoyer für ein neues Garantiesystem, das ermutigt, den Wandel in der Arbeitswelt zu bestehen. Unser Problem ist nicht mehr die Massenarbeitslosigkeit, sondern der Fachkräftemangel. Als vor eineinhalb Jahrzehnten die Hartz-IV-Regelungen in Kraft traten, sah es in Deutschland anders aus als heute. Motorola brachte das erste internetfähige Klapphandy auf den Markt, über 5 Millionen Menschen suchten Arbeit, und Hartz IV wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt. Seitdem hat sich viel verändert. Die Digitalisierung bringt nicht nur Smartphones und den 5G-Netzausbau mit sich – sie lässt auch erahnen, in welchem Ausmaß die Weiterentwicklung von Robotik und Künstlicher Intelligenz unsere Gesellschaft und den Arbeitsmarkt umwälzen wird.
    Wir haben also eine völlig andere Situation als bei der Einführung von Hartz IV: Unser Problem ist nicht mehr die Massenarbeitslosigkeit, sondern der Fachkräftemangel – einige Prognosen gehen von 6 Millionen fehlender Fachkräfte bis 2030 aus –, unsere Herausforderung ist nicht mehr der Stillstand, sondern sehr viel Wandel, und die wichtigste politische Aufgabe unserer Zeit ist nicht mehr die Haushaltskonsolidierung, sondern der gesellschaftliche Zusammenhalt.
    Wir sehen bereits jetzt, dass der wirtschaftliche Wohlstand im Land ungerecht verteilt ist, und zwar in einem wachsenden Ausmaß. Die Einkommen klaffen auseinander, was insbesondere die jüngere Generation trifft: je jünger, desto größer die Spreizung. Das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft, dass Kinder es besser haben werden als ihre Eltern, ist brüchig geworden. Das gefährdet gesellschaftlichen Konsens und damit letztlich auch die Prosperität der Wirtschaft selbst. Die Angst vor dem Abstieg grassiert und gebiert wiederum Angst vor Veränderung. Das setzt in einer Zeit, in der sich die Arbeitswelt so rasant und radikal verändert, Arbeitsplätze wegfallen und neue entstehen, einen Teufelskreis aus Angst in Gang. Diese Angst ist kein individuelles Problem, sondern ein politisches.
    Es ist inzwischen wissenschaftlich sehr gut nachgewiesen, dass die Abstiegsängste seit der Einführung von Hartz IV zugenommen haben und sich die soziale Spaltung in Desintegration niederschlägt. Wenn wir dem begegnen wollen, heißt es, grundlegend etwas zu ändern. Wir müssen die soziale Marktwirtschaft neu begründen und die Wirtschaft von der Gesellschaft her denken.
    Kern einer funktionierenden Sozialgemeinschaft ist, dass der lebensnotwendige Bedarf, also das Existenzminimum, abgesichert ist und niemand in Gefahr gerät, an den Rand der Gesellschaft zu rutschen und mit dem Verlust der Arbeit auch seine Würde zu verlieren. Um das zu erfüllen, braucht es ein neues staatliches Garantiesystem, das in Zeiten des radikalen Wandels ermutigt, zur Arbeit anreizt, das Weiterentwicklung fördert und den Niedriglohnsektor eindämmt. Es soll jenen Unterstützung geben, die sie brauchen, aber frei sein von bürokratischen Bedingungen. Und es soll dafür sorgen, dass Leistung sich lohnt.

    Das Hartz-IV-System, begründet vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder mit dem Satz "Es gibt kein Recht auf Faulheit", verkehrt den Leistungsgedanken jedoch ins Gegenteil. Der Staat legt ausgerechnet jenen Steine in den Weg, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und versuchen, durch eigene Anstrengung einen Aufstieg zu schaffen.
    Während hohe Einkommen in Deutschland mit höchstens 42 Prozent Spitzensteuersatz der Einkommensteuer herangezogen werden, müssen diejenigen, die am wenigsten verdienen, 80, 90 oder 100 Prozent abgeben – nämlich Bezieher des Arbeitslosengeldes, die aber zusätzlich arbeiten. Welch ein Frust, welche Entmutigung. Um das zu ändern, sollten wir dafür sorgen, dass jede und jeder mindestens 30 Prozent des verdienten Geldes behalten kann.
    Wenn Menschen mehr von ihrem Zuverdienst behalten dürfen, steigt logischerweise die Zahl der Berechtigten, so dass mehr Menschen einen Anspruch auf staatliche Unterstützung hätten als bislang. Das mag auf den ersten Blick irritieren, aber Tatsache ist, dass damit die Geringverdiener entlastet werden – also die hart arbeitenden Leistungsträger, die für sehr wenig Geld nachts die Flure der Großbanken wischen und von deren Arbeit wir alle profitieren.
    Es ist eben gerade nicht – wie häufig behauptet wird – so, dass eine solche Veränderung des Arbeitslosengeldes durch die Steuern der hart arbeitenden Krankenschwester bezahlt würde. Im Gegenteil: Genau diese Krankenschwester wird selbst einen Anspruch erhalten und so indirekt von Steuern und Abgaben entlastet. Das kostet natürlich. Die dadurch entstehenden Kosten würden aber durch eine ohnehin erforderliche Erhöhung des Mindestlohns und ein starkes Arbeitsrecht geringer ausfallen, weil sich die Löhne dadurch erhöhen werden.
    Dem Hartz-IV-System liegt der Gedanke zugrunde, dass der Mensch ohne Druck nicht arbeiten würde. Das wird aber schon allein durch die Tatsache widerlegt, dass etwa 1,1 Millionen Menschen arbeiten, obwohl sie im Hartz-System durch die Anrechnungsregelungen nur 20 Prozent oder weniger dieses Arbeitseinkommens behalten dürfen. Diese sogenannten "Aufstocker" arbeiten oft für weniger als 2 Euro netto die Stunde – und sie arbeiten trotzdem.
    Menschen sind viel produktiver, kreativer und leistungswilliger, wenn man sie ermutigt, anstatt mit Zwang zu drohen. Deshalb schlagen wir vor, einenAnreizmechanismus an die Stelle der Sanktionen zu setzen: Arbeitslose, die sich besonders bemühen, sollten eine Leistungsprämie erhalten. Die Sanktionen dagegen – und der Sanktionsparagraph, ist einer der längsten und ausführlichsten der Hartz-IV-Regelungen und löst Unmengen an Bürokratie aus – sollten abgeschafft werden.
    Das ist auch eine Frage des Vertrauens in die Leistungsfähigkeitder demokratischen Institutionen. Denn jeder und jedem, der oder die den Bedarf nachweist, muss das Existenzminimum garantiert sein – wohlgemerkt: Es geht um das Existenzminimum, also das Mindeste, was ein Mensch in diesem Land zum Leben braucht. Darauf sollten Menschen in jeder Lebenslage vertrauen können. Aber dieses Vertrauen wird durch das Sanktionsregime in vielen Fällen strapaziert: Versäumen Hartz-IV-Empfänger einen Termin oder brechen eine Maßnahme ab, wird ihr Leistungsanspruch für drei Monate um 30 Prozent reduziert, bei unter 25-Jährigen kann er ganz gestrichen werden. Dann bleibt nicht genug Geld für Lebensmittel, der Strom wird abgestellt, Leute verschulden sich, im schlimmsten Fall werden sie obdachlos.
    Letzteres heißt dann auch, dass die Betroffenen nicht mehr gemeldet und damit für die staatlichen Institutionen nicht mehr ansprechbar sind. Sie verschwinden schlichtweg aus unserem System. Das können und sollten wir uns als Gesellschaft nicht leisten. Gerade junge Menschen müssen Vertrauen in die staatlichen Institutionen und auch unser Sozialsystem entwickeln können, wenn wir sie langfristig nicht nur als Rentenzahler, sondern auch als aktive und gestaltende Mitglieder unserer Gesellschaft gewinnen wollen.
    Damit aus den Umbrüchen in der digitalisierten Welt Chancen werden, müssen die Weiterbildungsund Qualifizierungsmaßnahmen für alle Menschen zu individuellen, maßgeschneiderten Angeboten mit intensiver Betreuung werden. Und warum sollten sich Menschen nicht auch weiterbilden dürfen, bevor sie überhaupt ihren Job verlieren? Das gelingt aus meiner Sicht am besten, wenn wir die dafür zuständigen Stellen von der Behörde, die die Garantiesicherung ausgibt, trennen. So erhalten die Betroffenen eine auf ihre Situation spezialisierte, unabhängige Beratung und Förderung.
    Damit die Leistungen zum Leben reichen und die Teilhabe am sozialen Leben garantiert wird, müssen wir ein klares, verständliches und einfaches Verfahren für die Berechnung des soziokulturellen Existenzminimums einführen und den Regelsatz heben, wie es Sozialverbände schon lange fordern. Insbesondere brauchen Kinder eine eigene Grundsicherung – es hat einfach keinen Sinn, das Einkommen der Eltern auf den Bedarf der Kinder anzurechnen. Im Arbeitslosengeld ist der Lohnabstand für Familien heute besonders gering. Wenn wir Einkommen nicht länger auf den Kindesbedarf anrechnen, beseitigen wir dieses Problem und schaffen Erwerbsanreize für Menschen mit Kindern.
    Durch ein Garantiesystem, eine Kindergrundsicherung und eine Erhöhung der Zuverdienstgrenze würden wir ärmere Haushalte entlasten, Menschen die Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen und ihnen die Möglichkeit geben, zu einer prekären Arbeitsbeschäftigung auch mal nein zu sagen.
    Das würde auch dazu beitragen, den Niedriglohnsektor auszutrocknen. Denn das Motto von Hartz IV ist: Mach jede Arbeit, egal zu welchem Lohn. Wenn Menschen dagegen nicht gezwungen werden, auf Teufel komm raus jede noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen, wird das Druck auf die Unternehmen ausüben, sie besser zu bezahlen. Dass wir dennoch eine Erhöhung des Mindestlohns brauchen, steht außer Frage. Nur sollten wir nicht darauf warten, bis wir die ersten Schritte machen, wie die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen.
    Ja, die vorgeschlagenen Maßnahmen kosten Geld, für die ersten Schritte wäre sehr grob mit 30 Milliarden. Euro zu rechnen. Aber auch die Soli-Abschaffung, die nun vor allem die FDP und in Teilen die Union zu ihrer Kernforderung gemacht hat, kostet eine Menge Geld. Letztes Jahr flossen durch den Soli fast 19 Milliarden. Euro in die Kasse des Bundes. Deshalb ist das Argument, eine Reform sei zu teuer, ein schwaches, wenn es von den Verfechtern großer Steuersenkungen vorgetragen wird. Vielmehr stellt sich die Frage, wie das Geld am sinnvollsten verwendet wird, nämlich sozial und ökonomisch zugleich. Schließlich legen Menschen mit hohen Einkommen ihr Geld eher an oder sparen es, statt zu investieren.
    Umgekehrt ist es, wenn Menschen mit niedrigeren Einkommen mehr Geld im Portemonnaie haben. Sie geben es aus. Sie kaufen ihren Kindern Geburtstagsgeschenke, gönnen sich eine neue Winterjacke oder gehen einmal ins Kino. Insofern hat es eben nicht nur soziale, sondern auch ökonomische Konsequenzen, wenn wir durch solche Maßnahmen niedrigere Einkommen entlasten. Das ist angesichts des sich ankündigenden Konjunkturabschwungs mehr als sinnvoll, weil es die Binnennachfrage erhöht.
    Die politische Dimension eines Problems zu begreifen, heißt zu hinterfragen, warum viele Menschen keine Arbeit finden, weshalb jemand nicht beitragen kann, ob die Ziele der Sicherungssysteme womöglich die falschen sind. Politik machen, bedeutet nicht weniger, als die bestehenden Zustände auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu korrigieren. Ändern wir nicht nur das Wort Hartz IV, sondern erneuern wir das Versprechen gesellschaftlichen Zusammenhalts.



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