checkAd

     3358  0 Kommentare Wie Greenspan die Zukunft sieht

    Die beiden wichtigsten Fragen unserer wirtschaftlichen und finanziellen Gegenwart lauten:

    (1) Werden unsere Volkswirtschaften wieder wachsen und Arbeitsplätze schaffen?
    (2) Was wird aus unserer Leitwährung, dem Dollar?

    Alan Greenspan hat sich in seiner "Bundesbank Lecture" in dieser Woche sehr ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt. In Greenspans Ökonomik kommen zwei Punkten entscheidende Bedeutung zu. Das sind:

    (a) die Flexibilität der Märkte und
    (b) der Anstieg der Produktivität.

    (a) Greenspan argumentiert, dass eine hohe Flexibilität der Märkte auch hohe Defizite und Schuldenstände ohne Krise möglich macht. Derzeit beträgt das US-Leistungsbilanzdefizit etwa 5 Prozent des US-Sozialprodukts. Das ist eine Höhe, die einige Jahrzehnte zuvor niemals ohne Krise hätte durchgestanden werden können. Doch heute führt die Liberalisierung der Märkte dazu, dass selbst hier noch keine Begrenzung zu sehen ist.

    Um das zu verstehen, muss man Greenspans Meinung zu Derivaten kennen. Natürlich, so Greenspan in übertragenem Sinne, kann im Vorfeld niemand sagen, ob uns einmal der Himmel auf den Kopf fallen wird. Doch Tatsache ist, dass der Derivate-Markt erlaubt, Risiken, die früher ein einzelner Sektor der Volkswirtschaft tragen musste, nämlich die Banken, heute auf wesentlich mehr Schultern abwälzbar ist. So wäre beispielsweise die Asienkrise 1998 nach Greenspans Meinung ohne diese Risikoverteilung zur großen Krise mutiert, was sie so aber nicht ist. Und für die derzeitige Dollarkrise gilt prinzipiell das Gleiche.

    (b) Der Anstieg der Produktivität ist einerseits Grundlage jeden Wachstums, führt andererseits jedoch dazu, dass sich der Druck auf den Arbeitsmarkt verschärft. Denn so lange das Wachstums sich aus Produktivitätsverbesserungen speist, müssen keine neuen Arbeitskräfte eingestellt werden. Doch die Produktivitätsentwicklung ist, wie die von anderen ökonomischen Größen auch, stets zyklisch. Für die nähere Zukunft, so Greenspan, kann man mit einem Abschwung des Produktivitätswachstums zu rechnen, so dass aus der gegenwärtigen "jobless recovery" wieder ein neuer Aufschwung werden sollte.

    Insgesamt ist Greenspans Weltbild also ein sehr neoklassisches, neoliberales Gedankengebäude, in dem das Geld erstaunlicherweise kaum eine Rolle spielt. Das ist auch das eigentlich Merkwürdige, wenn man Greenspan zuhört: Der mächtigste Hüter des Geldes in der Welt spricht eigentlich über alles, was es in der Wirtschaft so gibt, nur über eines nicht – und das ist das Geld. Geld ist also Greenspan nur so etwas wie ein "Schmiermittel", was die Märkte einerseits flexibler macht und andererseits dadurch auch vor dem Zusammenbruch retten kann.

    berndniquet@t-online.de

    P.S.: In der nächsten Woche werde ich auf der 19. Internationalen Kapitalanleger-Tagung des ZfU in Zürich weilen. Hier werden unter anderem der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Kenneth Fisher, Marc Faber und Felix Zulauf referieren. An skeptischen Zukunftsausblicken wird es also nicht mangeln. Ich erinnere mich noch gut, wie im letzten Jahr alle Zuhörer nach Zulaufs Vortrag den Untergang des Abendlandes leibhaftig vor Augen hatten. Und ich freue mich darauf, mich in diesem Jahr innerlich in die Opposition zu begeben. Weitere Infos finden sich bei www.zfu.ch. Meine nächste Kolumne wird aus diesem Grund erst am Freitag, den 23. Januar, an dieser Stelle erscheinen – und sich natürlich völlig diesem Thema widmen.

    Bernd Niquet
    0 Follower
    Autor folgen
    Mehr anzeigen
    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

    Mehr anzeigen
    Verfasst von Bernd Niquet
    Wie Greenspan die Zukunft sieht Die beiden wichtigsten Fragen unserer wirtschaftlichen und finanziellen Gegenwart lauten: (1) Werden unsere Volkswirtschaften wieder wachsen und Arbeitsplätze schaffen? (2) Was wird aus unserer Leitwährung, dem Dollar? Alan Greenspan hat …