Wie im Lehrbuch?
Ich weiß gar nicht, wie ich darauf gekommen bin, Mafia-Filme zu schauen. Wahrscheinlich durch die „Die Sopranos“ und die wundervolle Geschichte, wie der mächtige Mafiaboss mit einem ungelösten Mutterkonflikt und Panikattacken zur Psychoanalytikerin gehen musste.
Jetzt nun bin ich bei „Gomorrha“ angelangt, und als ich erfahre, dass das im Vergleich zu den „Sopranos“ keine Fiktion ist, sondern auf Tatsachen beruht, gruselt es mich wirklich.
Ich kaufe mir das Buch von Roberto Saviano, aus dem der Film entstanden ist, und komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Wie der gesamte Bekleidungsmarkt der Nobelmarken weltweit von ein paar Familien aus Neapel gesteuert wird. Und wie deren „Systeme“ funktionieren. Das ist der Kapitalismus in Reinform, ein ökonomisches Lehrbuch.
Am meisten faszinieren mich jedoch ein paar kleine Dinge, über die ich vorher noch nie so recht nachgedacht habe. Es geht um die Zeit.
In Neapels Mafia haben in einigen Bereichen Fünfzehn- und Sechzehnjährige das Sagen, schreibt Saviano, und gerade sie treten besonders extrem auf. Für die Macht, einen Markt zu beherrschen, riskieren sie lange Haftstrafen, und der wirtschaftliche Erfolg ist ihnen mehr wert als das Leben. Als das Leben aller und sogar als das eigene.
Dann wird es besonders interessant: Denn die Dauer, so Saviano weiter, spiele dabei keine Rolle. Es gehe nur um das Herrschen, egal ob für ein halbes Leben, ein Jahr oder eine Stunde.
So etwas können wir Normalbürger natürlich kaum verstehen. Doch was ist eigentlich mit der Zeit und der Dauer in der ökonomischen Theorie, frage ich mich daraufhin? Welche Rolle spielen sie dort?
Zeit und Dauer spielen dort keinerlei Rolle. Es gibt sie schlichtweg nicht. Ökonomische Modelle sind zeitlos. Und ohne Zeit keine Dauer. Was für eine merkwürdige Übereinstimmung.
Wenn ein Unternehmen seinen Gewinn maximiert, dehnt es die Produktion so lange aus, bis die Grenzkosten den Grenzerlösen entsprechen. Doch wie lange hat dieser Zustand Bestand? Hier klafft ein schwarzes Loch. Im Grunde genommen handelt ein Unternehmen in der Theorie also wie ein Mafiajunge.
Doch auch in der Realität sehen wir, dass zwar viele Unternehmen langfristige Strategien fahren, dem Management das Wort „langfristig“ jedoch oft ein Fremdwort ist.
Was will ich jetzt damit sagen? Dass es überall Muster gibt, die auf Ähnlichkeiten in Beziehungen und Abläufen hinweisen. Und dass auch komplett Fremdartiges durchaus auf Verwandtes weisen kann.
Vor allem aber: Dass man nicht nur aus dem Markt, sondern auch aus so etwas Gewinn ziehen kann. Zeitlos, und ohne Maximum.