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     680  0 Kommentare Bernd Niquet - Jenseits des Geldes 5. Teil

    [...]

    Die Flüchtlingskrise erhält derweil eine völlig neue Dimension. Frankreichs
    Premierminister Manuel Valls hat sich nämlich für einen Aufnahmestopp von
    Flüchtlingen aus dem Nahen Osten ausgesprochen und sagt im Gespräch mit
    europäischen Zeitungen: Wir können nicht noch mehr Flüchtlinge in Europa
    aufnehmen, das ist nicht möglich. Und weiter: Die Kontrolle von Europas Grenzen entscheidet über das Schicksal der Europäischen Union. Wenn wir die nicht
    durchsetzen, dann werden die Völker sagen: Schluss mit Europa.
    Das ist natürlich insofern bemerkenswert, als nur einen Tag später unsere Bundeskanzlerin zu einem Arbeitsessen in Paris im Elysée-Palast in Paris eintreffen
    wird, bei dem es insbesondere um den Kampf gegen den Terrorismus gehen soll,
    aber auch um den Umgang mit der Flüchtlingskrise.
    Ich habe derzeit das Gefühl, als ob die Ereignisse aktuell mit einer besonderen
    Intensität auf mich einstürzen. Ein Journalist, der in Kontakt mit einem ISVertreter steht, sagt im Fernsehen, der IS brüste sich jetzt mit den Sicherheitsmaßnahmen in Brüssel und sage: Wir haben eine ganze Stadt in Geiselhaft genommen. Und ich lerne, dass die Polizei in Deutschland in den letzten zehn Jahren
    in einem Maße stellenmäßig heruntergefahren worden ist, wie es der gesamten
    Polizeistärke Berlins entspricht.
    Mit großem Interesse beobachte ich die unterschiedliche Körpersprache des
    französischen Präsidenten François Hollande und des US-Präsidenten Obama bei
    einer gemeinsamen Pressekonferenz in Washington. Hollande reist derzeit um die
    Welt, um eine Allianz zur Bekämpfung des IS-Terrors zustande zu bringen, der
    auch Russland beitreten soll.
    Hollande versucht bei diesem Termin, auch körperlich eine Nähe zu Obama
    herzustellen, geht zwei Mal auf ihn zu, drückt seine Hand und deutet eine Umarmung an. Doch Obama bleibt in Abwehrhaltung und geht darauf nicht ein. Die
    Vorbehalte der beiden Länder gegeneinander, die schon seit jeher existieren und
    jetzt auch dadurch zum Ausdruck kommen, dass Obama sich strikt gegen eine
    Zusammenarbeit mit Russland wehrt, sind hier direkt körperlich zu spüren.
    Ich habe François Hollande nie besonders gemocht, doch jetzt, so finde ich, gibt
    er eine sehr gute Figur ab. Letztlich schlägt allerdings mein Herz in allen derartigen
    Auseinandersetzungen sowieso immer für Frankreich.
    Bedrückt bin ich hingegen darüber, dass schon wieder Flüchtlinge auf der Balkanroute festsitzen, dieses Mal vor der Grenze zu Mazedonien. Was sind wir nur
    für ein Haufen von Abschaum in Europa, dass wir es zulassen, dass sich immer
    wieder Leute neu zu uns aufmachen. Denn wenn es uns nicht einmal gelingt, den
    Einmarsch von Flüchtlingen in den Balkan zu stoppen, was machen wir denn bitte
    dann, wenn russische Panzer ins Baltikum vordringen?
    Das Elend der Flüchtlinge hat allerdings aufgrund des Terrors in der letzten Zeit
    etwas an Aufmerksamkeit verloren. Und nicht nur bei mir. Hier merke ich ganz
    deutlich, dass eigentlich nur dann Wut und Grauen in mir aufkommen, wenn ich
    mit dem Kopf auf dieses Thema gestoßen werde. Bekomme ich dagegen davon
    nichts mit, gehe ich ganz in den Dingen auf, die mir Freude machen und Befriedigung verschaffen.
    Am kommenden Wochenende werde ich mich zum ersten Mal seit dem Gespräch, in dem ich angekündigt habe, bei der nächsten Wahl die NPD zu wählen,
    und höchstens noch zur AfD hinüberzuwechseln, wieder mit meinem besten
    Freund von früher treffen. Bei dieser Gelegenheit werde ich diese Äußerung
    zurücknehmen. Schließlich bin ich mit den Extremisten mittlerweile durch. Ich
    werde allerdings auch sagen, dass ich bei der nächsten Wahl weder die CDU noch
    die SPD wählen werde, und die Linken und die Grünen schon gar nicht. Bleibt
    also eigentlich nur noch so etwas wie die Tierschutzpartei.
    Lisa hat einen Klasse-Spruch über einen der schlimmsten Jungs in ihrer Klasse
    drauf und sagt: Was müssen das für monsterhafte Eltern sein, die ein Kind haben,
    das auf nichts mehr hört, und das sich für nichts mehr interessiert, vor allem nicht
    für die anderen. Ansonsten ist sie jedoch durchgängig müde und lässt den Kopf
    gleich nach dem Abendessen auf den Tisch sinken. Schlafen kann sie dann allerdings anscheinend nicht, denn als ich nach Mitternacht pinkeln gehe, ist bei ihr
    immer noch Licht an.
    Mein Mailfreund aus Österreich berichtet mir über seine Beobachtungen aus der
    aktuellen Wirtschaftswirklichkeit, in der die Alten gefeuert werden und die Jungen
    keine festen Jobs bekommen. Das größte Qualitätsmerkmal, um heute eine
    Führungsposition in der Wirtschaft zu erlangen, meint er, wäre eine psychische
    Deformation. Ich stimme da ganz mit ihm überein und denke, die Unternehmen
    befinden sich gerade in einem Blitzkrieg zur Steigerung des Wohlstandes ihrer
    Eigner und zur Pauperisierung des Restes der Gesellschaft.
    Erneut ist ein Sturm angekündigt, und ich glaube, die Klimaveränderung betrifft
    mich heute fast stärker als die Flüchtlinge das tun. Denn diesem physischen
    Einfluss kann ich mich nicht entziehen.
    Jeden Tag habe ich derzeit so viel im Kopf, dass ich es gar nicht schaffe, das alles
    niederzuschreiben. Eigentlich ist das ja eine tolle Position, denn so bin ich richtig
    ausgelastet, kann aber trotzdem abschalten. Denn ich muss das ja nicht tun. Und
    ich arbeite sowieso niemals länger als bis 15 Uhr, komme was wolle.
    Bei dem Pensum, das ich derzeit täglich erledige, würde ich es gar nicht schaffen,
    mehr Freunde oder Bekannte zu haben als bisher. Mit mehr Menschen könnte ich
    gar nicht Kontakt halten. Das wäre zu viel für mich. Allerdings merke ich, wie
    mein privater Kontakt zu dem Inhaber der Internetseite, auf der meine Kolumnen
    erscheinen, jetzt langsam weggleitet. Ich erfinde dazu den Begriff Gauland´sche
    Trennung. Diese verläuft jetzt mitten durch Altvertrautes, wahrscheinlich sogar
    durch ganze Familien hindurch. Auch zwischen meinem besten Freund von früher
    und mir.
    Die Unterschiede, wie der Einzelne das bewertet, was gerade mit unserem Land
    passiert, sind einfach in vielen Fällen zu groß und zu entscheidend, um Gemeinsamkeiten nicht zu überstrahlen. Weil ich es nicht eskalieren lassen will, halte ich
    mich dem Inhaber und Redakteur meiner Internetseite gegenüber total zurück. Er
    antwortet auch sowieso nur noch auf die Dinge, die ihm in den Kram passen.
    Kritik an seiner Position übergeht er einfach. Es ist sehr schwierig derzeit. Nicht
    nur bei uns, sondern in unserer gesamten Gesellschaft, wenn ich mich nicht ganz
    täusche.
    An dieser Stelle wird mir denn auch mehr als deutlich, dass ich wohl doch weiterhin Bücher schreiben werde. Vielleicht etwas Fiktionales mit realem Hintergrund?
    Wie die Menschen die Welt wahrnehmen? Denn es ist schon wirklich faszinierend,
    zu beobachten, dass unterschiedliche Menschen aus identischen Nachrichten völlig
    unterschiedliche Wirklichkeiten für sich erschaffen. Und wie so etwas im Zeitablauf sogar in ein und demselben Menschen passieren kann. Wie ich das ja gegenwärtig bei mir selbst erlebe.
    Denn wie beim Euro vorher, so pendeln jetzt auch beim Flüchtlingsthema meine
    Einschätzungen ziemlich hin und her. Andere Menschen sind hingegen komplett
    festgelegt, wie beispielsweise mein bester Freund von früher auf der einen Seite
    und der Internet-Inhaber auf der anderen. Sie sind nicht nur festgelegt, sondern
    auch vollständig festgefahren.
    Als ich mich dann mit meinem besten Freund von früher treffe, essen wir zwar
    beide zusammen wunderbare Gänseleber und unterhalten uns auch durchaus gut,
    doch ich merke, dass die Anregungen, die ich durch ihn erhalte, nahezu vernachlässigbar sind. Heute hole ich mir die Anregungen aus den Medien, und den Rest
    sauge aus mir selbst und meinem eigenen Fundus. Trotz großer Fülle stellt unser
    Treffen daher für mich eigentlich einen sehr leeren Abend dar.
    Bei Kulturzeit bekomme ich einen phantastischen Bericht über das PegidaPhänomen geliefert. Darin heißt es: Die Vordenker der Bewegung verstehen sich
    als Widerstandskämpfer gegen eine faschistische Bedrohung. Wenn man sich
    derart selbst in die Opferrolle begebe, gewinne man dadurch subjektiv auch die
    Legitimation, zurückzuschlagen. Und anschließend: Pegida zeichne das Schreckensszenario eines Ethnozids am Deutschen Volkes, ja sogar dessen Ethnosuizid.
    Deswegen würden sich Leute wie der Pegida-Anführer Lutz Bachmann auch oft mit Juden vergleichen. Sie sagen, was damals mit den Juden passiert ist, wiederholt
    sich heute an den Deutschen.
    Puh, das ist natürlich harter Stoff. Und dick aufgetragen. Doch ich muss mir
    selbst gegenüber zugeben, solche Denkformen auch in mir schon gefunden zu
    haben. Das war zu der Zeit, als ich große Angst vor Hunden hatte und oft die
    Straßenseite gewechselt habe, wenn Leute mit freilaufenden Hunden mir entgegen
    kamen. In meinem Kopf habe ich dabei durchgespielt, bei solchen Gelegenheiten
    dann einmal zu sagen: Früher mussten die Juden vor den Herrenmenschen die
    Straßenseite wechseln, warum sollte das daher heute völlig anders sein in Hinsicht
    auf die Herrenmenschen mit ihren Rassehunden?
    Das ist schräg, ich weiß. Doch letztlich lebe ich davon, so etwas in mir selbst
    aufzuspüren und auszugraben. Das ist mein Rohstoff. Und fast alles, was mir auf
    diese Weise begegnet, schreibe ich auf. Vieles hole ich mir aber auch aus dem
    Fernsehen. Und so wächst mein Mosaik nahezu exponentiell an. Wie froh ich bin,
    dass es das Fernsehen gibt. Mein Fernsehen! Es wird ja heute oft naserümpfend
    betrachtet, doch das ist mir scheißegal. Ich denke, man muss eben nur wissen, wie
    man damit umgeht.
    Am Wichtigsten und Entscheidendsten im Erkenntnisprozess ist für mich, dass
    ich die Informationen, die ich erhalte, nicht nur fühle, höre, sehe oder lese, sondern sie wirklich auch aufschreibe. In fast allen Fällen führt das nämlich dazu,
    noch einmal nachschauen oder nachlesen zu müssen. Das alles noch einmal von
    Anfang bis Ende durchzugehen. Oft merke ich, dass ich erst dadurch die Dinge
    richtig begreife. Ich muss sie für mich gleichsam erarbeiten, muss das anfangs
    Gespeicherte nacharbeiten, um alles vollends erfassen zu können.
    Oft stoße ich dabei aber auch auf Fehler, auf Fehler in der Berichterstattung oder
    in meinem eigenen Denken. Und ich sehe, wie bestimmte Dinge bewusst falsch
    wiedergeben werden. Da werden Zitate durch das Weglassen bestimmter Passagen
    oder das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen bewusst umgemodelt, so dass sie fast
    sogar den genau umgekehrten Sinn ergeben können, der eigentlich gemeint war.
    Wenn ich das dann merke und herausbekomme, ist es, als würde da plötzlich eine
    Leinwand weggezogen und von einem auf den anderen Moment ein völlig neues
    Bild entstehen.
    Vor allem aber wird mir dabei klar, dass viele einfachen Wahrheiten schlichtweg
    nicht tragen. Wenn ich gezwungen bin, Sachverhalte zum Aufschreiben in Gänze
    zu durchdenken, finde ich oft genug, dass viele Dinge weit komplizierter sind, als
    ich das vorher je gedacht hatte. Aber auch, als man mir das anfangs vorgemacht
    hat.
    Beinahe bin ich jetzt wieder wie ein Schüler, der nach dem Unterricht zu Hause
    am Schreibtisch an seinen Schulaufgaben sitzt. Nur dass das für mich heute nicht mehr wie früher eine widerwillig zu erledigende Pflicht darstellt, sondern mich das
    vielmehr extrem glücklich und zufrieden macht.
    Im Tagesspiegel lese ich einen interessanten Bericht über Alexander Gauland, den
    AfD-Fraktionschef in Brandenburg. Darin heißt es: In Laufweite von Gaulands
    Potsdamer Wohnung gäbe es ein italienisches Restaurant, direkt am Wasser gelegen, mit breiter Fensterfront. Ich kenne mich da ganz gut aus und kann mir
    vorstellen, wo das ungefähr ist. In dem Artikel heißt es dann, Gauland sei der
    Meinung, der deutsche Wohlstand wäre noch nie so sehr in Gefahr gewesen wie
    heute. Schuld daran sei der totale Kontrollverlust, der Europa ins Chaos stürze. Da
    draußen, heißt es schließlich weiter, also jenseits der Fensterscheiben seines
    Italieners, tobe ein Krieg, so glaube Gauland. Ein Krieg? Irgendwie klingt mir das
    eher nach der Projektion eines linken Journalisten.
    Was mich persönlich umtreibt, ist auch etwas anderes. Ich denke nicht an den
    Wohlstand, nicht an das Materielle. Wir werden nicht verarmen, wenn wir andere
    unterstützen. Ich kann diese fetten Deutschen in ihren dicken Autos sowieso nicht
    mehr ertragen. Wenn sie da mit ihrem Selbstverständnis auftreten, als besäßen sie
    gleichsam ein Geburtsrecht auf unseren heutigen Wohlstand. Für mich selbst sind
    eher die immateriellen Werte wichtig. Ich habe Angst um den inneren Frieden und
    Angst vor Kriminalität. Wenn man plötzlich eine Million Menschen nahezu ohne
    jeden Besitz ins Schlaraffenland hineinlässt, sind Kriminalität und Konflikte
    vorprogrammiert. Und zwar völlig unabhängig von der Religion.
    Allein die folgenden Fragen möge mir doch bitte einmal jemand unserer Verantwortlichen beantworten. Doch sie werden ja nicht einmal gestellt. Ich habe das
    jedenfalls noch nirgendwo und von niemandem gehört. Also: Wie bitte sollen sich
    die Hunderttausende von jungen Männern in unserem Land ohne jedes Geld
    behaupten? Wie sollen sie, die nur mit ihren Anziehsachen am Leib aus dem Krieg
    hierher gekommen sind, Anschluss an unsere verwöhnten Jugendlichen finden, die
    stets über die neueste Handy-Version verfügen?
    Wie soll so etwas funktionieren? Das ist doch völlig unmöglich. So etwas kann
    nicht gelingen und muss scheitern. Da ist doch die Kriminalität vorprogrammiert.
    Auch hier, denke ich, täte unseren Leuten ein bisschen Aufklärung, vor allem aber
    Introspektion sehr gut. Ich kann mich jedenfalls durchaus in die Rolle dieser
    männlichen jugendlichen Flüchtlinge hineinversetzen, glaube ich.
    Und das sieht so aus: Da bin ich nun plötzlich in Sicherheit. Das ist wie ein
    Wunder. Endlich liegt der Krieg hinter mir. Doch ich bin ja nicht von Gleichgesinnten umgeben, nicht von Menschen, die gleichermaßen Schlimmes mitgemacht
    haben wie ich, sondern von im Vergleich zu mir verwöhnten und verweichlichten
    Kinder von Reichen.
    Diese Situation ist daher vollkommen unvergleichbar mit der der aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn damals waren
    alle arm und vom Krieg gezeichnet. Heute jedoch treffen die dem Krieg entkommenen Jugendlichen hierzulande auf die reichste Generation der Menschheitsgeschichte. Und in nichts können sie mithalten, sprechen nicht die Sprache, haben
    nicht das Wissen und verfügen schon gar nicht über deren finanzielle Mittel.
    Um mich herum sind also alle reich, doch ich besitze nichts. Ich verstehe die
    Menschen nicht und weiß nicht einmal, ob ich bleiben darf. Die Mädchen sind
    allesamt verlockend, doch ich spüre, ich habe keine Chance. Wie soll ich damit nur
    zurechtkommen? Wahrscheinlich würde ich da austicken. Es geht doch gar nicht
    anders, als auszuticken. Woher soll denn jemand hier die Selbstdisziplin hernehmen?
    Solche Fragen zu reflektieren, das sind für mich heute die wirklich relevanten
    Dinge. Das ganze Gerede jedoch, was ich tagtäglich lese, ist nicht einmal das
    Papier wert, auf dem es gedruckt ist. Oder den Strom für das Handy.
    Egal ob das Gerede der Gutmenschen in den Medien oder das von dem schmierigen Kettenraucher auf der Terrasse unter meinem Schlafzimmerfenster, der oft
    für die Mieter unten die Wohnung hütet und der mir einmal anvertraut hat, er sei
    nur deswegen aus dem Ruhrpott nach Berlin gezogen, weil es dort zu viele Ausländer gäbe. Wenn ich den sehe, dann weiß ich genau, dass mir die ganze vermeintliche deutsche Rasse aber so etwas von gestohlen bleiben kann.
    Aber solche Leute brauchen wir letztlich gar nicht, um den Karren komplett in
    den Dreck zu fahren. Das schaffen diejenigen, die keine Rassisten sind, schon
    allein. Denn ihre Köpfe sind ja nicht weniger vernagelt. Nur an einer anderen
    Stelle.
    Im Fernsehen läuft der Film Unsichtbare Jahre mit einer tollen Julia Koschitz in der
    Hauptrolle. Eigentlich wollte ich den Film, der sich um eine Stasi-Agentin in
    Westdeutschland dreht, gar nicht sehen, doch dann überwältigt mich gerade die
    persönliche Geschichte dieser Frau und gar nicht der politische oder gesellschaftliche Bezug.
    Ich bin total begeistert, und das führt zudem zu einer ganz neuen Erkenntnis für
    mich. Denn plötzlich begreife ich, dass man so etwas ohne Fiktion gar nicht
    erzählen könnte. Weil das Material dafür nicht zu erlangen ist. Würde man sich
    hier also genauso puritanisch verhalten, wie ich das immer vertrete, und nur über
    tatsächlich wahre Ereignisse berichten, hätte man auf diesen Film verzichten
    müssen.
    Ich rücke daher von meiner bisherigen Extremposition ab. Ich weiß allerdings,
    dass sie für mich nötig war. Heute jedoch brauche ich sie wohl nicht mehr. Heute
    würde ich wohl, um mir Ärger zu ersparen, lieber auf Fiktives zurückgreifen.
    Zudem die Möglichkeiten dadurch natürlich immens größer werden. Bei den
    Büchern Jenseits des Geldes und den folgenden beiden ging es jedoch nicht anders,
    als die Wahrheit zu schreiben.
    Das bringt mich dann auch auf meinen Mailfreund aus Österreich. Der schreibt
    mir mittlerweile nämlich so oft über Zufälle, die sich in seiner unmittelbaren
    Umgebung ergeben, dass ich schon glaube, er sähe darin tatsächlich Zusammenhänge mit seinem Leben. Jetzt schickt er mir ein Zitat, das aus einem Brief von
    Sigmund Freud stammen soll und lautet: Erstaunliche Zufälle enthüllen sich
    normalerweise als Projektionen mächtiger Wünsche.
    Zuerst denke ich, dass das ja eine Menge Sinn macht. Dann jedoch kommen mir
    Zweifel, und ich antworte: Aber wie soll das gehen? Denn was ist, wenn ich
    zufällig bei einem Fußballtipp richtig liege? Ist das Spiel dann so ausgegangen, weil
    ich mir das so sehr gewünscht habe?
    Plötzlich ergibt sich dann jedoch für mich eine Synthese, die die beiden unterschiedlichen Perspektiven doch noch zusammenbringen könnte. Ich schreibe dazu,
    man müsse jetzt wohl nur einen Schritt in der logischen Ordnung weitergehen und
    sagen: Die Sichtweise, dass Zufälle Projektionen mächtiger Wünsche sind, ist
    selbst bereits Projektionen mächtiger Wünsche. Auf diesen Satz bin ich richtig
    stolz. Und so passt es dann nämlich auch.
    Am nächsten Tag wird das bei mir dann ein richtiger Themenkomplex. Denn
    man muss doch klar unterscheiden, denke ich jetzt, dass Hoffnungen und Befürchtungen sicherlich Projektionen innerer Wünsche seien können, Zufälle
    hingegen immer Ergebnisse in der unabhängig von uns existierenden Wirklichkeit
    sind. Und da wir darauf keinen Einfluss haben, können sie auch nicht Ergebnisse
    unserer Projektionen sein. Zufälle ja genau dadurch definiert, sich eben nicht
    deterministisch erschließen zu lassen.
    Hier stimmt also etwas nicht mit Freuds Zitat. Es ist entweder aus dem Zusammenhang gerissen oder aber Freud bezieht es auf eine andere Ebene. Nicht auf
    die Zufälle selbst, sondern auf unsere Wahrnehmung der Zufälle. Denn dann
    macht es wieder Sinn. Konkret: Wenn das Eintreten äußerer Ergebnisse mit den
    Projektionen meiner inneren Wünsche korrespondiert, dann registriere ich diese
    Zufälle und schreibe ihnen vielleicht sogar eine bestimmte Bedeutung zu. Wenn
    die Zufälle hingegen nichts mit meinen Projektionen zu tun haben, realisiere ich
    sie überhaupt nicht.
    Man müsste also anführen, dass Freud hier sicher nicht auf Zufälle abstellt, die
    sich da draußen in der Wirklichkeit unabhängig von uns abspielen, sondern auf
    solche, bei denen wir direkt als Verursacher auftreten. Wir müssen also streng
    unterscheiden zwischen den Fakten, auf die wir Einfluss nehmen, und denen, bei
    denen das nicht der Fall ist. Es ist schon ganz schön kompliziert, so ein vermeintlich einfaches Zitat auseinanderzufieseln. Oder bin nur ich so kompliziert? Wahrscheinlich. Doch ich habe auf Anhieb gespürt, dass da etwas nicht stimmt. Und
    das kann ich dann nicht einfach stehen lassen, sondern muss es für mich enträtseln.
    Mit großer Lust lege ich noch einmal das Album Time vom Electric Light Orchestra
    aus dem Jahr 1981 auf. Es ist schon interessant, beinahe 35 Jahre nach der Veröffentlichung den Text zu hören: Remember the good old eighties, when things were
    so uncomplicated. Und dann die Zeile von der Frau, die gleichzeitig auch ein
    Telefon ist. Wer hätte damals gedacht, dass das tatsächlich der Wirklichkeit einmal
    ziemlich nahekommen könnte. Und vor allem so schnell.
    Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass die Attentäter von Paris sämtlich Franzosen und Belgier sind. Vier der sieben toten Attentäter sind identifiziert, sie sind alle
    Franzosen. Und der Drahtzieher, der kurz danach getötet wurde, ist Belgier mit
    marokkanischen Wurzeln.
    Doch wenn dem so ist, wie will man denn dann wissen, dass sie über die Flüchtlingsroute gekommen sind? Sie werden ja dort nicht ihre französischen und
    belgischen Pässe gezeigt haben oder ihre wahre Identität angegeben haben. Also
    über Fingerabdrücke? Oder hat Malte Lehming vom Tagesspiegel da etwas Falsches
    geschrieben? Das wäre ja ein herber Schlag für mich, denn diesem Mann vertraue
    ich sehr.
    Ja, wieso sollten sie als Franzosen und Belgier überhaupt über die Flüchtlingsrouten gekommen sein? Mit ihren EU-Pässen können sie doch ganz legal und ohne
    jede Kontrolle in jeden EU-Staat einreisen. Außer sie stehen auf Fahndungslisten.
    Doch darüber finde ich nichts. Warum lese ich darüber nichts? Das ist alles völlig
    unbegreiflich.
    Noch unbegreiflicher ist für mich, was auch jetzt noch über die Situation in den
    Flüchtlingslagern an den Grenzen zu Syrien zu erfahren ist. Das macht mich total
    verzweifelt. Gestern berichtete sogar die Tagesschau. Da denke ich immer: Was sind
    wir hier im Westen nur für ein Lumpen. Spielen uns als die Guten auf, kommen
    jedoch unseren elementarsten Pflichten nicht nach.
    Unser Entwicklungsminister Gerd Müller bezeichnet die Situation in den Flüchtlingslagern rund um Syrien als beschämend und unmenschlich. Er mahnt dringend
    internationale Hilfe an und sagt: Es gibt keine Winterzelte, stattdessen leben die
    Menschen in Nässe und Dreck. Jetzt drohe der Ausbruch der Cholera. Und er
    warnt deshalb angesichts des herannahenden Winters vor einer neuen Flüchtlingswelle in Richtung Europa.
    Der Großteil der Flüchtlinge, die in diesem Jahr nach Deutschland gekommen
    sind, so Müller, stamme nämlich nicht unmittelbar aus dem Kriegsgebiet, sondern
    vielmehr aus den Lagern in Jordanien, dem Libanon, dem Irak und der Türkei.
    Hat das nicht auch Thilo Sarrazin gesagt? Und sogar schon vor einer ganzen
    Weile? Doch ihn will man ja unter anderem für solche Äußerungen aus der SPD
    herauswerfen.
    Millionen Menschen säßen in diesen Lagern auch heute noch ohne ausreichende
    Versorgung, sagt Müller. Sie wären daher auf dem Absprung. Zwei, drei oder gar
    vier Jahre hätten die Menschen dort jetzt ohne Wasser und ohne Toilette gelebt.
    Die UN-Helfer könnten inzwischen hunderttausende Menschen überhaupt nicht
    mehr mit Nahrungsmitteln versorgen. Anderen werden die Rationen gekürzt.
    Diese Hoffnungslosigkeit führe beinahe zwangsläufig dazu, dass diese Menschen
    sich demnächst zu uns aufmachen werden.
    Es sei daher nicht zu begreifen,so Müller weiter, dass wir nicht bereit sind, ausreichend darauf zu reagieren und vor Ort zu helfen. Die Weltgemeinschaft müsse
    endlich Möglichkeiten schaffen, dass die Menschen in den Flüchtlingslagern rund
    um Syrien anständig überleben können. Doch dem UN-Flüchtlingshilfswerk
    UNHCR fehlten drei Milliarden Euro, die in diesem Jahr von internationalen
    Geldgebern fest zugesagt, aber nicht zur Verfügung gestellt worden seien.
    Da könnte ich wahnsinnig werden. Wir sind nicht nur Lumpen, wir sind auch
    ungerecht. Und vor allem dumm. Ich bin soo zornig. Aber der Gerd Müller, der
    gefällt mir. Der ist mir schon oft aufgefallen. Der laviert nicht herum, sondern
    sagt, was Sache ist. Ein CSU-Mann, natürlich. Was denn sonst? Und es wundert
    mich natürlich nicht, dass er nur selten im Mittelpunkt des Interesses steht. Denn
    wer will so etwas schon hören? Ich jedenfalls finde es mehr als desillusionierend,
    dass nicht einmal ein Minister der amtierenden Bundesregierung auch nur ein
    bisschen an diesem Wahnsinn ändern kann.
    Zu gerne würde ich einmal mitbekommen, wie das in den Fraktionssitzungen
    abläuft. Das kann doch Frau Merkel alles nicht einfach ignorieren. Dort unten
    fehlt ja wirklich vergleichsweise wenig Geld, drei Milliarden, was ist das schon?
    Das würde sich doch innerhalb der EU schnell aufbringen lassen. Doch wir
    versuchen das anscheinend nicht einmal, sondern zahlen lieber ein Vielfaches
    dafür, die Menschen mit all den dazugehörenden Problemen in unser Land zu
    holen. Dass der Müller es da überhaupt noch schafft, weiterzumachen.
    Deutschland und Europa, westliche Welt, was macht ihr? Das alles geht komplett
    über mein Vorstellungs- und Fassungsvermögen hinaus. Begriffe wie beschämend,
    unmenschlich und Abschaum sind da viel zu harmlose Bezeichnungen dafür.
    Verzweifelt bin ich auch stets über das, was ich über die Pariser Banlieues lese
    oder höre. Im Tagesspiegel finde ich ein Interview mit einem französisch-algerischen
    Künstler, der dort aufgewachsen ist. Er sagt, heute sei dort alles viel schlimmer als
    in den 80er Jahren. Damals begann plötzlich die Armut zu wachsen, als die wirtschaftlichen Krisen Frankreich trafen. Muslime, Juden und Katholiken wohnten da
    jedoch noch zusammen in der Banlieue. Die Menschen versprachen sich etwas
    vom Neoliberalismus, doch in der Vorstadt vergrößerte sich dadurch nur die ArmReich-Schere.
    Die 90er waren dann das Jahrzehnt der Krawalle. Die ökonomische Krise verschlimmerte sich und Repression und Polizeigewalt nahmen zu. Richtig katastrophal wäre es jedoch erst nach dem 11. September 2001 geworden. Da sei ein
    ideologischer Riss mitten durch Frankreich gegangen. Wer es sich leisten konnte,
    flüchtete schon wegen der Krawalle aus den Vorstädten, die Armen hingegen
    blieben. Mit dem 11.September kamen dann Stigmatisierung und Exklusion hinzu.
    Nie hätte sich den Menschen dort die Möglichkeit geboten, ihre ökonomische
    Situation zu verbessern. Im Gegenteil, Bildungsprojekte wurden vernachlässigt,
    und es wuchs der Frust über den Ausschluss aus der Konsumgesellschaft.
    Wie aber sind nun die jungen Leute aus den Pariser Vorstädten zum islamistischen Terror gekommen? Man müsse sich dazu nur die Profile der jungen Dschihadisten anschauen, sagt er. Sie seien eigentlich alle arbeitslos, wären aus der
    Schule geflogen oder hätten die Schule abgebrochen. Ihre Bildung würden sie sich
    jetzt im Internet holen. Und da warten die Verschwörungstheoretiker, Neonazis
    und Islamisten.
    Das Internet mache es leicht, diese frustrierten Jugendlichen einzufangen. Diese
    hätten eigentlich mit dem IS und Kämpfern wie Abu Bakr al Baghdadi nichts zu
    tun, sondern seien vielmehr ganz normale Vorstadtkinder, die sich allerdings von
    solchen Häschern benutzen lassen. Und dann kommt eine Passage, die meine Wut
    nur noch weiter hochkochen lässt. Da sagt er: Es macht mich fassungslos, dass
    nichts dagegen getan wird. Wieso wird es vom Staat so lax gesehen, dass ihm eine
    komplette Bevölkerungsgruppe verloren geht?
    Mit großer Faszination fange ich jetzt an, mich langsam in die geopolitischen und
    diplomatischen Verstrickungen des Westens im Nahen Osten hineinzuarbeiten.
    Um den IS erfolgreich zu bekämpfen, müssten irgendwann Bodentruppen eingesetzt werden, so heißt es. Die werden jedoch weder aus Frankreich noch aus den
    USA stammen, sondern können eigentlich nur aus Russland kommen. Deswegen
    wäre eine Zusammenarbeit mit Russland extrem wichtig. Im Gegenzug müsse man
    Russland jedoch ermöglichen, sich eine Position in der Region zu sichern, denn
    nur dann könnte das Land mittelfristig auf Baschar al-Assad als Verbündeten
    verzichten.
    Frankreich will jetzt sogar wohl noch einen Schritt weiter gehen, wie ich einem
    Zeitungsbericht entnehme, und nicht nur eine Allianz mit Russland eingehen. Der
    französische Außenminister Laurent Fabius hält sogar den Einsatz syrischer
    Regierungstruppen gegen den IS für möglich. Dies sei aber nur im Rahmen eines
    politischen Übergangs denkbar. Das fände ich natürlich klasse, wenn so etwas
    gelänge.
    Irritieren tut mich nur, dass die Meldung über den Einsatz russischer Bodentruppen von Moskau entschieden dementiert wird. Wenn die Russen nämlich etwas
    dementieren, so meine Erfahrung, dann haben sie meistens bereits etwas ganz
    anderes im Sinn als sie sagen. Wie in der Ukraine. Doch was werden sie wohl im
    Schilde führen?
    An uns Deutschen gehen diese Dinge jedoch wie nahezu immer komplett vorbei.
    Das sollen mal die anderen machen, da sind wir uns hierzulande alle einig. Das
    Schlimmste, mit dem wir uns konfrontiert sehen, sind sogenannte No-go-Areas
    für Journalisten, weshalb sich derzeit auch die gesamte mediale Aufmerksamkeit
    darauf konzentriert. Bei Demonstrationen von AfD und Pegida, so heißt es,
    würden sich Angriffe gegen Pressevertreter häufen. Also ich weiß nicht. Haben
    wir wirklich keine anderen Sorgen?
    In Frankreich sind Kopftücher bei Lehrerinnen generell verboten, was ich gut
    und richtig finde. Bei uns ist das hingegen nicht der Fall. Als eine Schule jetzt
    jedoch so ein Verbot durchsetzt, klagt eine Kopftuchfrau auf Schadenersatz wegen
    des Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Denn sie sei
    letztlich aufgrund ihrer Religion diskriminiert worden. Irgendwie kommt bei mir
    immer stärker der Eindruck hoch, als ob unsere Demokratie und unser Rechtssystem ihren Feinden mehr Toleranz entgegenbringt als ihren Freunden und Verteidigern.
    Ein ziemlich identisches Bild zeigt sich auch erneut bei Lisa in der Schule. Die
    Lehrer bekommen die pubertierenden Jungs schlichtweg nicht gebändigt. Es
    werden zwar stets Maßnahmen angedroht, jedoch niemals Konsequenzen gezogen. Mittlerweile gibt es keine Unterrichtsstunde mehr, in der nicht mehrere Jungs
    vor die Tür geschickt werden.
    Was mich daran am meisten erstaunt, ist, dass das Verhältnis der Lehrer zu diesen
    Schülern dadurch nicht tangiert wird. Die Lehrer behandeln die renitenten Störenfriede auch weiterhin genauso wie alle anderen auch. Niemand scheint echte
    Empörung aufbringen zu können oder zu wollen. Oder es ist wieder das Schulgesetz, das das nicht hergibt?
    Diese Situation ist gleich doppelt erstaunlich für mich. Wäre ich Lehrer, würde
    ich ganz schön sauer auf diejenigen sein, die meinen Unterricht permanent stören.
    Deshalb würde ich es denen schon zeigen. Und wäre ich Schüler, hätte ich Angst,
    wenn ich mir dauernd etwas zuschulden kommen lasse, dadurch die Unterstützung
    durch die Lehrer zu verlieren. Dass die Lehrer dann anders über meine Leistungen
    urteilen als über die von anderen.
    So ist das jedenfalls im normalen Leben. In der Schule scheint das alles allerdings
    nicht zu gelten. Doch ist das eine gute Erziehung fürs Leben? Nein, auf keinen
    Fall. Die Schule soll zwar keine Duckmäuser heranziehen, doch dass man letztlich
    dort als gesamte Person beurteilt wird und nicht nur für die reinen Schulleistungen, sollte eigentlich klar sein. Wahrscheinlich gibt das aber das Schulgesetz nicht
    her. Ganz besonders das in Berlin nicht. Ich fürchte nur, dass diejenigen, die durch
    dieses desolate Schulsystem laufen, später in großer Anzahl nicht in der Lage sein
    werden, sich in unsere Gesellschaft einzugliedern, geschweige denn, diese zu
    stützen.
    Wenn man es anders betrachtet, ist das allerdings durchaus das Rechtsstaatsprinzip in Reinkultur, das hier praktiziert wird. Jeder besitzt die gleichen Rechte, ohne
    Berücksichtigung von Ansehen, Person, Vorstrafen und nicht geahndeten Verbrechen. Wenn der Straftäter nicht erwischt und nicht verurteilt wird, oder aber er
    seine Strafe abgesessen hat, ist er nicht anders zu betrachten als jemand, der keine
    Straftat begangen hat. Vielleicht irrt das Rechtsstaatsprinzip mit seiner Vergangenheitslosigkeit hier allerdings tragisch.
    Frage: Wie schafft man Menschen, denen gesellschaftliche Werte letztlich egal
    sind? Antwort: Genau so. Und diese Menschen sollen später einmal das Fundament unserer Gesellschaft bilden? Au weia.
    Und das Schlimme daran ist: Die heutigen Kinder können ja eigentlich gar nicht
    unbedingt viel dafür. Wenn man ihnen keine Grenzen setzt, warum sollten sie
    dann stoppen? Und die Verantwortlichen für die sich abzeichnende Katastrophe
    sind dann, wenn diese eintritt, nicht mehr in der Verantwortung. Sondern genießen
    dann ihre fette Pension.
    Lisa muss sich jetzt an ihr Referat über Paul von Hindenburg heranmachen. Ich
    habe ihr bei den Quellen geholfen und ihr auch einen Film empfohlen, der die
    wichtigsten Stationen seines Lebens schildert. Schließlich bin ich es ja auch gewesen, der ihr vorgeschlagen hat, diesen Mann als Referatsthema zu wählen. Weil das
    interessanter sei und sie hier sicherlich mehr über die deutsche Geschichte lernen
    könne, als bei allen anderen zur Auswahl gestellten Personen.
    Ich hoffe nur, mich damit nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Was
    auch für meine Meinung gilt, dass Hindenburg letztlich nicht der entscheidend
    Verantwortliche für die Machtergreifung Hitlers war. Schließlich hat er sich ja
    lange mit Notverordnungen gegen die Mehrheit Hitlers im Reichtstag gestemmt.
    Doch angesichts der Machtverhältnisse im Reichstag, denke ich, hat er letztlich
    wohl nur keine Alternative besessen, als Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.
    Durch den Hinweis in einem Magazin komme ich noch einmal auf den Roman
    1984 von George Orwell, und speziell auf das darin vorkommende Konzept des
    Neusprech. In diesem Magazin wird nämlich über eine neue Version davon
    diskutiert, und in diesem Zusammenhang kommen Begriffe wie Eurohasser,
    Putinversteher, Klimaleugner und Rechtspopulismus vor. Denn, so die These,
    sobald eines dieser Worte erwähnt werde, sei es, als ob eine Klappe falle. Dann
    wäre keine weitere Diskussion mehr möglich. Auf diese Weise werde eine Sprachpolitik betrieben, die das Ziel habe, die Kommunikation in enge und kontrollierte
    Bahnen zu lenken.
    Das stimmt schon, denke ich. Das ist mir auch aufgefallen. Es hängt wirklich an
    den Begriffen. Und damit an der Sprache. Ich werde mich daher mit diesem
    Bereich noch einmal genauer befassen. Sehr verwandt ist damit auch ein Vorgehen, das sogar der Chefredakteur der ARD einräumt, als er sagt: Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen
    Kulleraugen aus. Tatsache sei aber, dass 80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig
    gebaute, alleinstehende Männer sind.
    Ich habe ja keine besonderen Sympathien für die AfD, doch je öfter und durchgängiger diese Partei mit dem Attribut rechtspopulistisch versehen wird, umso
    näher rücke ich zu ihr. Schon aus Protest. Und was soll das denn überhaupt genau
    sein, rechtspopulistisch? Ich weiß es nicht, und ich habe auch noch nie jemanden
    getroffen, der diesen Begriff in einer Weise erklären könnte, dass daraus ein
    gehaltvoller Inhalt erwächst. Doch darum geht es denjenigen, die diesen Begriff
    benutzen, ja auch nicht. Sie wollen nur ein Etikett.
    Ich finde bereits die Unterscheidung zwischen politisch rechts und politisch links
    heute ziemlich schwierig. Ist die AfD denn wirklich rechts? Stecken da nicht
    vielmehr sehr viele linke Ideen drinnen? Und die Nazis? Ist das nicht die Abkürzung für Nationalsozialistische Partei Deutschlands? Rechte Sozialisten also? Sehr
    merkwürdig.
    Manches ist sicher klar und allgemeingültig als rechts und links erkenn- und
    einordenbar. Bei vielen Themen scheint mir jedoch eine große Einigkeit zwischen
    der extremen Rechten und der extremen Linken zu bestehen. Ich hingegen fühle
    mich explizit dazwischenstehend. Bei dem, was ich über die Auseinandersetzungen
    schreibe, die ich beobachte, werde ich jedoch die Begriffe rechts und links so
    gebrauchen, wie das gemeinhin heute gemacht wird.
    Thilo Sarrazin bringt in seinem Buch Der neue Tugendterror eine interessante Erkenntnis. Gesellschaftliche Diskussionen würden nicht von der breiten Masse
    berufstätiger Menschen bestimmt, sondern von der Klasse der Sinnvermittler.
    Heute seien das vor allem die Vertreter der Medien. Der größte Teil dieser Leute
    habe Politikwissenschaft, Germanistik und Geschichte studiert. Als Experten seien
    sie also Experten für Kritik und Sinngebung, nicht aber für Problemlösungen in
    der sozialen und physischen Wirklichkeit. Und Experten für Einordnungen und
    Etikettierungen, füge ich für mich noch hinzu.
    Die sinnstiftende Medienklasse, so Sarrazin weiter, habe als meinungsbildendes
    Kollektiv Macht und übe diese Macht auch gerne aus. Dort, wo die Bürger nicht
    selbst Experten sind, würden sie nämlich unabhängig von ihrem Bildungsgrad
    zum größten Teil den Meinungen folgen, die ihnen in den Medien angeboten
    werden. Und die sind eben heute immer noch links.
    Das entspricht in Gänze meinen eigenen Erfahrungen. Seit meiner Schulzeit ist
    das vorherrschende Denken in unserem Land einheitlich, und zwar links. Wer das
    damals nicht geteilt hat und nicht zugleich, so wie ich, apolitisch gewesen ist, der
    hatte es schwer. Wer explizit eine andere Auffassung vertreten hat, wurde damit
    automatisch zum Außenseiter.
    Eine Meinungsvielfalt gab es im Grunde genommen damals unter jungen Leuten
    überhaupt nicht. Daher ist heute auch die Wut aus der Ecke der Jugendlichen der
    60er und 70er so groß, weil diese Leute das gar nicht kennen und daher nicht
    verknusen können, dass da plötzlich andere Leute auftauchen, die ganze andere
    Gedanken und Einstellungen besitzen.
    Ich erinnere mich noch gut, wie mein Vater früher in den 70ern zu mir gesagt
    hat, wir sähen alle gleich aus, mit unseren Jeans, Parka und langen Haaren. Da hat
    er Recht gehabt. Und heute wird mir klar: Wir sind auch alle der gleichen politischen Meinung gewesen. Meine Güte.
    Nachts wache ich bereits um 4:30 Uhr auf und habe ein merkwürdiges Gefühl.
    Es ist, als bekäme ich wieder Triesel oder Lagerungsschwindel. Doch es ist irgendwie nicht körperlich, sondern liegt dicht an dem Gefühl einer
    gewissen Angst. Der Angst, es nicht zu packen. Mir ist, als sei derzeit alles, mit
    dem ich mich beschäftige, etwas zu viel für meinen Kopf.
    Beinahe fühle ich mich jetzt wieder ein bisschen so wie nach der Trennung von
    Jenny. Es ist natürlich bei Weitem nicht so schlimm, aber tendenziell ähnlich.
    Einerseits strengt es mich total an, was ich derzeit mache, und es ist zum Teil auch
    bedrückend, was ich erlebe, andererseits erlebe ich es jedoch auch als weiterführend und erhebend. Nur dass jetzt zum Glück nicht mehr die wehrlose kleine Lisa
    im Zentrum steht.
    Das Thema ist jedoch in seinem Kern dasselbe. Es geht um den Totalitarismus
    im Denken. Jenny wollte ja von mir zum Schluss auch immer, dass ich fünf Finger
    sehe, selbst wenn in Wirklichkeit nur vier da waren.
    Und selbst der globale Kontext nähert sich diesem Thema an. Denn dass es im
    gesamten arabischen Raum bis heute ja keine Aufklärung gegeben hat, wie sie in
    Europa und Nordamerika bereits im 18. Jahrhundert stattgefunden hat, bedeutet
    natürlich konkret auch Totalitarismus. Und kein rationales Denkens, keine Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, keinen Kampf gegen Vorurteile, keine Hinwendung zu den Naturwissenschaften, kein Plädoyer für religiöse
    Toleranz, und auch keine persönlichen Handlungsfreiheiten, Bildung, Bürger- und
    Menschenrechte, sowie eine auf das Gemeinwohl gerichtete Staatspolitik.
    Stattdessen vertritt man dort noch heute ein Jahrtausende altes Denken mit
    ebensolchen, sich in der Scharia manifestierenden Ordnungs- und Rechtsprinzipien. Spiegelbildlich dazu ist im gesamten Arabien die Ausbildung auf einen rein
    passiven Erwerb des hergebrachten Wissens gerichtet. Lernen ist dort Auswendiglernen. Ein Hinterfragen, ob das, was überliefert ist, noch zeitgemäß ist, und ob es
    eigentlich überhaupt zutreffen kann, findet nicht statt. Es ist schockierend, aber
    ich höre von vielen Seiten das Gleiche: Die Möglichkeit des Hinterfragens existiert
    dort tatsächlich nicht.
    Und jetzt sind wir mit diesen Menschen aus einer für uns längst vergangenen
    Welt konfrontiert, die alles, was bei uns heute selbstverständlich ist, nicht einmal
    ansatzweise kennen. Die Chancen der Araber sind daher auch im Prozess der
    momentanen Globalisierung denkbar gering. Sie besitzen in ihrem antiquierten
    System weder die Voraussetzungen für die Globalisierung noch eine Zukunftsperspektive in ihr. Und das macht sie natürlich zusätzlich anfällig für jeglichen Extremismus.
    Ich muss das einfach alles aufschreiben. Ansatzweise habe ich damit ja schon
    begonnen, doch ich muss weiter und weiter. Das hat schon fast etwas von einer
    Manie. Ich befinde mich dabei gleichzeitig im Himmel wie in einem Hamsterrad.
    Doch ich bin riesig glücklich, denn ich habe meine Aufgabe gefunden.
    Es ist wieder eine ganz neue Aufgabe, und eine, an die ich vorher niemals gedacht habe. Und es wird natürlich doch erneut ein Buch daraus werden, das wird
    mir mit jedem Tag klarer. Ich lasse mir allerdings Zeit, was ich genau machen
    werde. Erst einmal nur das Mosaik-Projekt. Und dann sehen. Vor allem ruhig
    bleiben. Ich habe doch so viel und noch so lange Zeit.
    Lisa tritt auch durch diese Entwicklungen in meinem Leben derzeit ein Stück weit
    in den Hintergrund. Bei den vielen Dingen, die mich gegenwärtig beschäftigen, ist
    das für mich durchaus nicht unangenehm. Und anlässlich ihrer vielen Probleme
    auch nicht.

    [...]


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Bernd Niquet - Jenseits des Geldes 5. Teil Auszug aus dem neuesten Teil der beliebten Reihe von Bernd Niquet: "Jenseits des Geldes"

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