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     2579  0 Kommentare Alan Greenspan in Deutschland!

    Ein sehr persönlicher Augenzeugenbericht

    Wann hat man schon einmal die Chance, den zweitmächtigsten Mann der Welt mit eigenen Augen ganz aus der Nähe zu betrachten, wie bei Greenspans "Bundesbank Lecture" am gestrigen Abend in Berlin? Ich hatte diese Chance nicht – und trotzdem habe ich sie mit Tatkraft wahrgenommen. Ganz ohne Personenkontrolle komme ich mit meinem Presseausweis durch den Einlass, und nicht nur ich werde nicht durchsucht, niemand wird durchsucht, gecheckt oder durchleuchtet. Sind das Greenspans freie Märkte, die bereits hier wirken?

    Ich treffe ein paar Leute, die ich noch von der Uni her kenne – und mache dann das, was ich bei jedem Popkonzert mache: Ich suche mir einen Platz ganz vorne an der Bühne. Ich bin sehr zeitig dran. In der ersten Reihe liegen auf allen Stühlen Reservierungsschildchen, in der folgenden Reihe auch, doch der zweite Platz von außen ist frei. Ich setzte mich hin. Plötzlich ziehen vorne lauter Fotografen auf und fotografieren ins Publikum hinein. Meinen die etwa auch mich? Ich zurre an meiner Krawatte. Sind die Haare auch richtig gekämmt? Schräg hinter mir sitzt Graf Lambsdorff, und auf einmal kommen auch die ganzen anderen Honoratioren, Amtsbekleider, Strippenzieher und Ehefrauen. Aha, die sind also gemeint. Und ganz vorne wird natürlich Greenspan selbst sitzen.

    Die Frau des Bundesbankpräsidenten erzählt meinem Hintermann, dass sie ihn heute schon drei Mal auf dem Flughafen gesehen hat. Das ist "in", das ist lustig, man ist unter sich und dabei, bei einem großen Ereignis. Der Außenplatz neben mir ist für die Security vorgesehen, erfahre ich. Na bitte, wenigstens keine vollkommene Marktlösung, denke ich erleichtert. Schräg vor mir sitzt Hans Eichel. Neben mir auf dem besagten Platz nimmt ein Amerikaner Platz. Er trägt keine Sonnenbrille, dafür jedoch einen Knopf im Ohr – mit deutlich sichtbarem Spiralkabel, das im Anzug verschwindet.

    Dann geht es los. Greenspan geht aufs Podium, und Hans Eichel setzt den Kopfhörer auf. Was macht Greenspan für einen Eindruck auf mich? Zuerst muss ich an Woody Allen denken, an Groucho Marx, doch Greenspan ist von überzeugender Statur und einnehmendem Wesen. Vom ersten Moment an bin ich völlig fasziniert von der ruhigen und klaren Sprache dieses Mannes. Im Vergleich zu dem, was man hierzulande alles hört, ist Greenspan präzise, inhaltsreich und kommt ohne Scheu auf alle wichtigen Punkte zu sprechen. Er stellt alle relevanten Fragen in einer Klarheit, die mich regelrecht erstaunt. Wie lange werden sich die USA noch so wie bisher im Ausland verschulden können?

    Der Security-Mann neben mir blinzelt zu mir herüber, das bemerke ich in den Augenwinkeln. Der Grund muss mein Teddy-Pullover sein, den ich auf meinen Schoß liegen habe. Meinen Teddy-Pullover habe ich immer dabei, weil mich stets eine neurotische Angst quält, mir könne kalt werden. Das kann der Security-Mann natürlich nicht wissen. Ob er denkt, ich hätte eine Pistole unter meinem Teddy-Pullover? Aber man trägt doch keine Pistole unter einem Teddy-Pullover! Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass ich keine Pistole unter meinem Teddy-Pullover habe, und dass ich den Teddy-Pullover nur dabei habe, weil ich wie Woody Allen ... Aber nein, entscheide ich mich. Das würde mich erst recht verdächtig machen – und vielleicht holt man mich dann heraus und ich kann die Rede nicht zu Ende hören.

    Ich drehe mich daher kurz zur Seite, schaue dem Mann ins Gesicht und lächle. Er lächelt zurück. Die Lage scheint jetzt entspannt. Ich zupfe kurz an meinen Teddy-Pullover, er reagiert nicht, und anschließend setzte mir ebenfalls die Kopfhörer auf. Das aber nur, weil mein Nachbar auf der anderen Seite die deutsche Übersetzung in extremer Lautstärke hört, so dass ich Greenspan gar nicht mehr verstehen kann. Ansprechen kann ich ihn leider nicht, denn er hat die Augen zugemacht und scheint eingeschlafen zu sein.

    Man kann ganz schön etwas erleben, wenn man sich einmal mitten unter die Stützen unserer Gesellschaft mischt, ziehe ich als vorläufige Bilanz. Jetzt wollte ich natürlich noch einiges über Greenspans ökonomische Äußerungen schreiben, die ich sehr interessant fand, doch so wie ich es sehe, habe ich heute wieder einmal wie schon so oft – oder wie eigentlich immer – eine Kolumne ohne klare Kaufs- und Verkaufsempfehlungen geschrieben. Das ist natürlich ärgerlich. Doch sei es drum, dann eben am Freitag an dieser Stelle ganz detailliert Greenspans Position zu den ökonomischen Problemen der Gegenwart.

    berndniquet@t-online.de

    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Alan Greenspan in Deutschland! Ein sehr persönlicher Augenzeugenbericht Wann hat man schon einmal die Chance, den zweitmächtigsten Mann der Welt mit eigenen Augen ganz aus der Nähe zu betrachten, wie bei Greenspans "Bundesbank Lecture" am gestrigen Abend in Berlin? Ich …