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     1338  0 Kommentare Nur noch 10 Jahre, dann ist Schluss

    In meiner Zeitung gibt es wunderbare Leserbriefe, die mir manchmal sogar besser gefallen als die Artikel.

    Das liegt vor allem daran, dass die Leser sich nicht an die politische Korrektheit halten müssen und mittlerweile wohl die Leserbrief nicht mehr wie vorher wie in Russland zensiert werden.

     

     

    In diesem Fall ist es sogar ein eigentlich harmloser Leserbeitrag, der jedoch enorm trocken daherkommt, denn da meint jemand, na ja, Deutschland bekleckere sich gegenwärtig nicht gerade mit Ruhm, doch wenn man dann erst einmal merken würde, dass auch die Deutschen keine Lust mehr haben, ihre Staatsanleihen zurückzuzahlen ...

     

    Ups, denke ich in diesem Moment, zu diesem Zeitpunkt ist dann wohl wirklich das Ende der Fahnenstange erreicht. Dann werden die Aktien zwar weiter steigen, doch was ansonsten passiert, weiß keiner. Und dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommt ist klar. Das weiß jeder, der rechnen kann. Wir leben also im Grunde genommen nur von der Tatsache, dass niemand weiß, wann es passiert.

     

    Doch mit unserem Leben ist es ja auch nicht anders. Jeder von uns wird sterben, aber keiner weiß, wann. Und genau deswegen funktioniert es.

     

    Interessanterweise stoße ich mitten in diesen Gedanken auf einen Artikel über das Buch einer Frau, der im Alter von nur knapp über vierzig Parkinson diagnostiziert und mitgeteilt wird, sie habe nur noch etwa zehn Jahre zu leben.

     

    Ich finde dieses Thema interessant. Was macht man dann? Ein Buch schreiben, das habe ich ja schon verraten. Doch wie leben? Die Frau schreibt in dem Artikel, sie sei zu der Erkenntnis gekommen, etwas anderes mit ihrem Leben anfangen zu sollen, als Party zu machen, Drogen zu nehmen und zu verdrängen.

     

    Eine bemerkenswerte Erkenntnisse für einen Menschen über vierzig, finde ich. Das wäre allerdings wohl auch ohne Parkinson angesagt gewesen. Dennoch bleibe ich interessiert.

     

    Als ich dann jedoch in das Buch hineinschaue, sehe ich eine Reise an die andere gereiht. Hm. Die Frau hat anscheinend die Party und die Drogen durch das Reisen ersetzt. Und die Verdrängung durch die Flucht. Das will ich jetzt aber gar nicht mehr wissen, mein Interesse ist erloschen.

     

    Natürlich verstehe ich es, dass man dann, wenn man vielleicht nicht mehr so kann wie vorher, versucht zu beweisen, jetzt erst recht alles schaffen zu können. Doch ist das ein kluger Weg? Ich habe da meine Zweifel.

     

    In das Leserboard schreibe ich daher: „Was ist eigentlich ein erfülltes Leben? In der Welt herumzuturnen oder die innere Einkehr?“ Doch es hat niemand so recht Lust, darauf zu antworten. Nur einer schreibt und meint, es ginge doch beides.

     

    Mich überzeugt das nicht. Für mich ist beides keines. Und ich überlege mir: Was haben die Menschen eigentlich vor dem Flugtourismus gemacht, bevor sie das ganze Jahr um die Welt jetten konnten?

     

    Und wenn das nun mit den Dauerreisen wirklich so klasse und horizonterweiternd ist, warum waren die Menschen dann eigentlich früher so viel gebildeter und lebenskluger? Wie haben Kant und Goethe ihr Leben und Werk hinbekommen ohne die jährliche Weltreise?

     

    Und am Strand haben die beiden auch nicht gelegen, oder? Es gibt jedenfalls keine Fotos davon. Das Leben ist wirklich ein einziges Rätsel.

     

    Vielleicht hätten auch die Mönche mal nach Übersee fliegen sollen und wären dort auf tolle Ideen gekommen?

     

    Aber jetzt ist ja sowieso alles anderes. Bald wird es schließlich Flugtourismus nur noch ohne Flugtourismus geben, weil das mit dem CO2 nicht anders geht. Vielleicht ist es daher auch ohne Parkinson richtig, noch einmal ein paar Jahre voll auf Droge zu sein.

     

    Und wenn dann irgendwann Schluss ist, ist es wenigstens nicht mehr schad drum.

     

     

    Bernd Niquet

     

    berndniquet@t-online.de

     

     


    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Nur noch 10 Jahre, dann ist Schluss Wir leben nur davon, nicht zu wissen, wann der Exitus genau kommt

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