Südkoreas Kapitalismus-Kontroverse
Freie Marktwirtschaft oder Wohlfahrtsstaat? - Seite 2
Kritiker wie Choi fürchten, die Südkoreaner könnten vergessen, was die Ursache für den erstaunlichen Erfolg ihres Landes war. Südkorea war noch Anfang der 60er Jahre eines der ärmsten Länder der Welt, so wie heute die ärmsten afrikanischen Länder. Nach Chois Überzeugung ist der Erfolg Südkoreas – heute die sechsstärkste Exportnation der Welt – vor allem ein Erfolg des Kapitalismus. Choi ist zugleich Präsident der Hayek-Gesellschaft in Südkorea, die mit Publikationen, Veranstaltungen und Youtube-Videos für die freie Marktwirtschaft wirbt.
Die Kritik der südkoreanischen Prokapitalisten richtet sich vor allem gegen das, was aus ihrer Sicht eine Abkehr von kapitalistischen Prinzipien ist. Stark diskutiert wird der Mindestlohn. Bereits 1988 wurde in Korea ein Mindestlohn eingeführt, der jedoch sehr niedrig war. In den vergangenen Jahren ist er drastisch gestiegen. Die Befürchtung der Kritiker: Vor allem kleinere Unternehmen könnten den Mindestlohn nicht mehr zahlen. Nach Berechnungen des Center for Free Enterprise bedeute eine Erhöhung des Mindestlohnes um zehn Prozent einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 0,7 bis 0,8 Prozent.
Manche Kritik mutet freilich aus westeuropäischer Sicht eigenartig an: Das Center for Free Enterprise weist darauf hin, dass die Regierung die Höchstwochenarbeitszeit von 68 Stunden (plus 12 erlaubte Überstunden) auf 52 Wochenstunden reduziert habe. Auf meinen Hinweis, dass die Franzosen nur 35 Stunden die Woche arbeiteten, entgegnen Kritiker dieser Maßnahme, Unternehmern in Korea würden bis zu zwei Jahren Gefängnisstrafe drohen, wenn ihre Mitarbeiter länger arbeiteten, was insbesondere in kleineren Betrieben oft unumgänglich sei.
Auch über die Kernenergie wird kontrovers diskutiert. Deren Anteil lag 1990 noch bei 45 Prozent, heute liegt er bei 23 Prozent. Aber der Präsident Moon dachte auch schon laut über einen Ausstieg nach, was wiederum von seinen Kritikern abgelehnt wird. Viele Kritiker der derzeitigen Regierung sind Anhänger von Park Geun-hye, der Tochter von Park Chung-hee, dem Vater des koreanischen Wirtschaftswunders. Seine Tochter war von 2013 bis 2017 Präsidentin in Südkorea. Sie sitzt heute im Gefängnis, weil sie wegen Korruption verurteilt wurde. Die oppositionellen Kräfte glauben jedoch, dass sie zu Unrecht verurteilt worden sei.