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     3900  0 Kommentare Kann man von der Börse leben?

    Ein Drahtseilakt

    Gestern ruft mich nach langer Zeit ein guter Bekannter wieder einmal an. Er war früher Vorstand in einer Biotech-Gesellschaft und suchte anschließend Kontakte zu Beteiligungsgesellschaften. Doch so richtig zu finden ist nichts, sagt er jetzt. Das meiste Geld, das er in der letzten Zeit verdient hat, kommt von der Börse.

    Für mich ist das ein weiteres Versatzstückchen eines fast gespenstischen Szenarios. Ich kenne mittlerweile wohl mehr Leute, die von der Börse leben – oder zu leben versuchen – als solche, die einer festen und geregelten Arbeit nachgehen. Und das wohlgemerkt nicht aus dem Kreis der Börsianer, hier wäre eine derartige Behauptung ja nicht mehr als eine Tautologie. Nein, es sind ganz normale Leute, die irgendwo gekündigt haben, herausgefallen sind, ihren Neigungen nachgehen oder sonst etwas anderes machen wollten.

    Es ist also ein knallhartes Zeitphänomen, das es hier zu konstatieren gilt.

    Im Vorreiterland unserer Wirtschafts- und Finanzentwicklung, in den USA, ist in diesem Zusammenhang ganz deutlich zu beobachten, dass die Einkommen aus Vermögensaktivitäten und diejenigen aus Arbeitsentgelten immer weiter auseinander driften. Wir leben als in einer schönen neuen Welt. Alles steigt – und immer mehr können davon leben.

    Es bleiben einzig eine Frage und eine Feststellung: Erstens die Frage: Was passiert, wenn es nicht mehr aufwärts geht? Und zweitens die Feststellung: Wirklicher Reichtum wird nur durch das geschaffen, was von unserer Produktion investiert und nicht konsumiert wird. Wenn wir also mehr herstellen als wir verbrauchen. Durch Höherbewertungen von Vermögen alleine ist noch niemand auf Dauer reich geworden.

    Vermögensaufwertungen können immer nur die Folge einer guten Einkommenssituation sein. Sie können jedoch niemals die Ursache dafür darstellen. In diesem Sinne leben also immer mehr Menschen ganz hoch oben auf dem Drahtseil.


    In der kommenden Woche macht Bernd Niquet Urlaub, so dass seine nächste Kolumne am Montag, den 1. August erscheinen wird.

    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
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