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    Hinter den Kulissen der Online-Enzyklopädie  5485  1 Kommentar Simon Wohlleb: „Viele Menschen denken: wer eine Wikipedia-Seite hat, der hat auch etwas zu sagen“

    In der deutschsprachigen Wikipedia gibt es derzeit knapp 2,5 Millionen Artikel. Bei einigen davon hatte Simon Wohlleb seine Finger im Spiel. Der 28-Jährige ist Inhaber der Weltraumagentur, die sich auf Wikipedia-Beratungen spezialisiert hat. wallstreet:online hat mit Wohlleb über Kundenwünsche, Glaubwürdigkeit und die gewerbliche Seite der weltbekannten Online-Enzyklopädie gesprochen.

    wallstreet:online: Herr Wohlleb, Sie bezeichnen sich als Wikipedia-Experten. Das ist eine sehr ungewöhnliche Berufsbezeichnung. Wie sind Sie zu Ihrem Job gekommen?

    Wohlleb: Nach meinem Studium habe ich ein Praktikum bei Sony Music gemacht und schnell gemerkt, dass eine eigene Wikipedia-Seite so etwas wie der Goldstandard im Internet ist. Bei den Labels rufen täglich hunderte Musiker an und gleich zu Beginn wird eigentlich immer geguckt: Wer ist der Kerl, wer ist diese Band? Viele Menschen – nicht nur in der Musikbranche – denken sich: Wer eine Wikipedia-Seite hat, der hat auch etwas zu sagen. Und dadurch eröffnen sich oft Chancen. Ich bin selbst auch Musiker und habe mir irgendwann mal eine eigene Wikipedia-Seite geschrieben. Wikipedia hat entgegen der Meinung vieler Menschen keine feste Redaktion, sondern ist ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem prinzipiell jeder mitmachen kann. Schon nach kurzer Zeit wurde ich von Freunden auf meinen Artikel angesprochen und gefragt, wie ich das gemacht habe. Da wurde mir klar, dass es einen Markt für dieses Wissen und Bedarf für professionelle Beratung gibt.

    wallstreet:online: Wer sind die Leute, die Ihre Nummer wählen?

    Wohlleb: Unsere Zielgruppe ist sehr breit gefächert. Wir haben bereits DAX-Unternehmen betreut, aber auch einzelne Sportler oder Künstler. Oft ist es so, dass ich mir eine Unterhaltungssendung im TV ansehe und schon erahnen kann, wer mich in den kommenden Tagen anruft. Ein Teilnehmer meldet sich eigentlich immer.

    wallstreet:online: Vermutlich ist nur ein kleiner Teil der potenziellen Kunden bekannt genug, um einen Wikipedia-Artikel zu bekommen.

    Wohlleb: Das stimmt. Generell kann man sagen, dass etwa ein Prozent aller Personen die Kriterien erfüllen. Darum lehnen wir auch etwa 90 Prozent der Anfragen ab. Wir können nur Menschen oder Unternehmen helfen, die relevant sind. Wikipedia hat dafür spezielle Kriterien entwickelt und an die halten wir uns auch.

    wallstreet:online: Wie sehen diese Kriterien aus?

    Wohlleb: Das ist ganz unterschiedlich und kommt immer darauf an, in welchem Bereich man aktiv ist. Ein Koch braucht zum Beispiel einen Michelin-Stern, damit er die Relevanz-Kriterien erfüllt. Ein Romanautor muss zwei Bücher bei einem Verlag veröffentlicht haben, bei einem Sachbuchautor sind es sogar vier Bücher. Und als Musiker brauchst du ein Album bei einem Major Label oder aber einen Hit in den Charts.

    wallstreet:online: Was haben Sie gemacht, um die Kriterien für Ihren eigenen Artikel zu erfüllen?

    Wohlleb: Ich habe zwei Musikalben veröffentlicht.

    wallstreet:online: Das kann natürlich nicht jeder Künstler von sich behaupten. Offenbar sind die Regeln strenger als allgemein gedacht. Wahrscheinlich ist darüber nicht jeder potenzielle Auftraggeber glücklich…

    Wohlleb: Allerdings! Ich hatte schon weinende Vorstandsassistentinnen am Telefon und ganz wilde E-Mails in meinem Postfach. Mit gelebter Ehrlichkeit erreicht man aber sehr viel bei den Kunden. Mein Arbeitsalltag besteht vor allem darin, Firmen zu erziehen und Menschen beizubringen, wofür Wikipedia eigentlich steht. Erfahrungsgemäß sind unsere Kunden uns dafür dankbar, da wir Klarheit in Sachen Wikipedia schaffen. Egal, wie groß der Kunde ist: Wir machen nur Sachen, die auch funktionieren und den Neutralitätsregeln entsprechen.

    wallstreet:online: Auftraggeber verwechseln Wikipedia also mit Werbung?

    Wohlleb: Zumindest in vielen Fällen. Die meisten Artikel scheitern, weil Firmen oder auch Einzelpersonen oft nicht in der Lage sind, neutral über ihre Arbeit und ihre Produkte zu berichten. Andererseits darf man nie vergessen, dass Wikipedia-Beiträge von „ganz normalen“ Menschen geschrieben werden. Häufig gibt es persönliche Interessen, jemand ist Fan einer bestimmten Person oder ein Familienmitglied arbeitet für das porträtierte Unternehmen. Es gibt zum Beispiel sehr umfangreichreiche Wikipedia-Seiten über jedes Kreuzfahrtschiff einer bestimmten Reederei. Und auch bei den Produkten eines gewissen Automobilherstellers lese ich zwischen den Zeilen sehr viel Begeisterung für die Marke. Wir haben mit diesen Texten übrigens nichts zu tun.

    wallstreet:online: Warum sollte man Sie buchen und nicht einfach darauf warten, dass die Wikipedia-Community irgendwann erkennt, wie wichtig man doch ist und einen Artikel verfasst?

    Wohlleb: Weil das praktisch so gut wie nie passiert. Greta Thunberg und Donald Trump haben ihre Artikel sicherlich „automatisch“ bekommen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich eines der circa 5.000 aktiven Mitglieder in der deutschsprachigen Wikipedia hinsetzt und sagt: heute schreibe ich mal über diese und jene Person – die ist wirklich minimal. Und selbst wenn solche Artikel angelegt werden, kümmert sich in der Regel niemand langfristig um die Angaben. Das heißt, sie veralten sehr schnell und haben dann nur einen geringen Mehrwert. Die meisten Wikipedia-Beiträge entstehen aus einem persönlichen Interesse heraus. Nehmen wir den Hochstapler Claas Relotius. Der Mann hatte schon lange vor dem Skandal im vergangenen Jahr gefühlt so ziemlich jeden Journalistenpreis gewonnen, den es überhaupt gibt. Aber für Relotius gab es keine eigene Wikipedia-Seite. Die wurde innerhalb weniger Stunden von der Community verfasst, weil plötzlich so viele Menschen nach ihm im Internet gesucht haben.

    wallstreet:online: Klingt so, als hätten es bestimmte Themen einfacher als andere.

    Wohlleb: Richtig! Ich habe zum Beispiel eine Dame in die Wikipedia gebracht, die im Sportbereich unzählige Medaillen gewonnen hatte, aber bis zu dem Zeitpunkt keinen eigenen Artikel besaß. Es gibt Themen, da muss man Energie reinstecken. Frauen in der Wissenschaft sind so ein Fall. Dafür interessieren sich leider vergleichsweise wenige Menschen. Andere Beiträge entstehen gewissermaßen wie von selbst. Ein Bundesligaspieler muss nur kurz eingewechselt werden und meistens hat er danach schon einen Artikel. Wikipedia ist und bleibt ein „chaotisches“ Projekt. Das kam aus dem Nichts, die Regeln haben sich im Laufe der Zeit geformt und unterscheiden sich auch in jeder Sprachausgabe ein bisschen. Mir ist für meine Arbeit immer wichtig, dass die Artikel einen Mehrwert bringen und die Welt dadurch ein Stückchen weiser wird.

    wallstreet:online: Kommen wir zurück zu Ihren potenziellen Kunden. Was würde passieren, wenn eine Firma oder ein Prominenter auf eigene Faust einen Artikel verfasst?

    Wohlleb: Andere Autoren sehen automatisch, dass ein neuer Artikel erstellt wurde und überprüfen ihn. Solange er die Relevanz-Kriterien erfüllt und neutral gehalten ist, wird er wahrscheinlich online bleiben. Wenn du aber ein Z-Promi bist, der einmal für fünf Minuten über den Fernsehbildschirm gelaufen ist, wird der Artikel mit Sicherheit gelöscht. So etwas passiert jeden Tag mehrfach. Ich rate solchen Leuten immer, im echten Leben tolle Dinge zu machen, die ihre Karriere befeuern. Aber leider versuchen viele „Sternchen“ über Wikipedia ihre Relevanz zu steigern. Der umgekehrte Weg wäre klüger und nachhaltiger.

    wallstreet:online: Wie reagieren andere Wikipedia-Autoren auf Ihre Arbeit?

    Wohlleb: Gut, da wir uns an die Relevanzkriterien halten und mittlerweile gar nicht mehr auf Wikipedia aktiv sind. Wir beraten unsere Kunden, erklären ihnen, welche „Tasten“ gedrückt werden sollten, beraten, schreiben Texte und unterstützen bei der Anlage von offiziellen Benutzerkonten. So gewinnt die Wikipedia neue Autoren, die obendrein eigenes Bildmaterial und Wissen zur freien Verfügung stellen.

    wallstreet:online: Könnte ich auch einen eigenen Wikipedia-Artikel bekommen?

    Wohlleb: Nur, wenn Sie schon mal Chefredakteur waren oder mehrere Bücher veröffentlicht haben.

    wallstreet:online: Das sieht leider schlecht für mich aus (lacht)! Vielen Dank für das Gespräch.

    Das Interview führte Felix Rentzsch, wallstreet:online.





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