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     1784  1 Kommentar Irgendjemand ist hier verrückt

    Als ich am Mittwochmorgen die Internetseite der WELT aufrufe, treffe ich auf ein ungutes Omen. Ich sehe, was ich noch niemals gesehen habe, was ich aber durchaus für bezeichnend halte, nämlich dass bei zwei Artikeln hintereinander beinahe identische Schlagzeilen zu finden sind. Das ist wohl in der Aufregung durchgerutscht.

     

    Die erste lautet „Beispielloses Desaster: Diese Zahlen zerstören die Hoffnung auf das V-Szenario“ und die zweite „Beispiellose Krise – Airbus will 15.000 Stellen streichen“. Wir befinden uns also anscheinend in einer beispiellos unguten Situation.

     

    Als ich mir anschließend bei Boerse.de die Indices anschaue, sehe ich, dass der Dax und der Dow am Vortag gestiegen sind. Im Marktbericht steht dann: „Am US-Aktienmarkt sorgten gute Konjunkturdaten aus China und den USA für Kauflaune. Die weiter steigenden Infektionszahlen in der Corona-Pandemie in den Vereinigten Staaten rückten damit in den Hintergrund.“

     

    Und weiter: „Die Stimmung der US-Verbraucher hatte sich im Juni weiter von ihrem Einbruch in der Corona-Krise erholt. Zudem halten sich auf dem US-Immobilienmarkt die Auswirkungen der Corona-Pandemie bisher offenbar in Grenzen. Ferner stützten besser als erwartet ausgefallene Stimmungsdaten aus der chinesischen Industrie die Wall Street.“

     

    Aha, denke ich, die Zahlen sind schlecht, aber die Stimmung ist gut. Das ist doch schön. Irgendjemand ist hier jedoch verrückt, denn wie soll das beides bitte zusammenpassen?

     

    Und hatte die WELT nicht gerade geschrieben, es gäbe jetzt in den USA eine zweite Corona-Welle und die Zahl der Infektionen steige derzeit so stark wie nie? Doch wenn das dann in den Vereinigten Staaten in den Hintergrund gerückt ist, wunderbar. Hoffentlich bleibt es dort auch.

     

    In Deutschland rücken ja die Zahlen an der Börse auch in den Hintergrund. Denn der Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) hat gerade von einem Rückgang der Wirtschaft von 10 Prozent in diesem Jahr gesprochen, womit eine rasche Erholung der Wirtschaft nach dem historischen Einbruch im Frühjahr, endgültig vom Tisch sei.

     

    Die Erholung scheint also wohl vom Tisch an die Börse gewandert zu sein. Wenn das nicht verrückt ist.

     

    Die Unternehmen seien verunsichert, so der DIHK, weil sich ihre Geschäftstätigkeit trotz der gelockerten Corona-Maßnahmen in den meisten Ländern nicht wieder normalisiere. Im Herbst könne sich die Lage deshalb sogar negativ zuspitzen, wenn keine neuen Aufträge hereinkämen.

     

    Und die Autoindustrie baut derzeit nicht mehr Autos als im Jahr 1975. Reicht doch eigentlich auch, oder? Doch sind die Löhne nicht irgendwie gestiegen?

     

    Aber wahrscheinlich macht das der Börse auch nichts. Zahlen, Zahlen, Zahlen. Man handelt doch so wunderbar mit Erwartungen.

     

    Dummerweise läuft dann im Herbst aber auch gerade der Insolvenzschutz aus. Und ein jahreszeitlich bedingter Anstieg der Infektionen ist bestimmt wahrscheinlich. Doch ach, das werden die Erwartungen schon schaffen. Oder die Menschen müssen einfach mehr Desinfektionsmittel trinken.

     

    Was kümmert uns das also eigentlich alles? Schließlich wird die Grundrente steigen, und auch die jungen Leute monieren am Konjunkturpaket der Bundesregierung eigentlich nur, dass es nicht klimaneutral ist. Dass es ihnen eventuell wirtschaftlich die Zukunft nimmt, ist ihnen anscheinend piepegal.

     

    Überhaupt, die Firmen und die Selbständigen, sollen sie sich doch lieber mal um Schwarze kümmern. Und um die Gleichstellung von menstruierenden Wesen. Aber wahrscheinlich bin ich jetzt schon langsam selbst verrückt geworden. Das soll ja ansteckend sein wie eine Epidemie.

     

    berndniquet@t-online.de

     


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Irgendjemand ist hier verrückt Fakten und Erwartungen widersprechen sich massiv