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     1696  0 Kommentare Es hilft den Menschen nicht, wenn sie sich als Opfer sehen - Seite 2

    In einem grundlegenden Werk zum Thema Klassismus von Diana Kendall (Framing Class: Media Representations of Wealth and Poverty) werden Zeitungsberichte kritisiert, in denen der Aufstieg von Menschen aus einfachen Verhältnissen zum Reichtum dargestellt wird. Kendall nennt die Story über Oprah Winfrey als negatives Beispiel. In solchen Geschichten werde die Bedeutung der persönlichen Anstrengung und Denkweise bzw. von Persönlichkeitsmerkmalen für den ökonomischen Erfolg viel zu stark betont. Hiermit, so kritisiert die Autorin, werde der „Mythos des amerikanischen Traums“ perpetuiert. „Angesichts der geringen Chance auf einen solchen Erfolg, führt das Nacheiferungs-Framing vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Realität der 2000er Jahren nicht nur zu unrealistischen Erwartungen. Es bietet den finanziell Bessergestellten gleichzeitig auch eine Rechtfertigung, die Schlechtergestellten zu verspotten.“ Zudem kritisiert sie, wenn in Medienberichten manchmal der Eindruck erweckt werde, Arme seien „teilweise selbst für ihre Notlage verantwortlich“, beispielsweise wenn sie Drogen nähmen oder sich nicht um einen Job bemühten.

    Hinter dieser Kritik steht ein Menschenbild, nach dem Menschen weder für die positiven noch für die negativen Ergebnisse in ihrem Leben verantwortlich sind: Die Berichterstattung über sozialen Aufstieg und Reiche wird kritisiert, weil darin zuweilen der Eindruck erweckt werde, die Persönlichkeit und die individuelle Anstrengung seien ein Grund für den Erfolg; die Berichterstattung über Arme wird kritisiert, weil dort der Eindruck bestärkt werden könnte, manche trügen eine Mitschuld an ihrem Los. Aus Sicht Kendalls und anderer Klassismus-Forscher sind stets das kapitalistische System und „strukturelle“ Ungerechtigkeiten dafür verantwortlich, dass Menschen reich oder arm würden, während die Benennung individueller Ursachen als Versuch gebrandmarkt wird, den Armen selbst die Schuld an ihrem Schicksal zu geben.

    Ray Charles sah sich nie als Opfer

    Ich lese gerade die beeindruckende Autobiografie von Ray Charles, dem „Hohepriester des Soul“, dessen Einfluss stilprägend für die Entwicklung von Rhythm and Blues, Blues, Country und Soul war. Das Magazin „Rolling Stone“ wählte ihn nach Aretha Franklin und vor Elvis Presley auf Platz 2 der 100 besten Sänger aller Zeiten. Ray Charles wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen und ohne Vater auf. Mit sieben Jahren erblindete er. Neun Monate zuvor hatte er mit ansehen müssen, wie sein Bruder ertrank. Rassismus erlebte er täglich. Einmal schwamm er im Meer und seine Freunde riefen aufgeregt, er solle sofort zurückkommen – weil er blind war, hatte er nicht gesehen, dass er die Grenze zwischen dem für Schwarze und dem für Weiße bestimmten Teil überschwommen hatte.


    Rainer Zitelmann
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    Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologe - und zugleich ein erfolgreicher Investor. Er hat zahlreiche Bücher auch zu den Themen Wirtschaft und Finanzen* geschrieben und herausgegeben, viele davon sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. * Werbelink
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    Verfasst von Rainer Zitelmann
    Es hilft den Menschen nicht, wenn sie sich als Opfer sehen - Seite 2 Die Botschaft linker Opfer-Ideologen entmutigt Menschen: „Da deine Lebenssituation aus strukturellen Gründen so ist, wie sie ist, hast du keine Chance, sie zu ändern, bis nicht die Strukturen beseitigt sind.“

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