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     3720  0 Kommentare Deutsche Aktien überbewertet?

    Heute ist ein ganz besonderer Tag für mich. Denn heute kommen die "Beach Boys" nach Berlin zum Konzert. Ich weiß, das wird für den Unbeteiligten etwas spießig und gruftig klingen. Doch ich glaube, dass jeder, der einmal auch nur ansatzweise die Autobiografie von Brian Wilson (mit dem unsagbar dämlichen deutschen Titel "Mein kalifornischer Alptraum") gelesen hat, anschließend von diesen filigranen Harmonien nicht mehr lassen kann – ja, regelrecht süchtig nach ihnen wird, wie manch anderer vom Schnaps oder Schlimmerem, wie beispielsweise vom Rauschgift oder vom Aktienhandel.

    Was hat das nun jedoch mit der Börse zu tun? Leider sehr viel. Denn der letzte Auftritt der Beach Boys, den ich gesehen habe, war am 18. Juni 1999, und ich weiß noch genau, wie ich mich vorher zum Mittagessen mit André Kolbinger, dem Gründer und beherrschenden Mann bei wallstreet:online in der "Paris-Bar" zum Mittagessen getroffen habe. Damals war die Welt noch in Ordnung, damals wuchsen die Bäume noch in den Himmel und an diesem Tag haben wir unsere weitere Zusammenarbeit festgezurrt. Lieber Herr Kolbinger, wenn Sie das heute lesen: Ich grüße Sie! Hat sich eine ganze Menge geändert seit damals, was? Meine Güte! Wer hätte gedacht, dass es so schlimm kommt? Doch wer richtig hart ist, den haut auch keine Jahrhundertbaisse vom Hocker, oder?!

    Gerade habe ich daraufhin einmal nachgeschaut: Damals stand der Dax bei 5.200 Punkten. Vielleicht sollten wir einfach einmal die 5.000 Punkte im Dax als "Normalmaß" der Hausse nehmen, denn alles, was danach kam, war ja fast nur noch Wahnsinn, kollektiver Irrsinn. Wenn wir das machen, dann würde das heißen, das wir bei gegenwärtig etwa 3.400 Punkten "nur" etwa ein Drittel unter dem Normalmaß der Hausse lägen. Und das ist natürlich ein stolzer Wert in Anbetracht einer wirtschaftlichen Situation, in der der Aufschwung nicht nur schon ein paar Mal vertagt wurde, sondern auch gegenwärtig noch nicht in Sicht ist. Und weit Schlimmer noch: Sogar die Vorboten des Aufschwunges sind gegenwärtig noch nicht einmal auszumachen. Das gilt natürlich nur für diejenigen, die nicht wie die Analysten der Banken und Investmentfonds die Mäuse im Dunkeln laufen und springen sehen können – wie im neuesten ZEW-Indikator abgebildet, der sich ja nur aus Analystengeschwafel, nicht jedoch aus konkreten Fakten zusammensetzt.

    Wir befinden uns gegenwärtig also in einer Situation, in der der Markt positiv reagiert auf Daten, die aus Meinungen bestehen, die sich dadurch gebildet haben, weil der Markt positiv läuft. Die steigenden Kurse bedingen weiter steigende Kurse. Der Markt reagiert nur noch auf sich selbst – und die Realität verschwindet aus dem Blickfeld. Wehe, wenn sie wieder in Sichtweite kommt und nicht so rosarot aussieht, wie gegenwärtig gewünscht und erhofft.

    Es bleibt also auch im vierten Jahr der Baisse aus meiner Sicht nur zu konstatieren: Ein Aktienkauf ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Genauso wie ein Beach Boys Konzert von heute auch nur ein schwacher Abklatsch glorreicher Zeiten ist. Und trotzdem: Der richtige Fan lässt sich auch von greisen Akteuren und zweifelhaften Papieren nicht abschrecken. Beim letzten Konzert, da bin ich fast sicher, war das, was die Beach Boys gemacht haben, Play-Back. Was erneut in fataler Weise an den Aktienmarkt der Gegenwart erinnert.

    berndniquet@t-online.de

    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Deutsche Aktien überbewertet? Heute ist ein ganz besonderer Tag für mich. Denn heute kommen die "Beach Boys" nach Berlin zum Konzert. Ich weiß, das wird für den Unbeteiligten etwas spießig und gruftig klingen. Doch ich glaube, dass jeder, der einmal auch nur ansatzweise die …