Eurozone
"Deutschland wurde an vorderster Front in diese Flüchtlingskrise gestürzt"
Im griechischen Schuldendrama galt Deutschland noch als europäischer Hegemon, der in der EU den Ton vorgibt. Doch in der Flüchtlingskrise wollen die Europäer plötzlich so gar nicht nach der deutschen Pfeife tanzen - Bundeskanzlerin Angela Merkel bittet vergeblich um die Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten (siehe hier). Für Ökonom Daniel Gros kommt diese Entwicklung alles andere als überraschend. Er sagt: Deutschlands Macht schwindet.
Ohne dass es bisher irgendwer so recht bemerkt habe, verschiebe sich derzeit Europas internes Machtgleichgewicht, konstatiert der Direktor des Think Tanks European Policy Studies in einem Gastbeitrag für das „Project Syndicate“. Deutschlands dominante Position, die seit der Finanzkrise 2008 unantastbar schien, schwäche sich allmähliche ab. Und Gros zufolge ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das auch in den Köpfen der Menschen ankommt.
Die Gründe für den deutschen Machtverlust liegen seiner Ansicht nach auf der Hand. Zum einen werde das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft in den nächsten fünf Jahren wieder auf Normalmaß zurückfallen, d. h. unter den Durchschnitt in der Eurozone. Immerhin habe die Wachstumsrate hierzulande in zwölf der vergangenen zwanzig Jahre unter dem durchschnittlichen Wachstum der anderen drei großen Euroländer Frankreich, Italien und Spanien gelegen. Dass Deutschland in der Krise so viel besser dastand und seine Euro-Partner überflügelte - für Gros nur eine Momentaufnahme.
Wirtschaftliche Macht bricht weg
Außerdem stehe Deutschland „eine für längere Zeit blutleere Wirtschaftsentwicklung im Lande“ bevor, so der Ökonom. Grund sei das schrumpfende „Reservoir an Arbeitnehmern, die die Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes erfüllen können.“ Weil die deutsche Bevölkerung altere und auch die neu ankommenden Flüchtlinge die entstehende Lücke nicht unmittelbar schließen könnten, drohten der deutschen Wirtschaft die Arbeitskräfte auszugehen.
Einen weiteren Dämpfer erwartet Gros aber auch auf der Nachfrageseite. Deutschland habe als Exporteur von Kapitalgütern mehr als andere Euroländer vom Investitionsboom in China und anderen Schwellenländern profitiert. Doch die Party in diesen Regionen scheint vorbei (siehe: "Phase III der Finanzkrise hat begonnen" - Jetzt sind die Schwellenländer dran). Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft. Gros prognostiziert, dass die südeuropäischen Länder den Deutschen den Rang ablaufen werden, da sich die chinesische Nachfrage nun auf Konsumgüter verlagere, was diesen Ländern im Gegensatz zu Deutschland in die Karten spiele.
Auch der politische Einfluss schwindet
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Aber nicht nur wirtschaftlich, auch politisch verliere Deutschland an Macht. Bislang dienten die großen Finanzreserven als effektive Machtbasis. Vor allem in der Griechenland-Krise zeigte sich, dass Deutschland als größter Geldgeber auch den größten Einfluss geltend machen konnte. Doch jetzt, wo „der Finanzsturm weitgehend abgeflaut ist, fehlt es Deutschland an neuen Gelegenheiten, um seinen politischen Einfluss zu demonstrieren, und zwar inner- wie außerhalb der Eurozone“, schreibt Gros. So spiele die Bundesrepublik in den aktuellen Konflikten des Mittleren Ostens praktisch keine Rolle. Stattdessen rücke Deutschland allein der Flüchtlingskrise ins Rampenlicht. Gros wertet das allerdings nicht als Zeichen der Stärke. Im Gegenteil: „(…) während viele seine politische Führungsrolle bei der Flüchtlingskrise herausgestellt haben, wurde Deutschland in Wahrheit an vorderster Front in diese Krise gestürzt, ohne viel Einfluss auf die Faktoren zu haben, die die Krise antreiben, und dies setzt das Land erheblich unter Druck.“ Deutschland befinde sich nun erstmals in einer Lage, in der es seine EU-Partner um Solidarität bitten müsse, weil es allein nicht alle Neuankömmlinge aufnehmen kann.
Diese wiederum verwehren Bundeskanzlerin Angela Merkel bislang die Solidarität. Sie halten die Flüchtlingskrise in erster Linie für eine deutsches, kein europäisches Problem. Und so muss Merkel hilflos mit ansehen, wie ihr Einfluss schwindet. Auch Gros warnt: „Je mehr der globale Wirtschaftszyklus Deutschlands Rückkehr zur „früheren Normalität“ beschleunigt, desto schwerer wird es werden, die Machtverlagerung innerhalb Europas zu ignorieren.“