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     4004  0 Kommentare Die letzte Chance

    Die WTO-Tagung in Cancun ist gescheitert. Der Westen hat es damit geschafft, die letzte Chance beim Schopf zu ergreifen, um seine Agrarsubventionen und Schutzzölle zur Abwehr der Güter aus den armen Ländern abzuwehren. Es gibt Untersuchungen, dass eine Einführung der Marktwirtschaft in den reichen OECD-Ländern Steuergelder in Höhe von 300 Milliarden Dollar einsparen und gleichzeitig bis zum Jahr 2015 etwa 144 Millionen Menschen weltweit aus der schlimmsten Armut herausholen würde.

    Natürlich würden wir uns dabei auch heftige Probleme im Inneren schaffen, weswegen die Lobbygruppen zwar stets von Marktwirtschaft reden, sie jedoch fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Wie hat unsere Gesundheitsministerin das gestern in anderem Zusammenhang gesagt: "Sie kleben wie Pattex daran, dass sich nichts ändert."

    Von freier Marktwirtschaft wird also weiterhin mehr geredet als gehandelt. Und für uns in den reichen Industrieländern ist das auch gut so. Denn was würde passieren, wenn plötzlich unsere Grenzen offen wären für Zucker aus Mauritius, für Rindfleisch aus Argentinien, für sonstige Agrarprodukte aus Afrika? Es gäbe eine riesige Krise überall innerhalb der EG: Da ist es doch rationaler, sich weiterhin nach außen abzuschotten, gigantische Exportüberschüsse aufzubauen, jedoch keine Defizite einzufahren, wie sie sich in einem freien Welthandel zwangsläufig für die Hochlohnländer ergeben würden. Und mit den dabei erzielten Wohlfahrtsgewinnen in mehrstelliger Milliardenhöhe kann man dann trefflich ein paar Millionen an Entwicklungshilfe geben.

    Wie so etwas an einem ganz einfachen Beispiel funktioniert, erläutert Jim Rogers in seinem neuen Buch "Adventure Capitalist". In den USA gibt es in der Fest-Saison Sammelaktionen von Bekleidung für die notleidenden Menschen in Afrika. Dies hat folgende Effekte. Erstens kommen die Kleidungsstücke nicht bei der Bevölkerung an, sondern lassen sich (von Rogers) wunderbar auf dem Schwarzmarkt wiederfinden. Zweitens wird dadurch die heimische afrikanische Textilindustrie kaputt gemacht, weil ein derartiger Qualitätsstandard dort nicht produziert werden kann. Und drittens wird damit der US-Wirtschaft geholfen, denn wer alte Sachen weg gibt, ist in der Regel anfälliger für eine Neuanschaffung. Ein teuflisches System, das die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.

    Europa und die USA sind aus diesen Gründen also weiterhin ein Kauf. Nicht weil sie auf den freien Markt setzen, sondern genau umgekehrt: Weil sie nicht auf den freien Markt setzen. Und Emerging Markets sind aus den selben Gründen auch weiterhin deutlich mit Vorsicht zu betrachten. Das ist zwar zynisch, aber es spiegelt die Realität wider. So sieht unsere Welt aus.

    berndniquet@t-online.de

    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Die letzte Chance Die WTO-Tagung in Cancun ist gescheitert. Der Westen hat es damit geschafft, die letzte Chance beim Schopf zu ergreifen, um seine Agrarsubventionen und Schutzzölle zur Abwehr der Güter aus den armen Ländern abzuwehren. Es gibt Untersuchungen, …