US-Schuldengrenze
US-Drama nach vertrautem Skript
Die USA sehen sich erneut einer schwierigen finanzpolitischen Hürde gegenüber: Die Schuldengrenze muss abermals angehoben werden. Dieses Drama läuft nach einem
bereits vertrauten Skript ab: Je näher die Deadline rückt, desto erhitzter die Debatte und desto verhärteter die Positionen beider Seiten. In letzter Minute wird dann doch noch eine Einigung
erzielt, denn die Alternative – also den Staatshaushalt über die sprichwörtliche Klippe stürzen zu lassen – wäre extrem schädlich für die amerikanische Volkswirtschaft. Die „Alternative“ wäre im
vorliegenden Fall die technische Zahlungsunfähigkeit der Vereinigten Staaten. Das könnte schwere andauernde Konsequenzen haben.
Das wohl wichtigste „sicherste“ Asset der Welt wäre dann nicht mehr sicher. Ein struktureller Anstieg der Risikoprämien auf breiter Front wäre die Folge. Zudem würde eine Zahlungsunfähigkeit der
USA eine Serie hochkomplexer Ereignisse im Finanzsystem in Gang setzen, die nicht mehr aufzuhalten wären. Dabei bestünde das Risiko eines finanziellen Infarkts à la Lehman. Die Wahrscheinlichkeit,
den Patienten wiederbeleben zu können, wäre dann sehr viel geringer als noch 2008, denn in der Zwischenzeit hat man die geld- und fiskalpolitische Munition weitgehend verpulvert.
Weil ein Staatsbankrott der USA undenkbar, ja schlichtweg unvorstellbar ist, erwartet man überwiegend, dass die Akteure in diesem Drama rational handeln werden. Das ist auch unser Basisszenario.
Anscheinend hat Obama die besseren Karten, da er sich der Wählerschaft nicht wieder stellen muss und insofern bereit ist, seine wichtigste innenpolitische Leistung – die als „Obamacare“ bezeichnete
US-Gesundheitsreform – um jeden Preis durchzusetzen. Zudem wird den Meinungsumfragen zufolge vor allem den Republikanern die Schuld gegeben, sollte die Schuldenobergrenze nicht angehoben werden und
der Staatsbankrott eintreten. Für ihre Aussichten bei den Kongresswahlen im kommenden Jahr wäre das fatal. Mehrere moderate Republikaner im Kongress haben bereits signalisiert, im nationalen – und
letztlich auch im eigenen – Interesse gemeinsam mit den Demokraten abzustimmen. Ferner mehren sich die Hinweise, dass sich der Fokus von Obamacare auf (Sozial-)Leistungsansprüche und Steuerreform
verlagert, ein Thema, bei dem ein Kompromiss – wohl nach kurzzeitigem Anheben der Schuldengrenze – eher zu erreichen ist.
Andererseits besteht das Risiko, dass politische Fehleinschätzungen zu folgenschweren Fehlentscheidungen führen. Im Wissen, dass sie die besseren Karten haben, könnten die Demokraten weniger
kompromissbereit sein und damit den Republikanern kaum mehr einen gesichtswahrenden Ausweg lassen. Für manche Republikaner stellt diese Abstimmung auch die letzte Gelegenheit dar, Obamacare
umzumodeln oder sogar gänzlich abzuschaffen. Aus ihrer Sicht ist dies ein Thema von grundlegender Bedeutung, bei dem der Zweck letztendlich die Mittel heiligt. Für John Boehner, den Mehrheitsführer
der Republikaner im Repräsentantenhaus, könnte es durchaus das Ende seiner politischen Karriere bedeuten, sollte es ihm nicht gelingen, auf diesem Wege Änderungen an der Gesundheitsreform
durchzusetzen.
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Was die Lage noch weiter verkompliziert, ist die Tatsache, dass der Zeitpunkt, das sogenannte „drop dead date“, an dem der Saldo des amerikanischen Staatshaushalts unter null fällt, aufgrund der
Unberechenbarkeit der täglichen Ausgaben und Einnahmen völlig ungewiss ist. Insofern könnte sich das Drama nach dem 17. Oktober, wenn der Staatshaushalt die Löcher auch nicht mehr provisorisch
stopfen kann, nach dem Motto „wer zuerst blinzelt …“ fortsetzen. Es ist gerade so, als würden zwei Autos auf eine Klippe zurasen und keiner der Fahrer kennt den tatsächlichen Abstand zum Abgrund.
Glücklicherweise gibt es für den Fall des Sturzes ein paar Sicherheitsnetze. Es ist indes unklar, ob sie dem Praxistest überhaupt standhalten. Überdies sind auch diese Netze mit schwierigen
politischen Entscheidungen verbunden.
So könnten beispielsweise Schulden- und Zinszahlungen prioritisiert werden. Dadurch würde die Schuldenlast über Nacht durch eine fiskalische Kontraktion in Höhe von vier Prozentpunkten fallen.
Hielte dieser Zustand zu lange an, würde die Wirtschaft in eine schwere Rezession stürzen, doch ein in seiner Tragweite fatalerer Staatsbankrott wäre vorerst abgewendet. Erschwerend kommt
allerdings hinzu, dass das US-Finanzministerium letzte Woche darauf hinwies, hierbei handele es sich nicht um eine technisch mögliche Option. Natürlich mag dieses Statement dadurch motiviert sein,
dass man den Druck aufrechterhalten will. Dennoch darf man sich nicht mit 100%iger Sicherheit darauf verlassen, dass die fiskalische Kernschmelze auf diese Weise vermieden werden kann.
Alternativ könnte sich das US-Finanzministerium über das bestehende Haushaltsgesetz und seine Schuldengrenze einfach hinwegsetzen und weiter Schuldtitel ausgeben. Dies könnte mit dem Hinweis
geschehen, eine Insolvenz verstoße gegen den 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, wonach ordnungsgemäß ausgegebene Schuldtitel der US-Regierung unanfechtbar sind. Doch Staatsanleihen, die zu einem Zeitraum ausgegeben werden, in dem die gesetzliche Schuldenobergrenze überschritten wurde, wären nicht „ordnungsgemäß
ausgegeben“ und daher mit einem höheren Ausfallrisiko verbunden. In dem Falle hätten die USA bereits lang vor Europa ihre eigene Version der „red and blue bonds“.
Außerdem könnte die Schuldengrenze durch Involvierung der Federal Reserve umgangen werden, auch wenn das eine mögliche Verletzung des „Federal Reserve Act“ bedeuten würde. So könnte das
Finanzministerium eine Münze mit hohem Nennwert prägen und diese bei der Fed hinterlegen; ferner könnte die Zentralbank den Überziehungskredit für das Konto, das die US-Regierung bei der Fed
unterhält, erhöhen. Letzteres gilt indes als direkte monetäre Finanzierung staatlicher Defizite und damit als Todsünde in Zentralbankkreisen. Doch haben diverse „Hohepriester“ der Geldpolitik
bereits die Todsünde der indirekten monetären Finanzierung begangen, indem sie die Kreditkosten künstlich niedrig halten, und werden dies wohl auch in Zukunft tun. Würde Bernanke jetzt zu diesem
Kunstgriff greifen, so würde er den USA und damit auch der Weltwirtschaft sehr viel Sorge ersparen und sich gleichzeitig seinen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Andererseits müsste er wegen
einer solchen Übertretung unter Umständen seinen Hut nehmen, doch das würde ihn wahrscheinlich nicht weiter schrecken, da sein Rücktritt ohnehin bevorsteht. Leider spricht aus Fed-Sicht nicht viel
für eine solche Handlungsweise. Verprellt die Zentralbank die Republikaner noch weiter, dann muss sie in Zukunft mit Konsequenzen für ihre Unabhängigkeit rechnen. Bereits jetzt stehen einige
Politiker der Republikanischen Partei dem aktuellen Lockerungskurs der Fed äußerst kritisch gegenüber.
Kurzum: Wir gehen zwar nicht davon aus, dass die durch den Schuldenrahmen gesetzten Grenzen verbindlich werden, aber selbst dann bestünde eine reelle Chance, dass das ein oder andere
Sicherheitsnetz die USA vor der Insolvenz bewahrt. Doch nichts gibt es umsonst. Im Ergebnis käme es zu einer wahrscheinlich lang anhaltenden Phase weiterer politischer Polarisierung und
Ungewissheit. Die Risikoprämien würden sicherlich auf Dauer steigen. Doch es besteht auch eine, wenn auch geringe Chance, dass die Situation völlig aus dem Ruder läuft. Bis das Kapitol Entwarnung
gibt, haben wir also noch eine nervenaufreibende Zeit vor uns. (Gastbeitrag von Willem Verhagen, Volkswirt ING IM International)