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     3115  0 Kommentare Was heute wirklich glänzt

    Erdbeeren sind besser als Gold

    Es gab einmal eine Zeit, in der es als allgemeine Weisheit galt, dass Gold glänzt. Heute denkt nur noch eine Minderheit so. Und wer sich einmal einen richtigen Goldbarren anschaut, der sieht mit eigenen Augen, dass Gold in Wirklichkeit gar nicht glänzt. Es ist alles also nur ein Mythos.

    Diese Woche habe ich bemerkt, dass es etwas ganz anderes ist, was heute glänzt. Heute glänzen Erdbeeren. Sie glänzen nicht nur, ja sie funkeln richtig. (Ob sie im Dunkeln auch leuchten? Meine Tochter hat sie leider schon alle aufgegessen, doch durch die Bauchdecke ist jedenfalls nichts zu sehen.) Ich schwöre, dass es das früher nicht gab. Früher gab es Erdbeeren nur im Frühsommer – und sie glänzten nicht. Heute gibt es Erdbeeren das ganze Jahr über – und sie glänzen.

    Es hat sich also etwas Gravierendes verändert. Ist das ein Einzelfall oder erkennt man ein Muster dahinter?

    Ich sehe vier dominierende Punkte: Erstens – das Äußere hat heute die volle Dominanz erlangt. Zweitens – das Substanzdenken ist in den Hintergrund getreten. Drittens – die Ökonomisierung des Lebens nimmt immer weiter zu. Und viertens (und damit verbunden) – der Angebotsdruck auf den Märkten ist irrsinnig hoch und führt zum vollkommenem Irrsinn.

    Wir leben in einer Welt des schönen Scheins. Früher haben die Philosophen noch gefragt, was hinter den Erscheinungen steht. Heute hat man noch keine Antwort darauf, doch heute wird nicht einmal mehr die Frage gestellt. Man sieht das sehr gut an den Bewertungsschemen von Unternehmen. Das Substanzwertverfahren ist Geschichte, heute regiert der schöne Schein des Ertragswertverfahrens. Der Unterschied ist hier in etwa der Gleiche wie zwischen Gold und Erdbeeren.

    Erdbeeren sind besser, denn sie glänzen. Es ist egal, wie sie schmecken, denn sie glänzen. Es ist egal, wie sie riechen, denn sie glänzen. Und sie lassen sich gut verkaufen, denn sie glänzen. Finanztechnisch hat die Welt sich also gewandelt wie nie zu vor. Regierte uns früher der Goldstandard, so ist es heute der Erdbeerstandard. Das schmeckt besser, das ist süßer, das gefällt allen. Es ist jedoch keinesfalls etwas für die Ewigkeit.



    Bernd Niquet
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    DER NEUNTE BAND VON "JENSEITS DES GELDES" IST ERSCHIENEN: Bernd Niquet, Jenseits des Geldes, 9. Teil, Leipzig 2023, 648 Seiten, 23,50 Euro

    Leseprobe: "Jenseits des Geldes".

    Eigentlich war ich vollkommen sicher, dass jetzt die Zeit dieser ganzen Auseinandersetzungen hinter mir lag. Deswegen hatte ich auch extra meine Mietrechtschutzversicherung gekündigt. Dann habe ich aber doch einmal in die Betriebskostenabrechnung hineingeschaut und musste unwillkürlich rechnen. 29.220 Euro im Jahr 2018 für die Reinigung der Treppen und Flure, das sind 93 Euro pro Haus pro Woche. Ich würde das jeweils in zehn Minuten schaffen, doch selbst wenn die ungelernte Hilfskraft zwanzig Minuten braucht, sind das 279 Euro Stundenlohn, den die Leiharbeitsfirma dafür einfährt. Wer dabei nicht an Sizilien denkt, kann eigentlich nicht mehr voll bei Verstand sein.

    Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und wohnt immer noch am letzten grünen Zipfel der Failed Stadt Berlin. Die ersten acht Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 sowie 2018, 2019, 2020, 2021 und 2022.

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    Verfasst von Bernd Niquet
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