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     1153  4 Kommentare Vorsicht vor dem Lungenhering

    Was mir bei allen gegenwärtigen politischen Entscheidungen zur Corona-Öffnung fehlt, ist die große Linie. Die große Linie für die längere Frist. Wie soll es denn nun weitergehen? Auf einen Impfstoff vor Herbst 2021 zu hoffen, wäre sicherlich vermessen. Es sind also 18 Monate, in denen wir ohne weitermachen müssen. Aber wie?

     

    Ich denke, es gibt prinzipiell zwei Wege. Entweder man versucht, das Virus auszurotten, oder man freundet sich mit ihm an. Was bedeutet, ein Großteil der Bevölkerung muss die Infektionen durchmachen.

     

    Für den ersten Weg ist es wohl zu spät. China versucht das anscheinend, doch von dort weiß man ja sowieso nichts Genaues. Der zweite Weg ist daher für uns wohl alternativlos.

     

    Das heißt, wir müssen uns durchwursteln. Die Menschen dürfen nicht komplett abgeschirmt werden, es dürfen aber auch nicht zu viele Infektionen auf einmal kommen. Die Absage von Massenveranstaltungen bis August ist daher sicher richtig, so tragisch das auch immer ist.

     

    Doch jede mögliche Infektion zu verhindern, kann auch nicht das Ziel sein. Im Sommer an den Stränden Plexiglasboxen aufzustellen, wie manche das jetzt vorschlagen, scheint mir daher etwas schräg zu sein.

     

    Infektionen sind aus dieser Sicht also nicht apriori schlecht. Es kommt nur auf die Menge und auf die Wachstumsrate an. Die täglichen Meldungen in den Nachrichten über die aktuellen Infektionen sind deswegen komplette Nullinformationen.

     

    Und unser Weg ist aber wohl noch ziemlich lang. Die große Studie in Österreich hat gerade gezeigt, dass wohl etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung bisher die Infektion durchgemacht hat. Bis zur sogenannten Herdenimmunität ist es daher ungefähr noch so weit wie von der Erde zum Mond.

     

    Und was ist mit der Wirtschaft? Es gibt derzeit eine erstaunliche Differenz zwischen den Panik schürenden Medien und den gut behaupteten Börsenkursen. Wer wird im Endeffekt Recht behalten? Wer hat mehr Ahnung?

     

    Ich rechne durchaus noch mit schweren Zeiten an den Börsen, denn was hier passiert, ist komplett unsicher. Dass Wirtschaftsjournalisten hingegen Poltergeister sind, steht fest. Gerade ist das Handelsblatt mit der Schlagzeile herausgekommen, dass die gegenwärtige Krise dreißig Mal schlimmer werden könne als die Finanzkrise.

     

    Dreißig Mal! Das kommt daher, dass in der Finanzkrise die Weltwirtschaft um 0,1 Prozent geschrumpft ist und die Prognosen für die Coronakrise auf 3 Prozent hindeuten. Da können wir wirklich froh sein, dass wir bei der Finanzkrise kein Nullwachstum hatten, denn ansonsten wäre die jetzige Krise sogar unendlich viel schlimmer.

     

    Völlig deplatziert sind auch alle Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933. Damals ist der Welthandel um fast siebzig Prozent geschrumpft. Siebzig Prozent! Auch der Hinweis, dass die US-Produktion gerade so stark wie seit dem Jahr 1946 nicht geschrumpft ist, führt nicht weiter. Denn damals hatten wir eine endogene Krise und waren gerade aus zwei Weltkriegen herausgekommen.

     

    Heute hingegen machen wir für überschaubare Zeit zu. Es ist eine exogene Krise. So etwas darf man beides nicht miteinander vergleichen. Ob ich Teile der Wirtschaft aus wirtschaftsfernen Gründen schließe oder ob diese durch wirtschaftliche Fehlentwicklungen heruntergefahren werden müssen, ist etwas komplett anderes.

     

    Gleiches gilt für den Unterschied des Niveaus der Arbeitslosigkeit und der Steigerungsrate der Arbeitslosigkeit. Das zu verwechseln passiert allerdings oft, gerade in den Fernsehnachrichten. Da zuckt man dann zusammen, doch in Wirklichkeit liegt die Arbeitslosigkeit nicht bei 20 Prozent wie in der Weltwirtschaftskrise, sondern bei einem Viertel davon. Sie ist jedoch um 20 Prozent gestiegen.

     

    Für die Journalisten, die das nicht unterscheiden können, hier ein kleines Beispiel: Wenn ich gestern ein Bier getrunken habe und heute zwei, dann liegt zwar die Steigerungsrate meines Bierkonsums bei 100 Prozent, was jedoch nicht heißt, dass ich 100 Prozent meiner Nahrung durch Bier zu mir nehme. Das ist etwas anderes. Versuchen Sie es einmal, beide Möglichkeiten durchzutrinken, dann werden Sie den Unterschied bemerken.

     

    Und genauso ist das bei der Wirtschaft und der Coronakrise auch. Man kann sich darüber zwar betrinken, man kann sie aber nicht wegtrinken. Vor allem trinken Sie nie aus einem Steinkrug, denn ansonsten fangen Sie sich vielleicht noch einen Lungenhering von einem Journalisten ein. Was in den heutigen Zeiten gleich doppelt fatal wäre.

     

    berndniquet@t-online.de

     


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Vorsicht vor dem Lungenhering Passen Sie auf und denken Sie selbst!