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    Schicksalswahl der Briten  137  0 Kommentare Johnsons Brexit oder zweites Referendum?

    LONDON/HUCKNALL (dpa-AFX) - Das britische Parlament gilt vielen seit dem Gezerre um den EU-Austritt als Ort heillosen Zanks. Am kommenden Donnerstag (12. Dezember) wählen die Briten nun neue Abgeordnete. Es gibt dabei einen klaren Favoriten: Premierminister Boris Johnson liegt in den Umfragen mit seinen Konservativen deutlich vorne. Mit einer Mehrheit will er seinen Brexit-Deal durchpeitschen und das Land zum 31. Januar aus der Europäischen Union führen. Labour-Chef Jeremy Corbyn dagegen verspricht ein zweites Brexit-Referendum.

    Doch Vorsicht ist angebracht. Wer meint, das Rennen sei bereits gelaufen, könnte sich täuschen. "Falls irgendjemand zu Ihnen kommen sollte und sagen, er wisse, was passieren wird, ziehen Sie eine Augenbraue hoch, lächeln Sie freundlich und wenden Sie sich ab", sagte BBC-Moderator Andrew Marr dazu kürzlich.

    Die beiden Spitzenkandidaten sind denkbar unpopulär. Weniger als die Hälfte der Briten hält Johnson für einen guten Premierminister, Corbyn wird der Job von gerade mal einem Viertel zugetraut. Auf den Punkt brachte diese Stimmung kürzlich die 86 Jahre alte Molly Bennet aus der Nähe von Southampton. "Ich weiß, für wen ich nicht stimmen werde", sagte die alte Dame dem Sender Sky News. "Den roten Mann." Gemeint war der Chef der Sozialdemokraten. Doch auch für Johnson hatte sie kein Lob übrig. "Ich wähle normalerweise konservativ, aber ich kann den Kasper nicht ertragen", klagte sie.

    Das britische Wahlrecht macht Voraussagen sehr schwer. Selbst ein deutlicher Vorsprung in den Umfragen bedeute nicht unbedingt eine große Mehrheit im Unterhaus, warnte der renommierte Wahlforscher John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow.

    Die Frage ist, ob es zu einem Johnson-Sieg kommt oder wieder zum "hung parliament" - einer Sitzverteilung, in der es keine klare Mehrheit für eine der beiden großen Parteien gibt. Das war bereits nach der Wahl 2017 der Fall - und führte zu einer Hängepartie um den Brexit. Johnsons Vorgängerin Theresa May konnte nur mit Hilfe der nordirischen DUP weiterregieren.

    Manch einer hielt das für eine realistische Abbildung der Stimmung im Land, denn der Zank um den EU-Austritt beschränkt sich nicht auf das Parlament. Umfragen zeigen, dass die Briten auch dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum zu ungefähr gleichen Teilen in Austrittsbefürworter und -gegner gespalten sind. Könnte es sein, dass es wieder ein Patt gibt im Unterhaus?

    Johnsons Tories verdanken ihr Umfragehoch vor allem der Tatsache, dass sie die Brexit-Partei von Nigel Farage erfolgreich an die Wand gespielt haben. Die überwiegende Mehrheit der Austrittsbefürworter will den Umfragen zufolge die Konservativen wählen. Das bedeutet aber auch, es gibt kaum mehr etwas hinzuzugewinnen für die Tories. Die "Brexit-Orange" sei ausgequetscht, so Curtice.

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    Labour dagegen konkurriert mit den Liberaldemokraten um die Stimmen der Brexit-Gegner und hier gibt es noch Spielraum: In den vergangenen Wochen war in den Umfragen eine Wählerwanderung von den Liberalen zu Labour zu beobachten. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass sich die junge Liberalen-Chefin Jo Swinson mit ihrer Ankündigung, den Brexit einfach abzusagen, verzockt hat. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, wäre die Johnson-Mehrheit Beobachtern zufolge in Gefahr.

    Doch ein landesweiter Trend spiegelt nicht unbedingt wider, was am Ende des Wahltags als Ergebnis zu erwarten ist. Großbritannien hat ein reines Mehrheitswahlrecht. Nur der Kandidat, der in einem der 650 Wahlkreise die meisten Stimmen auf sich vereint, erhält einen Sitz im Parlament. Der Gewinner räumt also alles ab, egal wie knapp sein Sieg war. Entscheidend sind die Sitze in einer Reihe umkämpfter Wahlkreise, die sogenannten marginal seats.

    So ein Wahlkreis ist Ashfield in Mittelengland nahe Nottingham. Eigentlich war der Bezirk fest in Labour-Hand. Doch bei der Parlamentswahl 2017 hatten sich die Sozialdemokraten hier nur mit einer hauchdünnen Mehrheit von 411 Stimmen gegen die Konservativen behauptet. Wer wird dieses Mal in Ashfield gewinnen, wo rund 70 Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben?

    Hört man sich dort um, fällt vor allem auf, wie viele sich noch nicht entschieden haben. Die Menschen sind misstrauisch, nur wenige wollen mit Journalisten sprechen, geschweige denn namentlich zitiert oder fotografiert werden. "Ich werde wählen gehen, aber ich weiß nicht wen", sagte eine Verkäuferin in einem Blumengeschäft im Städtchen Hucknall. Das Drama habe schon beim Brexit-Referendum 2016 angefangen - man sei nicht über die Folgen des EU-Austritts aufgeklärt worden. Gleichwohl: "Wahrscheinlich würde ich wieder für den Brexit stimmen."

    "Die Parteien hier lügen doch alle", schimpfte ein Händler auf dem Markt der Stadt. Es sage einem doch der "gesunde Menschenverstand", dass die Wahlversprechen nicht finanzierbar seien. So kündigte etwa Corbyn den Neubau von 150 000 Wohnungen und kostenloses Internet für alle an, Johnson will mit großen Investitionen in den maroden staatlichen Gesundheitsdienst NHS und in die Polizei Wähler ködern.

    Früher war Hucknall ein prosperierendes Zentrum der Textilverarbeitung und des Kohle-Bergbaus. Doch die goldenen Zeiten sind längst vorbei. Der Ort mit etwa 30 000 Einwohnern hat sich zur schmucklosen Pendlerstadt entwickelt. Wohlstand sieht anders aus.

    Die große Zustimmung zum EU-Austritt wurde vor allem als Protest gegen das Establishment verstanden. Sollten die Menschen wieder vor allem ihrem Ärger Luft machen wollen an den Wahlurnen, wird das Ergebnis noch schwerer vorauszusagen: Johnson inszeniert sich zwar als Vollstrecker des Volkswillens, doch Corbyn gilt mit seinen Plänen zur Verstaatlichung von Post, Eisenbahn- und Energienetzen als der eigentliche Revoluzzer.

    In einem "hung parliament" könnte Corbyn theoretisch eine Minderheitsregierung formen und sein Versprechen eines zweiten Brexit-Referendums einlösen. Die Schottische Nationalpartei SNP wäre bereit, ihn zu unterstützen, wie SNP-Chefin Nicola Sturgeon bereits deutlich machte. Der Preis, daran ließ sie keinen Zweifel, wäre eine baldige Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des mehrheitlich EU-freundlichen Schottlands vom Vereinigten Königreich./si/DP/nas




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