Europa in der Krise
Europas Gretchenfrage: Schulden machen oder Schulden abbauen?
Europas Spitzenpolitiker sind sich noch immer uneins: Sparen für einen ausgeglichenen Haushalt? Oder doch lieber mehr Ausgaben, um die Konjunktur anzukurbeln? Insbesondere die
Bundesregierung scheint international mehr und mehr in die Enge getrieben. Ein Pro und Contra der Austeritätspolitik.
Im Interview mit der „Wirtschaftswoche“
übernahmen der Ökonom Reiner Osbild und der Wirtschaftshistoriker Florian Schui die Rollen von Pro (Osbild) und Contra (Schui) der Austeritätspolitik. Die Frage scheint sich immer mehr zu
stigmatisieren. Viele Ökonomen wie der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers fordern, Deutschland solle mehr investieren anstatt für eine schwarze Null - den ausgeglichen Haushalt - 2015 zu
sparen (siehe auch hier: US-Top-Ökonom warnt: Europa droht ein Jahrzehnt der
Stagnation). Doch die Regierung Merkel hält dagegen. Natürlich spielen auch – wenn nicht vor allem – politische, vielleicht sogar emotionale Motive eine Rolle, wenn Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble beharrlich an seinem Sparplan festhält. Zeit, die ökonomischen Aspekte in den Vordergrund zu stellen.
Wo liegen die Gründe für die aktuellen Schuldenberge vielerorts in der Euro-Zone?
Denn die wirtschaftliche Situation in Europa ist bedrückend, da sind sich Schui und Osbild einig. Wachsende Schuldenberge bei schwächelnder Wirtschaftsleistung. Eine gefährliche Mischung. Uneins
sind sich die beiden Experten – wie auch die Spitzenpolitiker – zunächst über die Ursachen dieser Entwicklung. Während der Wirtschaftshistoriker Schui die Gründe in der Austeritätspolitik, also dem
strengen Sparen, sieht, bemängelt Ökonom Osbild die unzureichende Umsetzung von Sparvorhaben: „Es wurde gar nicht groß gespart. Es gab viele Ankündigungen, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen. Das
waren aber nur Lippenbekenntnisse. Selbst Deutschland hat doch konstant immer neue Schulden aufgenommen.“ Schließlich strebe Deutschland erst in diesem Jahr auf einen ausgeglichenen Haushalt zu.
„Von Sparpolitik in Europa zu sprechen, ist absurd. Im Gegenteil: Es wurde zu wenig gespart“, sagt er gegenüber der "WirtschaftsWoche".
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Doch Schui hält dagegen. Natürlich sei gespart worden. Quer durch die Euro-Zone. Er kritisiert diejenigen, die „trotz des offensichtlichen Misserfolgs“ die Austeritätspolitik verteidigen und
vergleicht sie sogar mit den Machenschaften in der DDR: „Die Einwände der Befürworter der Sparpolitik erinnern mich ein bisschen an Beiträge der ‚aktuellen Kamera‘, der Nachrichtensendung der
ehemaligen DDR. Da gab es auch immer die Meldungen: ‚Wenn wir jetzt noch mehr Opfer bringen, noch härter arbeiten, dann kommt das kommunistische Paradies.‘“
Schuldenabbau und Reformen - doch wie?
Einig sind sich Schui und Osbild darin, dass Schuldenabbau und Strukturreformen parallel stattfinden müssen. Doch auf dem Weg zu diesen Zielen scheiden sich die Geister. Osbild fordert weniger
Ausgaben, geht also sozusagen den direkten Weg. Schui hingegen appelliert für eine wachstumsorientierte Ausgabenpolitik. Denn eine rigide Sparpolitik, so Schui, „vergrößert die Not, da sie die
Wirtschaft abwürgt, die Steuereinnahmen reduziert und damit den Schuldenabbau blockiert.“
Und auch bei der Frage nach den Reformen zeigen sich die divergierenden Standpunkte: Während Osbild für eine stärkere Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Privatisierung von Unternehmen plädiert,
fordert Schui Reformen müssten in erster Linie „die Qualität der Produktion heben“. „Was wir nicht brauchen, sind flexiblere Arbeitsmärkte, die in einer Krisensituation nur zu mehr Entlassungen und
schwacher Lohnentwicklung führen“, kritisiert der Historiker im Interview mit der "WirtschaftsWoche".
Strenges Sparen wäre "rückwärtsgewandt und wenig ökonomisch gedacht"
Außerdem: Öffentliche Haushalte jetzt, quasi als Strafe, zum Sparen zu verdammen, sei „rückwärtsgewandt und wenig ökonomisch gedacht“, sagt Schui. „Wie bekommen wir mehr Wachstum? Sicher nicht
durch eine noch krassere Sparpolitik.“ Er wolle niemanden bestrafen, entgegnet Osbild: „Vielmehr sind die entsprechenden Länder an den Kapitalmärkten ihre Staatsanleihen nicht mehr zu vertretbaren Renditen losgeworden.“ Durch konsequenten Schuldenabbau jedoch könnten die Länder im Süden Europas das
Vertrauen der Investoren zurückgewinnen.
Einigkeit im Kampf gegen die kalte Progression
Zumindest auf einen kleinen gemeinsamen Nenner kommen die beiden dann doch noch: Die Bekämpfung der kalten Progression durch einen deutlich höheren Steuerfreibetrag. Doch machen beide auch
deutlich, dass dies – so oder so – nicht der letzte Schritt sein kann.