Die Lehman-Legende
Lehman-Fall ist nicht Ursache der Krise
Was für eine interessante, in der wir augenblicklich leben. Gerade können wir live erleben, wie Geschichtsschreibung abläuft. Und da erkennen wir, dass die Historie keinesfalls eine Aneinanderreihung von Ereignissen darstellt, wie man sich das vielleicht naiverweise vorstellt. Die Geschichte ergibt sich vielmehr aus der rückbezüglichen Konstruktion von Ursachen.
Gerade haben wir den Jahrestag der Lehman Pleite erlebt, und überall in den Medien heißt es jetzt, dass die Lehman Pleite für die Finanzkrise verantwortlich sei. Das klingt zwar durchaus plausibel – und wird daher auch nachfolgende Generationen überzeugen. Doch es stimmt weder mit den Beobachtungen noch mit den Daten überein, die wir aus dieser Zeit besitzen.
Hier wird schon jetzt, noch mitten in den Ereignissen, eine Legende gestrickt, die das komplexe Geschehen auf einen einfachen, plausiblen, aber dennoch falschen Nenner bringt.
Drei Argumente habe ich (vorläufig) gegen die Lehman-Legende vorzubringen:
(1) Der Aktienmarkt, das sensibelste Organ unserer finanziellen Ordnung, nimmt den Lehman-Fall als Nicht-Ereignis auf. Es gibt zwar einen kurzen Kursrutsch, doch am Ende der Woche nach der Lehman-Pleite stehen Dow und Dax wieder annähernd auf dem Niveau vor der Pleite. Der Dow beginnt diese Woche bei 11.416 Punkten und beendet sie mit 11.388. Und auch der Dax schließt mit 6.189 Punkten nur wenige Punkte unterhalb des Niveaus vor der Lehman-Fall. Nach einem schockartigen oder gar einen Schock auslösenden Ereignis klingt das nicht.
(2) Der Interbankenmarkt war auch schon vorher ausgetrocknet. Die Tatsache, dass die Banken sich gegenseitig kein Geld mehr liehen, bestand auch schon lange vor dem Lehmann-Fall. Dieser kann also nicht die Ursache davon sein. Hier nur ein Zitat aus der FAZ aus dem März 2008, kurz nach der erfolgten Rettung des Bankhauses Bear Stearns: „Der Interbankenmarkt, auf dem sich Banken untereinander ohne Stellung von Sicherheiten gegenseitig Geld leihen, ist zum Erliegen gekommen. Die Finanzierung gegen Sicherheiten ist gleichzeitig extrem teuer geworden, weil keine Bank das Risikopotential ihres Nachbarn einschätzen kann. Der Preis der zu stellenden Sicherheiten kann zudem nur schwer ermittelt werden. In zu vielen Segmenten des Kreditmarktes ist der Handel ausgetrocknet.“
(3) Und auch der Run der Sparer auf die Banken passiert nach den Zahlen der Bundesbank-Statistik erst in einem sehr pikanten Moment, nämlich just in der Woche nach (!) der von der Kanzlerin ausgesprochenen Garantie aller Spareinlagen Anfang Oktober 2008. Hier hat also die Prognose „Es kann nichts passieren“ ursächlich in ihren Gegenstandbereich hineingewirkt, so dass dann beinahe exakt das Gegenteil davon passiert ist.
Wir sollten also nicht allzu viel auf die These von der Lehman-Ursache hören. Sie ist eine zu billige Nummer, denn sie klingt danach, als hätte man das alles vermeiden können, wenn man Lehmann gestützt hätte. Nichts könnte jedoch falscher sein. Die Krise hätte so oder so zugeschlagen – mit Lehman und auch ohne. Denn ihre Ursachen lagen im US-Immobilienmarkt begründet und nicht in einer Bankenpleite. Die Bankenpleite ist die Folge der Krise und nicht deren Ursache. Sie hat sicherlich die Krise verschärft, doch das haben unzählige andere Einflussfaktoren auch.