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     6163  0 Kommentare Ich verstehe gar nichts mehr

    Ich gebe zu, dass ich das Geschehen in der Politik nicht mehr aufmerksam verfolge. Das ist sicherlich ein Fehler, doch meine inneren Widerstände sind einfach zu groß. Zudem weiß ich, dass mein persönliches Schicksal nicht von den politischen Entscheidungen abhängt, sondern von den Entscheidungen, die ich an den Börsen- und Finanzmärkten treffe und noch treffen werde. Damit bin ich einerseits in einer privilegierten Situation, habe andererseits jedoch auch die Arschkarte gezogen. Auf jeden Fall bin ich gesellschaftlich ein Außenseiter. Doch von welcher Position aus könnte man einen besseren Blick auf ein Gemeinwesen werfen als von der Außenposition.

    Am letzten Freitag, so habe ich in der vergangenen Woche gelesen, würden bei der Abstimmung im Bundestag die entscheidenden Weichen für das Schicksal unseres Landes gestellt werden. Die Abstimmung ist positiv ausgegangen, doch bereits am Samstag tauchte ein neues Milliardenloch auf, das es am Sonntag zu stopfen galt. Wie wird es nun weitergehen, in dieser Woche, in der nächsten, im nächsten Monat, im nächsten Jahr? Werden selbst epochale Veränderungen jetzt bereits vor dem Zeitpunkt obsolet sein, in dem sie überhaupt erst in Kraft treten können?

    Was mich mit Sorge erfüllt, ist, dass das alles erst der Anfang ist. Und ich frage mich, wie eine Volkswirtschaft so etwas verkraften soll? Ein heftiger, ein brutaler Schnitt – und hinterher wissen alle, woran sie sind. So funktionieren Sanierungen im Unternehmenssektor. Kapitalherabsetzung um 50 Prozent – und anschließend ist wieder Raum zur Entwicklung. Natürlich ist so etwas auf eine Demokratie nicht übertragbar.

    Wer heute keine ausreichenden Rücklagen fürs Alter gebildet hat, dürfte eigentlich keinen Euro mehr ausgeben. Keine Reisen mehr machen, keine Investitionen in Gebrauchsgüter tätigen, keine nicht unbedingt erforderlichen Konsumausgaben. Denn der öffentliche Sparkurs wird weiterlaufen – zehn Jahre, zwanzig, dreißig, fünfzig. Wie eine Volkswirtschaft das verkraften soll, wenn jegliches rationale Verhalten auf hundertprozentige Kaufzurückhaltung deutet, bleibt mir unerfindlich. Hat es so etwas schon jemals in der Geschichte gegeben? Nein! Wir alle wirken an einem historischen Experiment mit, von dem wir alle wissen, dass es scheitern wird. Es ist halt nur die Frage, wann.

    Die Kriegsgeneration kam aus der Scheiße, und diejenigen, die den Schrecken überlebt hatten, wanderten anschließend in den Wohlstand. Uns hingegen steht der umgekehrte Weg bevor. Aber nein, glauben Sie das bloß nicht, denn das ist doch nur der deutsche Pessimismus, das sind nur die Verklemmungen der deutschen Seele. Doch egal: Momentan sieht der Aktienmarkt noch ganz gut aus. Vielleicht sollte man das ausnutzen. Es könnte das letzte Mal für eine lange Zeit sein.

    berndniquet@t-online.de

    Bernd Niquet macht in dieser Woche Urlaub an der Ostsee, um zu sehen, wie viele Klabautermänner von den Schiffen heutzutage schon abspringen – und meldet sich dann am nächsten Montag wieder an dieser Stelle.

    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
    Ich verstehe gar nichts mehr Ich gebe zu, dass ich das Geschehen in der Politik nicht mehr aufmerksam verfolge. Das ist sicherlich ein Fehler, doch meine inneren Widerstände sind einfach zu groß. Zudem weiß ich, dass mein persönliches Schicksal nicht von den politischen …

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