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     1295 Mit dem Maschinen- und Anlagenbau steht das Rückgrat der deutschen Industrie vor einem Scheideweg

    Von Uwe Kraus

    Unter dem Radar der öffentlichen Diskussion vollzieht sich gerade eine Entwicklung, die für den Wirtschaftsstandort von kaum zu überschätzender Tragweite ist. Die Rede ist einer bedrohlichen Tendenz im Maschinen- und Anlagenbau in Deutschland. Dass dies kaum in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden, ist umso erstaunlicher, als der Maschinen- und Anlagenbau eine tragende Säule der deutschen Wirtschaft und ein Herzstück des deutschen Exportbooms ist. In der Branche arbeiten heute in Deutschland mehr als eine Million Menschen, das sind 200.000 mehr als in der Automobilindustrie, und mit einem Anteil von 7% am Bruttoinlandsprodukt und 16% aller Ausfuhren gehört der Sektor zur absoluten Spitzengruppe.

    Doch so rosig das Bild auf den ersten Blick erscheint, so bedrohlich sind die jüngsten Entwicklungen, sollte es dieser Industrie nicht gelingen, rechtzeitig gegenzusteuern. Die Kapazitätsauslastung beträgt fast 100%, die Lieferfähigkeit ist bereits dramatisch eingeschränkt, der Wettbewerbsdruck internationaler Konkurrenten (insbesondere aus Asien) wächst und der größte Engpassfaktor sind die menschliche Intelligenz und Arbeitskraft. Der schon seit Jahren diskutierte Personalmangel erreicht eine Dimension, die die weltweite Spitzenposition des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus extrem gefährdet. Waren es bisher schon Fachkräfte, wie zum Beispiel hochqualifizierte Produktionsmitarbeiter oder weltweit mobile Inbetriebnehmer, bei denen alle Unternehmen der Branche „Schlange stehen“, sind es nun zusätzlich Berufsbilder wie Software- und Systementwickler oder Telekommunikationsspezialisten, die von fast allen Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus händeringend gesucht werden. Allein im Maschinen- und Anlagenbau werden im Moment über 3.000 solcher hochqualifizierter Technologieexperten gesucht. Bundesweit und über alle Branchen bleiben mehr als 30.000 dieser Positionen derzeit unbesetzt, weil kompetente Bewerber fehlen. Der Wettbewerbsdruck auf dem „Anbieter-Arbeitsmarkt“ ist enorm und die deutschen Maschinenbauer haben dort häufig das Nachsehen.

    Die Anforderungen, die die Digitalisierung an den Maschinen- und Anlagenbau stellt,  erhöhen sich in geradezu dramatischer Weise. „The Internet of Things“ – also die integrierte Fabrik der „Industrie 4.0“ – soll es bereits morgen möglich machen, dass ein moderner Anlagenpark sich durch Rückkopplung zwischen den Bearbeitungsstufen, durch Nutzung von Big Data in statistischen Analysemethoden, durch autonomes Management der präventiven Instandhaltung und durch „Built-in“-Qualitätsmanagement selbst steuert. Dies sind Themen, die den Hersteller eines Müsli-Riegels genauso umtreiben wie den Produzenten eines Automobils.

    Genau an dieser Stelle entsteht jedoch das Kernproblem: Der Maschinen- und Anlagenbau in Deutschland ist nach wie vor überwiegend mittelständisch geprägt und scheitert auf breiter Front an der Herausforderung der Digitalisierung, weil er die geeigneten Mitarbeiter nicht bekommt und sich die vorhandenen Hochtechnologie-Experten bei wenigen führenden Unternehmen konzentrieren. Gleichzeitig wandern viele in vermeintlich attraktivere Branchen wie den Automobilbau oder den IT/Telekom-Sektor ab. Den Maschinenherstellern fehlen Soft- und Hardware-Entwickler, System- und Projektmanager, Integratoren, Telekommunikationsexperten.  
    Nicht nur, dass es den Maschinen- und Anlagenbauern nicht gelingt, geeignete Leute zu finden, mindestens genauso schwer fällt es, Leistungsträger in den Betrieben zu halten, denn seit einiger Zeit ist in Deutschland ein Prozess der personellen Kannibalisierung zu beobachten. Große Unternehmen bedienen sich bei kleineren, attraktive und moderne Branchen bedienen sich bei traditionellen. Dabei geht dieser Prozess wesentlich von der Automobilindustrie aus, die – getrieben durch die Trendthemen Elektromobilität und Autonomes Fahren – dazu übergegangen ist, immer mehr hochqualifizierte Kräfte auch von den Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus abzuwerben. Zwei Faktoren sind auschlaggebend: Zum einem ist es schlicht Geld. Automobilfirmen zahlen für sehr anspruchsvolle, technologieorientierte Tätigkeiten im Durchschnitt etwa 10% Prozent mehr Gehalt und locken zusätzlich mit hohen Boni und generösen Dienstwagenregelungen. Zum anderen ist es oft genug eine Frage des Prestiges: Es ist einfach schicker, in der Nähe von München für einen namhaften Automobilhersteller tätig zu sein, als bei einem Mittelständler auf der Schwäbischen Alb. Auch Berlin ist in der Wahrnehmung vieler hipper als Bünde in Ostwestfalen.

    Was also ist zu tun? Der erste Schritt ist eine nüchterne Bestandsaufnahme in den Personalabteilungen der Unternehmen, die sich folgende Fragen stellen müssen: Ist das Personal, das das Unternehmen heute hat, auch in der Lage, den Anforderungen von morgen zu entsprechen? – In welchen Bereichen will das Unternehmen wachsen? – Wie werden wir von außen gesehen? – Wie können wir dafür sorgen, dass uns gerade in den strategischen Wachstumsfeldern die richtigen Talente in angemessener Anzahl zur Verfügung stehen, um die neuen, von der Digitalisierung getriebenen Kundenanforderungen auch langfristig exzellent zu bedienen? Die Bestandsaufnahme mündet in eine konkrete Personalplanung.

    Eine strategiebasierte, qualitative und quantitative Personalplanung löst das Basisproblem jedoch nicht: Woher sollen wir die Mitarbeiter bekommen, die in der Lage sind, diese anspruchsvolle Strategie auch erfolgreich zu verwirklichen? Der zweite Schritt muss deshalb unbedingt und unmittelbar die Neuausrichtung des Personalmanagements sein. Dies heißt für viele der Unternehmen –  insbesondere die bisher so erfolgreichen, mittelgroßen Familienunternehmen – konkret, dass sie neue Wege des Personalmarketings, der Personalbeschaffung und Personalentwicklung beschreiten müssen. Beispiele hierfür sind:

    • Werte-getriebenes Employer Branding

    • Aufbau und laufende Pflege sogenannter „externer Talente-Pools“

    • Aktives Personalmarketing in Experten-Netzwerken und in ausländischen Arbeitsmärkten, wo technologieaffine, mobile und gut ausgebildeten „Digitale Talente“ in großer Anzahl zu finden sind (wobei Mittel- und Osteuropa hier bereits „zu dicht vor der Haustür“ liegen - man denke eher an Indien oder China, aber auch an Länder wie Brasilien, Ägypten oder Marokko)

    • Ausgründung von Technologiepools mit eigenem Management und in Zusammenarbeit mit Industriepartnern, zur gemeinsamen Bearbeitung von Plattformstrategien

    • Direktansprache von Talenten auf Messen, Kongressen und in sozialen Netzwerken

    • Proaktives Karrieremanagement für Top-Talente

    • Individuelle Differenzierung von Entlohnung und Benefits, von Entwicklung und Fortbildung nach individuellen Kompetenzen und Beiträgen zur Wertschöpfung

     Dabei ist heute schon klar: Die Frage, ob der deutsche Maschinen- und Anlagenbau diesen Transformationsprozess bewältigt, wird sich in den nächsten zehn Jahren entscheiden. Und das bedeutet nichts Geringeres als die Entscheidung darüber, ob das Rückgrat der deutschen Exportindustrie den Sprung in das 21. Jahrhundert meistert.

    Der Autor ist Senior Partner bei der EL-NET Group, einer großen deutschen Executive Search- und Human Resources-Beratung mit mehreren eigenen Büros in Deutschland und einem internationalen Partnernetzwerk. Er ist verantwortlich für Beratungsprojekte im Maschinen- und Anlagenbau, der Automobilindustrie und weiteren Feldern des verarbeitenden Gewerbes. 

     






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    Verfasst von wO Gastbeitrag
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