Dr. Gertrud Traud im Interview
Türkei-Krise? "Für sehr spekulativ orientierte Investoren birgt das Land Chancen"
Die Türkei hat in dieser Woche mit den Angriffen auf Syrien begonnen. Im Vorfeld drohte Donald Trump mit der wirtschaftlichen Vernichtung der Türkei. In vielen Bereichen ist die Situation derzeit eher unübersichtlich. Die wallstreet:online-Redaktion hat Dr. Gertrud Traud von der Helaba um ein Interview gebeten, um die Situation der Wirtschaft und Devisenmärkte sowie Finanzmärkte einzuordnen.
Sehr verehrte Frau Dr. Traud, oftmals werden Trump-Tweets als Auslöser für einen Kursrutsch der Lira nach unten bewertet. Ist da was dran?
Gertrud Traud: In der Tat gaben türkische Aktien und die Lira nach. Die Tweets von US-Präsident Trump hatten in der Vergangenheit die Lira z. T. massiv belastet. Insbesondere im August 2018 verlor die türkische Währung bis zu 30 Prozent gegenüber dem US-Dollar im Zuge der Spannungen zwischen den USA und der Türkei. Allerdings hatte sich die Währung im Anschluss auch wieder erholt, nicht zuletzt nach der Freilassung des amerikanischen Pastors Brunson aus türkischer Haft. Weitere Tweets von Trump ließen die Lira erneut abwerten, jedoch blieben die Verluste zeitlich und vom Ausmaß mit wenigen Prozentpunkten begrenzt.
Wie könnte die Lira auf den Syrien-Konflik reagieren?
Gertrud Traud: Wenn nun im Zuge der Spannungen im Syrienkonflikt der Streit zwischen den USA und der Türkei eskaliert, könnte die Lira zwar merklich unter Druck geraten. Die
Auswirkungen halten sich aber im Vergleich zu 2018 vermutlich in Grenzen.
Die Wirtschaft der Türkei scheint sich langsam zu erholen. Laut Berichten soll die Stimmung im Verarbeitenden Gewerbe im September so gut wie seit März 2018 nicht mehr gewesen sein. Wie
schätzen Sie die Wirtschaft der Türkei ein?
Gertrud Traud: Insgesamt erholt sich die türkische Wirtschaft allmählich von dem Währungsschock im August 2018 und dem darauffolgenden schweren Wachstumseinbruch. Die Wirtschaft
ist zwar in Q2 2019 um 1,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr geschrumpft. Im Vergleich zum Vorquartal wuchs das BIP 2019 jedoch in den ersten beiden Vierteljahren mit jeweils mehr als 1
Prozent bereits wieder deutlich. Auf Jahressicht könnte somit eine Rezession vermieden und sogar ein leicht positives Wirtschaftswachstum erreicht werden. Wichtigster Wachstumstreiber sind die
Exporte, vor allem Dienstleistungen (Tourismus).
Die Regierung strebt für die kommenden drei Jahre ein jährliches BIP-Wachstum von fünf Prozent an. Ist dies ein realistischer Wert?
Gertrud Traud: Wenn in Zukunft größere politische Störfeuer ausbleiben und von der derzeit schwächelnden Weltkonjunktur mehr Rückenwind kommt, könnte die Türkei in den nächsten
Jahren wieder Zuwächse von gut 3 Prozent erreichen, von der Regierung angestrebte jährliche Raten von 5 Prozent erscheinen hingegen als zu ambitioniert.
Ebenso soll die Inflation nochmals deutlich gesenkt werden. Für Ende 2020 wird mit 8,5 Prozent gerechnet – derzeit steht sie bei 15 Prozent. Wie könnte die Türkei dieses Ziel
erreichen?
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Gertrud Traud: Die Inflation sank bereits nach Spitzenwerten von 25 Prozent vor einem Jahr unter 10 Prozent. Dies erklärt sich vor allem mit der Stabilisierung der Lira. Eine
Inflation von 8,5 Prozent bis Ende 2020 erscheint ohne neue Währungsturbulenzen mehr als realistisch. Dies gibt der Zentralbank Spielraum für weitere Zinssenkungen. Nach einer Reduktion ihres
Leitzinses um 425 Basispunkte auf 19,75 Prozent könnte die Zentralbank weitere Senkungen in der Größenordnung von 2 bis 3 Prozentpunkten vollziehen. Eine zu aggressive Rückführung des hohen
Leitzinses könnte allerdings die rückläufige Inflationstendenz abbremsen und die Glaubwürdigkeit der Zentralbank gefährden.
Die Lira birgt Unsicherheiten auch für die weitere Inflationsentwicklung. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Gertrud Traud: Nach einer Aufwertung in den Sommermonaten aufgrund der besseren Wirtschaftsdaten gab die Türkische Lira gegenüber dem US-Dollar zuletzt wieder Gewinne ab. Neue
US-Wirtschaftssanktionen bergen zumindest temporäre Abwertungsrisiken für die Lira. Rein ökonomisch betrachtet ist das Chance-Risiko-Verhältnis für die türkische Währung jedoch positiv. Selbst
inflationsbereinigt sind die türkischen Anleiherenditen attraktiv. Die vormals stark defizitäre Leistungsbilanz ist nahezu ausgeglichen. Damit wird das Problem der markanten Auslandsverschuldung
der türkischen Wirtschaft gemildert. Auf Basis von Kaufkraftparitäten oder realer Wechselkursindizes gilt die Lira als deutlich unterbewertet.
Auf der anderen Seite warnte der IWF die Türkei vor finanzpolitischen Experimenten. Eine finanzielle Unterstützung durch den IWF lehnte die Türkei ab. Ist die Türkei über den Berg – also
raus aus der Krise? In welchen Bereichen könnte es für Anleger eine Chance geben?
Gertrud Traud: Die politischen Risiken von US-Sanktionen bis hin zu innenpolitischen Turbulenzen in der Türkei erschweren vor allem kurzfristig den Ausblick. Ohne nachhaltige Eskalationen deutet einiges daraufhin, dass die Türkei das Schlimmste der wirtschaftlichen Krise überwunden hat. Für sehr spekulativ orientierte Investoren birgt das Land damit Chancen, zumal nicht nur die Währung, sondern auch der Aktienmarkt insgesamt günstig bewertet sind.
Frau Dr. Traud, Vielen Dank für das Gespräch!
Mit Dr. Gertrud Traud von der Helaba sprach Dr. Carsten Schmidt, Redakteur Wallstreet:Online.