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     2747  0 Kommentare Die große, große Angst

    Gleich morgens, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten fische, starrt mir die nackte Angst ins Gesicht. Die Überschriften der „Welt am Sonntag“ an diesem Tag: „Werben für den „fröhlichen Sozialismus“ – Linkspartei verabschiedet ihr Programm, doch die Umfragewerte sinken.“ Und: „Industrie schwenkt auf Merkel ein“.

    Wie beeinflusst man Menschen effektiv? Wie macht man Politik von der Titelseite herab? So macht man es! Doch warum bellt der Hund so plakativ? Über den gefletschten Zähnen scheint die nackte Angst zu regieren.

    „Um die neue Partei näher kennen zu lernen“, schreibt der Chefredakteur Christoph Keese auf Seite zwei, habe sich eine Redakteurin „... als Undercover-Reporterin einige Wochen lang in einem Berliner Ortsverband engagiert. Eigentlich hatte ich gehofft, etwas über den Zauber der jungen Bewegung zu erfahren. Schließlich muss es einen Grund geben, warum die Linkspartei so viele Wähler und Sympathisanten anzieht.“

    Dieser Christoph Keese ist für mich der interessanteste Zeitspiegel, den es derzeit gibt. Das sich ständig abwechselnde Dummstellen und Alleswissen, um – ganz im Sinne von Voltaires Dr. Pangloss – aufzuzeigen, warum alles so sein muss, wie ist es ist, bildet das derzeitige Rückzugsgefecht der Nachkriegsetablierten am besten ab.

    Warum die Leute mit der Linkspartei sympathisieren, erkennt man sehr leicht auf Seite 27 der selben Zeitung. Wer jährlich 30.000 Euro verdient, spart bei Merkels Wahlsieg 540 Euro Steuern und bei Kirchhofs Vorschlag 568 Euro. Wer hingegen eine Million verdient, spart über 30.000 respektive 172.000 Euro. Noch Fragen bitte?

    Der Glaube daran, dass dann, wenn die einen sprunghaft reicher werden, für die anderen etwas hindurchtröpfelt, scheint zu schwinden. Aber was dann? Zeitenwende?


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Die große, große Angst Gleich morgens, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten fische, starrt mir die nackte Angst ins Gesicht. Die Überschriften der „Welt am Sonntag“ an diesem Tag: „Werben für den „fröhlichen Sozialismus“ – Linkspartei verabschiedet ihr …