Smart Investor
Alarmstufe dunkelrot für unser Finanzsystem: Ökonomisches Harakiri - der japanische Weg
Seit einer Finanzkrise in den Neunziger Jahren leidet Japan unter niedrigem Wachstum und noch niedrigerer Inflation. Die Nullzinsen und Anleihekäufe der japanischen Zentralbank haben diese Entwicklung über Jahrzehnte zementiert. Angesichts der lockeren Geldpolitik in Europa und den USA gilt Japan mittlerweile leider als Trendsetter, schreibt Smart Investor-Gastautorin Natalie Vein.
Einsatz verdoppelt
Der globale wirtschaftliche Zusammenbruch, der durch die Lockdown-Maßnahmen anlässlich des Coronavirus ausgelöst wurde, veranlasste Zentralbanker auf der ganzen Welt, die Zinssätze zu senken und
das System mit Tonnen von frischem Geld zu fluten.
Während diese „Bazooka-Maßnahmen“ die Aufmerksamkeit der Medien erregt haben, sollte nicht vergessen werden, dass alle großen Zentralbanken bereits lange vor dem Auftauchen des Virus auf den Weg der geldpolitischen Lockerung eingeschwenkt waren. Schon viele Monate bevor wir überhaupt das erste Mal von COVID-19 hörten, waren Zinssenkungen und die Rückkehr zum Quantitative Easing (QE) bereits Teil der Börsenwirklichkeit – trotz ernsthafter Zweifel an deren Wirksamkeit und trotz ihrer Nebenwirkungen auf das Finanzsystem und die einfachen Bürger, denen sie einen realen, systemischen und wohl irreversiblen Schaden zufügten.
Doch die bereits angerichtete massive Wertvernichtung und Pervertierung grundlegender ökonomischer Prinzipien scheint den Zentralbanken nicht länger zu reichen: Nun haben sie beschlossen, den Schaden noch einmal in einem unvorstellbaren Ausmaß zu vergrößern, indem sie in einem Ponzi-Währungssystem, das zu groß ist, um nicht zu scheitern, den Einsatz noch einmal verdoppeln.
Machen Sie es wie Japan
Der Begriff „Japanisierung“ bezeichnet die Entwicklung hin zu einer Wirtschaft, die sich trotz der außerordentlichen Maßnahmen der Zentralbank in einem Zustand chronisch schwachen Wachstums und
anämischer Inflation oder sogar Deflation befindet. Im Grunde ist es die ökonomische „Hölle“, in die sich Japan seit dem Platzen seiner gigantischen Finanzblase in den 1990er-Jahren
hineinmanövriert hat.
Die Bank of Japan (BoJ) erwies sich als echter Wegbereiter und Trendsetter, wenn es darum geht, mit avantgardistischen Geldkonzepten zu experimentieren. Sie versuchte buchstäblich alles und sie versuchte es als Erste – von Nullzinsen und gigantischen Anleihekäufen bis hin zu einem jahrzehntelangen Einkaufsbummel bei inländischen Aktien. Mittlerweile besitzt die BoJ die Hälfte aller ausstehenden japanischen Staatsanleihen und sie gehört bei 50% aller in Tokio börsennotierten Unternehmen zu den zehn größten Aktionären.
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Allerdings gibt es ein eklatantes Problem mit diesem Ansatz: Er funktioniert nicht. Die BoJ verfehlt immer wieder ihre eigenen Inflationsziele, das Land hat weltweit die höchste Verschuldung im
Verhältnis zum BIP und es kämpft seit Jahren mit einem schwachen Wachstum. Tatsächlich hat diese Politik nicht nur keines der Probleme Japans gelöst, sondern sogar zahlreiche neue hervorgebracht:
Sie schuf monströse Marktverzerrungen und Berge von Schulden mit negativen Renditen, sie lähmte die Preisfindungsmechanismen und löste
massive Fehlallokationen von Kapital aus.
Nichts davon ist neu. Japan ist seit Langem eine ebenso lebendige wie beständige Mahnung dafür, was diese expansive Politik bewirkt – vor allem dann, wenn sie dauerhaft verfolgt wird und nicht
lediglich die „Notmaßnahme“ bleibt, die sie einst sein sollte. Im Westen führte diese Politik zu ganz ähnlichen Ergebnissen, wofür die EZB ein herausragendes Beispiel ist: Ein Jahrzehnt negativer
Zinssätze und fast ununterbrochener Aufkäufe von Vermögenswerten brachte für das reale Wachstum keinerlei Vorteile – aber es richtete Verwüstungen an den Anleihemärkten an, bestrafte Sparer wie
auch Rentner und destabilisierte den Bankensektor weiter.
Unbegrenztes QE
Im Vergleich zu dem, was uns jetzt erwartet, ist all dies jedoch eine Art „Best-Case-Szenario“ – denn jetzt hat sich jede Zentralbank der Welt vorgenommen, Japan in seinem eigenen Spiel zu
schlagen. Zusätzlich zu Zinssenkungen auf breiter Front erleben wir eine Welle dessen, was Zentralbanker stolz als „unbegrenztes QE“ bezeichnen. Die Fed injizierte Billionen über Billionen in Form
von Krediten und Ankaufsprogrammen in das System, während sie gleichzeitig den beispiellosen, von der BoJ inspirierten Schritt ankündigte, Anleihen-ETFs zu kaufen, darunter sogar solche mit
Schrottanleihen. Das stellt im Grunde eine indirekte Rettungsaktion dar. Die EZB, die Bank of England (BoE), die People’s Bank of China (PBoC) haben ebenfalls allesamt mit einer beispiellosen
Lockerungspolitik und rekordverdächtigen Liquiditätsspritzen reagiert. Wahrscheinlich ist das erst der Beginn der größten inflationspolitischen Welle in der modernen Geschichte.
„Ich bin von der Regierung und ich bin hier, um zu helfen.“
Natürlich waren sich die Zentralbanker ihrer Ohnmacht auch schon vor der aktuellen Krise bewusst. Ihnen war klar, dass sie angesichts ihrer bereits verbrauchten Munition selbst einer „gewöhnlichen“
Rezession nicht gewachsen sein würden, ganz zu schweigen von einer Katastrophe wie der gegenwärtigen. Daher forderten EZB, Fed und ihre Pendants seit Langem, dass die Regierungen nun auch
fiskalisch stützen müssten.
Dank der Corona-Krise wird diesen Forderungen nun zügig nachgekommen – und zwar weltweit wie auch gleichzeitig. In einer politisch-rhetorischen Meisterleistung haben die Regierungen große Anstrengungen unternommen, um jedem, der es hören wollte, unmissverständlich klarzumachen, dass die Rezession, die jetzt vor uns liegt, das direkte Ergebnis von COVID-19 sei, während die Fehlentwicklungen des vergangenen Jahrzehnts mit der gigantischen Fehlallokation von Ausgaben, der Anhäufung von Schulden und den rücksichtslosen geldpolitischen Maßnahmen der Zentralbanken damit nichts zu tun hätten.
Auch wenn die Risse schon lange vor dem Auftauchen des Virus sichtbar waren – etwa im US-Repomarkt, in der Rezession des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland, im zusammenbrechenden Bankensektor
Italiens oder im chinesischen Schuldenausfallsdomino –, wären wir ohne diese lästige Störung angeblich noch immer auf dem Pfad ewigen Wachstums. Aber jetzt, da das Virus unsere „großartige“
Wirtschaft nun einmal zerstört habe, ist es wieder einmal an der Regierung, die hier ist, um zu helfen.
Zu den frischen Billionen, die von den Zentralbankern gedruckt wurden, kommen also noch all die „Begleitausgaben“ der Regierungen hinzu, die verzweifelt versuchen, die katastrophalen Auswirkungen
ihrer eigenen Lockdown-Politik abzumildern. Wir haben in den USA ein Drei-Billionen-US-Dollar-Paket gesehen, einschließlich Schecks in Höhe von bis zu 1.200 US-Dollar für fast jeden Amerikaner. Die
EU, ihre Mitgliedstaaten und viele Regierungen rund um den Globus werfen blind mit Geld für betroffene Unternehmen und deren Angestellte um sich – ohne Sinn und ohne Plan.
Während die vorherrschende Unsicherheit und die Massenarbeitslosigkeit, die der Lockdown verursacht hat, kurz- bis mittelfristig die Verbraucherausgaben einschränken und damit für eine erste deflationäre Phase sprechen dürften, sind die längerfristigen inflationären Auswirkungen dieses beispiellosen Gelddruck-, Konsum- und Ausgabenrauschs wohl unausweichlich.
Kuchen für alle?
Der Hauptkritikpunkt, den selbst linksgerichtete Beobachter an den Maßnahmen der Zentralbanken während der Finanzkrise 2008 hervorbrachten, war, dass die Billionen, die sie druckten, niemals
wirklich unten angekommen sind. Stattdessen wurden damit nicht-wettbewerbsfähige Unternehmen über Wasser gehalten, die Kreditaufnahme der Unternehmen weiter angereizt und eine künstliche
Aktienrally inkl. Aktienrückkäufen und Boni geschürt. In die Taschen der Normalbürger gelangte damals kein einziger Cent. Tatsächlich verloren viele aufgrund der Null- und Negativzinsen mit ihren
Ersparnissen und Renten sogar Geld.
Und doch war ironischerweise dieser offensichtliche Mangel des letzten Rettungsplans auch seine eigentliche und gnädige Rettung. Anders als dieses Mal hatte die Öffentlichkeit seinerzeit nämlich keinen direkten Zugang zu all dem frischen Geld – stattdessen blieb es im Banken- und Finanzsektor eingeschlossen, sodass es auch nur dort seine Negativwirkung entfalten konnte: in Form einer schwindelerregenden Inflation der Vermögenspreise, lächerlich hohen Bewertungen für chronisch defizitäre Unternehmen und massiven Fehlinvestitionen.
Dagegen hat sich in der realen Welt das Leben der meisten Facharbeiter, Bäcker oder Metzger nicht verändert, als der S&P immer neue Allzeithochs erreichte. Nach den Aktienrückkaufprogrammen erwarben sie keine neuen Yachten; sie machten noch nicht einmal die Erfahrung, dass sich ihr Budget für Lebensmittel verdreifacht hätte. Dies veranlasste viele Befürworter der lockeren Geldpolitik, die Inflation für „tot“ zu erklären und die Finanzkrise als Beweis dafür anzusehen, dass man so viel Geld drucken könne, wie man nur wolle, weil dennoch nichts Schlimmes passieren werde. Das ist natürlich nicht so. Sie können nämlich auch so viele Kuchen backen, wie Sie wollen – Ihre Nachbarn werden trotzdem nicht dick, solange sie nicht zur Party eingeladen sind. Nun, dieser „Fehler“ wurde jetzt nicht gemacht – das Buffet ist eröffnet, und diesmal sind wirklich alle eingeladen.
Autorin: Natalie Vein
Natalie Vein hat Ökonomie mit einem speziellen Fokus auf Medien und Kommunikationswissenschaften studiert. In den letzten zehn Jahren hat sie weltweit (Monaco, Österreich, Schweiz, Belgien, Panama) als Beraterin sowohl im Finanz- und Privatbankensektor als auch für politische und Wohltätigkeitsorganisationen gearbeitet. Nach wie vor gilt ihr Interesse den Wirtschaftstheorien und ihrer sinnvollen Umsetzung.
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