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     3442  0 Kommentare Wie wir alle gesteuert sind

    Anfang letzter Woche habe ich mir eine heftige Erkältung eingefangen. Ein Glück, dachte ich, dass das vor der Ankunft der Vogelgrippe hier passiert ist, denn ansonsten komme ich noch auf die dümmsten Gedanken.

    Am nächsten Tag ruft ein guter Freund an. „Na, wie geht es dir?“ fragt er. „Schlecht“, sage ich, „ich liege mit Grippe im Bett.“ „Ach, du Schreck“, entgegnet er, „hoffentlich keine Vogelgrippe.“

    Ich raffe mich auf und maile dem Redakteur einer Interseite. „Kolumne kommt später, liege mit Grippe im Bett.“ Er antwortet augenzwinkernd: „Sicher Vogelgrippe. Dann bist du der Erste – und kommst damit sogar ins Fernsehen.“

    So geht es weiter die ganze Woche weiter. Nicht ein einziges Mal, dass ich etwas über meine Erkältung sage, ohne den Bezug auf die Vogelgrippe zurück zu bekommen. Das ist natürlich alles scherzhaft und wohl durchaus witzig gemeint, doch spätestens seit Freud wissen wir, dass in jedem Witz verdrängte Angst und Bedrängendes hervorkommt. In jedem Witz schaffen wir uns Erleichterung für unsere Ängste.

    Durch die Medien sind 99 Prozent aller Menschen auf Gleichklang programmiert. Das gilt für das Leben und für die Börse. Niemand von uns ist frei in seinem Denken. Es gibt keine unabhängigen Meinungen mehr. Es gibt kein eigenständiges Denken mehr. Natürlich gibt es viele Menschen, die sich dem Mainstream entgegenstellen. Doch das Fatale daran ist, dass jedes Entgegenstellen gegen etwas zwangsläufig an dieses Etwas angekettet ist. Man kann heute nur noch die Vogelgrippe als Bedrohung sehen oder das Gerede darüber als absurd abtun. Außerhalb dieses Themas stellen kann man sich nicht mehr.

    An der Börse ist das alles noch viel schlimmer. Entweder man findet die Leistungsbilanzdefizite der USA besorgniserregend oder man erfindet etwas, was diese Gefahr relativiert. Doch andere Denkkonzepte gibt es nicht. Es ist alles vorgegeben. Man kann dafür oder dagegen sein, doch man kann das Vorgegebene nicht übersteigen oder ihm ausweichen. Die Welt ist entweder gut oder schlecht. Etwas anderes ist völlig denkunmöglich.

    Es gibt kein unabhängiges Denken, weil wir die vorgegebenen Kategorien nicht mehr los werden. Dass Inflation und Deflation etwas mit der Geldmenge zu tun haben, werden wir nicht mehr los. Es wird Generationen dauern, bis es hier ein neues Denken geben wird. Wir wissen heute nicht zu wenig, sondern viel zu viel. Und wir werden den Schrott nicht mehr los. Das ist das große Problem.

    Der wirklich aufgeklärte Mensch muss nicht viel lernen, sondern viel vergessen. Wer die Dinge verstehen will, muss nicht zuhören, sondern weghören. Der erfolgreiche Mensch der Zukunft besitzt kein Lexikon, sondern eine gut funktionierende Schrottpresse.

    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Wie wir alle gesteuert sind Anfang letzter Woche habe ich mir eine heftige Erkältung eingefangen. Ein Glück, dachte ich, dass das vor der Ankunft der Vogelgrippe hier passiert ist, denn ansonsten komme ich noch auf die dümmsten Gedanken. Am nächsten Tag ruft ein guter …