Klüger, tiefer, weiter
926
0 Kommentare
Nachruf auf Arnulf Baring - Seite 3
Entsprechend leicht und souverän beherrschte er später auch manche Talkshow. Zuweilen war den angespannten Gesichtern des Moderators oder anderer Diskutanten abzulesen, wie sehr sie darauf brannten, ihn durch eine These oder Frage in Verlegenheit zu bringen. Es gelang nie - der brillante Psychologe wusste wahrscheinlich längst drei verschiedene Antworten, ehe eine einzige Frage ausgesprochen war. Und warum? Weil er das Problem zuvor auch aus den Blickwinkeln seiner Diskussionspartner beäugt hatte. Dabei ließ es der im Grunde höchst konziliante Mann nicht an Prägnanz fehlen, wenn er problematische Entwicklungen erkannte. Frühzeitig wies der Berliner auf die Bedrohung des demokratischen Rechtsstaats durch entstehende Parallelgesellschaften hin und bescheinigte der heute noch immer amtierenden Bundeskanzlerin "charakterlose Beliebigkeit".
2002 - der Bundeskanzler hieß Gerhard Schröder - hatte der Patriot die fortschreitende Erosion beobachtet: "Es festigt sich im Lande die Überzeugung, dass unser Parteiensystem, in welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht die Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet." Die emotionale Bindung der Deutschen zu ihrem eigenen Land sei leider unterentwickelt und hilflose Politiker ließen den Staat verrotten. Mit derlei klaren Worten hat sich der Seismograf für den Zustand der deutschen Demokratie nicht nur Freunde gemacht, gleichwohl sind diese Feststellungen heute gültiger denn je.
Der lohnende Blick in den Osten
Lesen Sie auch
Ideologien, Vorurteile, gar Dämonisierungen, wie sie 74 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches vielerorts wieder an der Tagesordnung sind, waren ihm fremd. Er empfand sie als Denkhindernisse. Empirisch begründete Anschauungen ließ er hingegen gelten und sich erläutern. Denn er lernte gern, blieb immer zugewandt und neugierig. Neugierig auch auf den anderen Teil Deutschlands und den anderen Teil Europas. Er begrüßte die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel, unternahm im Lutherjahr 1983 eine Exkursion in die DDR und musste dabei erleben, dass von den individuell angereisten Studenten einige in Wittenberge an der Elbe landeten - statt in Wittenberg. Aus der Geschichtslektion ergab sich en passant auch eine in Geografie.