Kapitalmarkt 2024: Zeit für Realismus oder sogar Ernüchterung? - Seite 2
Längst sind die weltweiten Rahmenbedingungen kein festes Leitplankensystem mehr. Totalitäre ideologische, religiöse und politische Weltanschauungen gab es zwar schon immer. Im Unterschied zu früher bröckelt aber die bekannte granitstarke Einheit der freien Welt so sehr, dass totalitäre Systeme immer mehr an Einfluss auch im Westen gewinnen. In diesem Zusammenhang würde der Zusammenhalt des Westens nach einem Sieg der Republikaner bei der US-Präsidentenwahl im November wohl noch bröseliger. Und Europa allein scheint auch im Umgang mit der Ukraine (noch) nicht über genug Kleber zu verfügen. Insgesamt sind die Aussichten des Risikoberichts des Weltwirtschaftsforums düster wie nie.
War also die Jahresend-Rallye nur eine überschwängliche Euphorie, der fundamentale und geopolitische Substanz fehlt? Werden die Märkte daher in eine Phase der neuen Sachlichkeit und Konsolidierung eintreten?
Wie viel Ernüchterung müssen Anleger ertragen?
Ein Hinausschieben der Zinssenkungen ist durchaus möglich. Aber sie werden kommen und daher kein Beinbruch, zumal die Finanzmärkte am Zinssenkungspotenzial für 2024 unvermindert festhalten. Je später, umso schöner. Ermutigend ist, dass die Kerninflation in Amerika und in Europa nachgibt. Aber auch die allgemeine Preissteigerungsrate wird sich weiter beruhigen. So ist mit Blick auf die deutlich nachgebende Beschäftigungsplanung im breiten US-Dienstleistungssektor kaum von einer kritischen Lohn-Preis-Spirale auszugehen. Und bei uns sollte ein vorübergehender Wiederanstieg der Inflation wegen Maut- und CO2-Erhöhungen bzw. des Auslaufens von Energiebremsen in verschiedenen europäischen Ländern nicht irritieren.
Und die Weltkonjunktur? Die weitgehenden Bemühungen der Chinesen um Wirtschaftsstabilisierung tragen bereits erste, wenn auch noch kleine Früchte in Form verbesserter Frühindikatoren. Und in Amerika werden Zinssenkungen den finanziellen Spielraum für Konsum oder Unternehmensinvestitionen vergrößern. Überhaupt, die global massiven Ausgabenprogramme für Verteidigung, Infrastruktur oder Digitalisierung wirken auf das Wachstum wie Aufbauspritzen.
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Diese allmähliche konjunkturelle Stabilisierung kommt insbesondere exportsensitiven und konjunkturzyklischen Aktien zugute, die übrigens immer noch günstig zu haben sind. Wie schön, wenn sich neben Tech - mit Blick auf deren auch konjunkturunabhängig starke Geschäftsmodelle - ebenso zyklische Werte gesellen, die Alternativen bieten bzw. die Marktbreite der Aktienmärkte stabilisieren.