checkAd

     3186  0 Kommentare Technische Morgenlatte

    Manchmal muss ich einfach albern sein. Manchmal ist das Leben albern. Und manchmal ist die Börse albern. Irgendwie lächerlich ist sie dagegen eigentlich immer. Mit großer Bewunderung und völligem Unverständnis beobachte ich, was so jeden Tag über die Börse geschrieben wird. Und da setzt die Albernheit dann kurze Zeit aus. Mich erinnert das alles an die Gottesdienste, die ich mir bis vor einigen Jahren aus purer Romantik am Heiligen Abend im Skiurlaub in den Bergen angehört habe. Wie da die Pfarrer versuchen, unser unabänderliches Schicksal auf die weise göttliche Vorsehung zurückzuführen – und damit das Unbegreifbare gleichsam mit einem Taschenspielertrick begreifbar zu machen.

    Und nichts anderes wird an der Börse versucht. Ich will das nicht verdammen. Ich habe große Hochachtung vor Menschen, die sich morgens um sechs Uhr dreißig, wenn die meisten sich noch ihrer Morgenlatte widmen, beispielsweise an einen technischen Morgenkommentar heran machen – um nur einmal ein Beispiel zu nennen. Da hat das Leben doch sofort einen Sinn. Ich persönlich kann mir jedoch ebenso wenig vorstellen, mich damit an den Börsen zu orientieren, wie ich mir vorstellen kann, mit der Bibel durchs Leben zu finden. Doch letztlich ist beides ja durchaus populär. Ich werde also deutlich in der Minderheit bleiben.

    Doch zurück zur Albernheit. Und zur Ernsthaftigkeit: Da ich hier ja sicher für eine reine Männerrunde schreibe (Frauen sind sicherlich nicht so dämlich, ihren Tag mit der Börse zu vertrödeln), noch kurz etwas zum aktuellen Thema Globalisierung und Anlagestrategie:

    Bevor China wirtschaftlich wie heute in aller Munde war, reiste bereits eine hochrangige US-amerikanische Regierungskommission nach China, um den Zustand des Landes zu begutachten. Wirtschaftlich waren sie schon damals begeistert, doch was war mit der Demokratie?

    Ein Senator preschte nach vorne, fasste allen Mut zusammen, und fragte den Leiter der chinesischen Abordnung „Do you have elections?“
    Darauf schmunzelte der Chinese verschmitzt, und antwortete leise: „Oh yes, evely molning.“

    Wir sollten die Chinesen also keineswegs vergessen. In vielem sind sie uns nämlich durchaus ziemlich ähnlich.

    berndniquet@t-online.de


    Bernd Niquet
    0 Follower
    Autor folgen
    Mehr anzeigen
    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

    Mehr anzeigen
    Verfasst von Bernd Niquet
    Technische Morgenlatte Manchmal muss ich einfach albern sein. Manchmal ist das Leben albern. Und manchmal ist die Börse albern. Irgendwie lächerlich ist sie dagegen eigentlich immer. Mit großer Bewunderung und völligem Unverständnis beobachte ich, was so jeden Tag …