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    Personenschaden mit laub - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 23.03.02 13:27:56 von
    neuester Beitrag 29.03.02 14:18:40 von
    Beiträge: 6
    ID: 570.266
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      schrieb am 23.03.02 13:27:56
      Beitrag Nr. 1 ()
      Personenschaden ist das Deutsche-Bahn-Wort für Selbstmörder. Wenn jemand seinem Leben ein Ende macht, indem er sich vor einen fahrenden Zug wirft, heißt er in den Lautsprecherdurchsagen der Bahn Personenschaden. Selbstmord - oder besser: Freitod - ist etwas sehr Einsames und Respektables; deshalb ist es mir überhaupt nicht sympathisch, wenn jemand andere in diese höchst persönliche Angelegenheit hineinzieht. Doch bei aller Abneigung gegen Lokführertraumatiseure zuckte ich heftig, als ich im Speisewagen eine laute Männerstimme sagen hörte: "Ja Stunde Verspätung Personalschaden. Da hat schon wieder son Arschloch die Grätsche gemacht." Der Sprecher war ein Kaventsmann um die 50, und er bölkte in sein Telefon. Er saß einen Tisch weiter. Plötzlich fixierte er mich und begann zu brüllen: "Hast du mit Kosslick gesprochön?" Das e sprach er wie ein ö, und er war so laut, dass man seine Rede in Versalien transkribieren müsste: "HAST DU MIT KOSSLICK GESPROCHÖN?" Nein, das sieht viel zu dezent aus, der Kerl brüllte mindestens in gefetteten Versalien: "HAST DU MIT KOSSLICK GESPROCHÖN?"

      An Flucht war nicht zu denken, der Zug pickepacke voll. Ich sammelte mich, und in eine seiner raren Schreipausen sagte ich ernsthaft und leise: "Verschwiegenheit ist für mich kein leeres Wort. Ich habe nicht mit Kosslick gesprochen und mit niemandem sonst. Ich gehe auch nicht bei den Bullen singen. Geheimnisse sterben in meiner Brust. Sie können sich vollkommen auf mich verlassen: Kein Wort zu Kosslick, nicht von mir. Und deshalb duzen Sie mich bitte auch nicht."

      Ich fand das eine sensationell freundliche Art, die grobe akustische Unhöflichkeit zu parieren. Der Mann sah mich an, als sei ich ein Insekt und er eine Fliegenklatsche. Mit einem Gesicht, als wolle er grunzen oder rülpsen, drehte er sich weg und schrie ein Telefon-Du an, ob es mit Kosslick gesprochön habe. Immerhin lagen seine Fettaugen dabei nicht mehr auf mir herum.

      Doch erneut tippte der Humpen in sein Gerät, stierte mich an, als wolle er mich mit Heftzwecken an eine Wand pinnen und fettete abermals auf mich ein. Diesmal hatte er seinen Text variiert: "HAST DU MIT LAUB GESPROCHÖN?", grölte er. Ich dachte an die Touché-Figur von ©TOM, die ständig Bäume umarmt, und sagte leise: "Nein. Ich spreche nicht mit Laub, nicht im Herbst und nicht einmal im Frühjahr, wenn die Kastanienblätter zartgrün hervorlugen wie vorwitzige hübsche Brustspitzen. Ich spreche Pflanzen nicht von der Seite an, und ich telefoniere auch nicht mit ihnen. Auch nicht mit Laub." Ich sprach knapp zimmerlaut - weit unter seiner akustischen Wahrnehmung. Vielleicht hätte ich mit Messer und Gabel in den Mann eindringen können, aber lecker sah er auch nicht aus. Er war aus Vollgummi und toter als jeder Personenschaden, nur leider nicht so still. Ich sagte ihm das, doch weil ich nicht brüllte, hörte er es nicht. Sollte ich aber eines Tages Kosslick treffen oder Laub, sage ich ihnen etwas, das sie noch nicht gehört haben: Trommelfelle heißen Felle, weil man sie streichölln soll.


      Von Wiglaf Droste

      Avatar
      schrieb am 23.03.02 13:51:04
      Beitrag Nr. 2 ()
      Derselbe einen Tag vorher:

      Frühlingslied
      Ich bin ein bisschen durch den Wing
      äh Wind. Mein Kopf ist da im Ding
      im na, wie heißt es? Hose?
      Mein Kopf, mein Dings
      Mein Klingeling
      Ich stotterstammel, nein: ich sing
      den wirren Song, den Hop, den Sing
      Den Wirrsing aus der Dose?

      Ich sage Gark statt Guten Tag
      Mein Popf, nein: Kopf ist weicher Quark
      Was wäre, wenns so bliebe?
      Das wär, ich weiß es,
      viel zu arg.
      Ich wehre mich und bleibe stark
      Ich topf den Kopf um jeden Tag.
      Nutzt gar nichts: Es ist Liebe ...

      Wiglaf Droste
      Avatar
      schrieb am 23.03.02 14:06:05
      Beitrag Nr. 3 ()
      Und vor ewigen Zeiten...

      Wie ich einmal Buddhist war

      Ich traf die beiden in einer Bar in Mitte. Über einen Teller Nudeln gebeugt, hatte ich die Leute beobachtet, die in dem Laden herumhingen: wie sie versuchten, sich zu amüsieren, aber nicht wußten, wie das geht, wie man das macht und was das überhaupt ist. Arme Säue mit halbwegs Geld eben. Die Stadt ist voll davon.

      Also kaute ich und schaute aus dem Fenster - und da sah ich die zwei. Ich winkte, und sie kamen herein. Sie pellten sich aus ihren Mänteln. Wir begrüßten uns herzlich. Dann war es plötzlich still. Es war lange her, daß wir uns gesehen hatten.

      Sie mußte jetzt Ende 30 sein, und sie sah immer noch klasse aus. Ein roter Lockenkopf und kluge blaue Augen in einem Gesicht, das außer viel Verstand auch Mitgefühl verriet. (Und für die Schlichtgestrickten, die ohne Antennen für sowas durchs Leben hindurchmüssen, war auch sonst reichlich zum Gaffen da.) Ich hatte sie bestens in Erinnerung: Mitte der 80er hatte sie bei einer Party in dem besetzten Haus in Kreuzberg, in dem sie wohnte, Schweinsköpfe an die Wände genagelt - jede Menge echte Schweinsköpfe vom Fleischer, um die sogenannten Humor- und Toleranzgrenzen ihres sich selbst als super in Ordnung findenden linken Milieus auszutesten. Knapp gesagt: Sie wollte wissen, was die Leute, die sich ihre Freundinnen, Freunde, Liebhaber, Kommunarden und Genossen nannten, angesichts einer eher kleinen Provokation wohl tun würden und ob sie sauer wären.

      Sie waren. Und wie! Und hatten sich damit - so stand es zumindest für die Provokateuse felsenfest - entlarvt. Was auch stimmte, weil sie verdruckst herumlaberten, was das sollte, und daß das nicht wirklich okay wäre, anstatt so aufzudrehen, wie sie`s gerne getan hätten.

      Mir gefiel die Sache, weil ich den längst unerträglich gesetzt gewordenen Hausbesetzerspießern gerne dabei zusah, wie sie sich in ihrem Herumlawieren blamierten - wenn ich auch nicht leugnen kann, daß die Provokation einiges von der Fadenscheinigkeit der RAF-Nummer hatte, wie irre das Röckchen zu heben und dann, wenn einer den Schwanz hervorholte, "Erwischt! Erwischt! Faschist! Faschist!" zu kreischen - nicht unähnlich übrigens der Masche, mit der auch Henryk M. Broder lange Zeit durchs Land zog: alle antisemitischen Ressentiments vollrohr mobilisieren und bestätigen und dann, wenn endlich ein paar Widerlinge drauf reingefallen waren, triumphierend "Antisemitismus!" jodeln. So billig diese Nummer auch erscheinen mag, so hat sie aber doch ihr Recht: Man kann schließlich aus Leuten nur das herauskitzeln, was in ihnen steckt - es ist nur die Frage, ob es klug und weise und sonderlich beweiskräftig ist, das zu tun.

      Auch der Begleiter meiner alten Freundin war gut in Schuß. Sechs, sieben Jahre zuvor hatte er noch als Kellner in einer Kreuzberger Kneipe die Gäste angeschnorrt, um sich miesen Junk kaufen zu können - jetzt trug er schweren Tweed und war einer der wenigen Männer, denen ein Schnurrbart wirklich gut stand. Mit seinem breiten Lächeln sah er aus wie ein Zigeunerbaron, und er benahm sich auch so: ausladend, ungeniert und fröhlich.

      Meine alte Freundin setzte sich neben mich, ihr Begleiter nahm gegenüber Platz. Er bestellte sich einen Saft. Wenn man ihn so ansah, frisches Gesicht, gut herausgeputzt und den Schalk in den Augen, hatte er sein altes Drogenproblem offensichtlich in den Griff gekriegt und war nicht, wie viele ex-Junkies, nach dem Entzug einfach auf harten Alk umgestiegen. Ich freute mich, für ihn und ganz allgemein; so häufig sind richtig gute Nachrichten ja nicht.

      Wie es denn ginge, fragte ich meine alte Freundin, und sie meinte, na ja, finstere Zeiten, Rechtsruck, immer mehr Arschlöcher unterwegs, dazu die vielen Arbeitslosen. Moment mal, hakte ich ein, wenn ich Nachrichten hören will, kann ich das Radio einschalten. Wir haben uns ewig nicht gesehn, und du erzählst mir lauter Sachen, die ich schon weiß?

      Ihr Begleiter grinste sich eins, sagte aber nichts, und sie fing nochmal an, ätzend sei das, alle wahnsinnig geworden, kuck dir doch die Leute an, nur Scheiße im Kopf, und ich sagte klar, was sonst, aber wie geht es DIR, was hast du gemacht im letzten Jahr, doch nicht zu Hause gesessen und Arbeitslose gezählt, oder?

      Aber sie hörte mich nicht, war schon ganz drin in ihrer Litanei, spulte das Programm ab, ich kannte es gut aus unseren aufgeklärten Kreisen, hätte aus der Erinnerung mitsprechen können, und plötzlich, so gern ich sie hatte, und so sehr es vielleicht ja sogar auch auf irgendeine Weise stimmte, was sie sagte, konnte ich ihren Sing-Sang nicht mehr hören, diesen Brei aus Unpersönlichkeit, allgemeinem Durchgekaue, Restpolitik und Rechthaberei, und weiß der Nesquik, was mich juckte, jedenfalls hörte ich mich auf einmal sagen: Als Buddhist sehe ich das schon etwas anders.

      Ihr Redefluß ebbte ab, verstummte dann völlig; sie fixierte mich mit sich weitenden blauen Augen, in ihrem Kopf arbeitete es, man konnte dabei zusehen, beinahe die Scharniere quietschen, es rattern und knacken hören, und dann hatte sie die Information, die keine war, einsortiert, wußte wieder Bescheid und sagte: Ach so. Du also auch.

      Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, zu lachen und nicht wieder aufzuhören damit. Ich ahnte, was in ihr vorging: 15 Jahre Zugehörigkeit zur deutschen Linken hatten sie nur eines gelehrt: Mit allem zu rechnen, mit jedem Irrsinn, mit jedem Verrat, mit der absoluten Bereitschaft zur Beteiligung an jeder nur denkbaren Schweinerei. Konnte man ihr`s verdenken? Ehemalige Nato-Gegner hetzten junge Leute zur Bundeswehr oder wollten sie als Blauhelme verheizen, Ex-Maoisten machten für die Rechten die Schmutzarbeit, schrieben Bücher über das, was sie, sich anbiedernd, "die Verbrechen der Linken" nannten und wollten ständig mit Nazis reden. Aber daß man mit dem kleinen Wort "Buddhist" die Ich-behalte-den-Durchblick,-egal-was-passiert-Maschine anwerfen konnte, erstaunte mich doch.

      Ich schaffte es, ernst zu bleiben, und mit dem seriösest mir möglichen Blick sagte ich noch einmal: Als Buddhist sehe ich das schon etwas anders. Zum Beispiel die Arbeitslosigkeit: Das ist doch gut. Sieh dich doch mal nur in diesem Laden um: Die Leute haben garantiert alle was zu arbeiten und entsprechend ein bißchen Kohle. Und - hat es ihnen was gebracht? Diesen stumpfen Visagen? Die machen ihren Trott und sind schon jetzt so verblödet wie der Malocher aus dem Bilderbuch des Sozialarbeiters nach 20 Jahren am Band, halten sich dabei aber noch für oberschlau. Die muß man mal aufwecken! Ihnen derartig den Boden unter den Füßen wegziehen, daß er ihnen ins Gesicht haut!

      Ich log, daß mir beinahe der Schweiß ausbrach, und hatte höllischen Spaß dabei. Ich blieb in Fahrt: Wenn du die be-freien willst, mußt du sie frei-setzen! Damit die mal um-denken!

      Nimm zum Beispiel die Leute, die meinen, sie hätten ein Anrecht auf einen sicheren Arbeitsplatz. Wie weit sind sie denn damit gekommen? Jetzt hängen sie in der Ecke, sind fertig, maulen und geben anderen die Schuld an ihrem miesen Leben. Anstatt sich zu freuen, daß endlich mal etwas passiert, das sie aus ihren schlechten Gewohnheiten reißt, meckert die unerleuchtete Bande noch und reißt den Hals auf. Die sind doch nicht mehr zu retten!

      Mit unverhohlenem Ekel und Abscheu sah mich meine alte Freundin an. Du predigst hier den reinen Neo-Liberalismus, zischte sie, und ihre Stimme zitterte vor Wut. Selten hatte mir das Lügen soviel Vergnügen bereitet. Unsinn, gab ich zurück, ich weiß gar nicht, was das sein soll, Neoliberalismus. Aber was Buddhismus ist, das weiß ich: nicht stehenbleiben! Neue Wege gehen! Geistig in Bewegung bleiben! Erkenntnis gewinnen! Raus aus dem Mustopf! Der frühe Vogel fängt den Wurm!

      Ihr Blick war jetzt eher ungläubig; ich mußte zügig nachlegen. Du gehst also zu deinem Job, sagte ich, aber dein Job wurde eingespart, oder jemand anderes hat ihn, und dir sagt man: Tschüs, und kommen Sie nicht wieder. Darüber kann man sich aufregen und rumflennen und womöglich noch einen schmierigen Advokaten auftun und seine Lebenszeit damit verschwenden, Prozesse zu führen, und das alles wegen ein paar Kröten und weil man zu unbeweglich ist, etwas Neues anzufangen. Wie unwürdig! Und verantwortlich dafür sind diese Gewerkschaftstypen - die haben den Leuten seit 100 Jahren erzählt, es ginge um ein paar Mark auf Tasche und um ein Leben wie auf Schienen. Die haben doch die Leute kopfmäßig erledigt, die jetzt arbeitslos sind und sich nicht mal vorstellen können, was sie mit ihrer Zeit überhaupt anfangen könnten!

      Langsam schaffte ich mich richtig rein in die Sache, und je angewiderter mich meine alte Freundin ansah, desto mehr Freude hatte ich; beinahe glaubte ich schon selber an das Zeug, das ich erzählte. Du kannst aber auch, fuhr ich fort, den Spieß umdrehen: Nicht lamentieren und mit dem Finger auf die anderen zeigen, sondern kapieren, daß du selbst einen Fehler gemacht hast und deine Lektion lernen. Wenn also dein Job weg ist, nicht stumpf "Unrecht!" krakeelen oder "Kapitalismus!", sondern dich verbeugen und sagen: Danke für die Befreiung vom Ballast, danke für die Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln. Aber wer macht das schon? Von der Gewerkschaft gehirngewaschen, sind die Leute völlig fixiert auf ihr schäbiges Leben und auf den Schmutz, in dem sie sich eingerichtet haben. Wenn denen überhaupt noch einer helfen kann, dann ein Job-Killer! Und den Job würde ich gerne machen: Leute in die Freiheit entlassen. Ihnen sagen, geh mal spazieren, nimm das Brett vom Kopf, sieh aus dem Fenster und lern was. Entweder gehen die zugrunde, oder sie kommen richtig aus dem Quark, entdecken verschüttete Instinkte, entwickeln neue Energien, die Schiene!

      Ich lächelte selig. Meine alte Freundin stand auf und zahlte. Höflich, aber kalt verabschiedete sie sich, während ihr Begleiter mir neutral zunickte. Ich wußte, was die beiden über mich reden würden, kaum daß sie auf der Straße wären. Der Jagdschein war mir sicher. Das stimmte mich zuversichtlich: Wer Erleuchtung will, muß Opfer bringen.
      Avatar
      schrieb am 23.03.02 14:07:37
      Beitrag Nr. 4 ()
      Ich bin ein Fan
      Avatar
      schrieb am 23.03.02 17:35:16
      Beitrag Nr. 5 ()
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      Avatar
      schrieb am 29.03.02 14:18:40
      Beitrag Nr. 6 ()
      Ein ganz besonderer Besuch auf der Stuttgarter Wielandshöhe.

      Später hätte niemand mehr sagen können, wie es eigentlich dazu kam. Es war ein ganz normaler wundervoller Abend auf der Stuttgarter Wielandshöhe. Alles war perfekt - nicht zu perfekt, nicht abgetötet überperfekt und eben genau deshalb wirklich perfekt.

      Ruhig zogen Kellnerinnen, Kellner und Sommeliers ihre Bahnen, trugen auf oder ab, berieten freundlich, schenkten ein und machten die Menschen froh. Blumen dufteten üppig, der Blick aus den Fenstern war angenehm. Wenn man bedachte, daß es Kehrwochen-Stuttgart war, auf das man sah, war die Aussicht sogar märchenhaft sensationell.

      Die gut geölte Maschine der Wielandshöhe schnurrte ohne hochtourigen Lärm. Patronin Elisabeth Klink segelte mit der Würde eines Viermasters durch das Lokal, in dem alle Stadien der Vorfreude, der Freude und der seligen Sattheit durchmessen werden können - und in dem der Gast sich genau deshalb so ganz besonders aufgehoben fühlt. Die Sinne prickelten freudig, und drei Worte senkten sich in den Geist: Es ist gut.

      Eben wurde der Abend mit Champagner und einer kleinen Tarte eingeschmeckt, als sich urplötzlich der Himmel verdüsterte. Ob die Verstimmung an Cora Stephan lag, die das Lokal betrat und dabei ein Soldatenlied sang? So groß ist das Glück, das die Wielandshöhe bietet, daß ich die Schreckschraube ignorierte - obwohl das schwerfiel, denn die Frau war durchdringend. Oder war auch Hellmuth Karaseks gleichzeitiges Auftauchen verantwortlich für die späteren Ereignisse? Der Feuilletonist strummselte rotköpfig zur Tür herein und hatte noch nicht Platz genommen, als er sämtliche Gäste schon zur Zwangszuhörerschaft verurteilte: »Mein Buch läuft super! Das hab` ich persönlich bei Bouvier abgefragt. In Berlin. Der Hauptstadt. An der Kasse. Jeden Tag.« Letzteres stimmte zwar, machte den Mann und die Sache aber auch nicht erduldbarer.

      Endgültig ausgelöst wurde das Inferno ausgerechnet von Hans Küng. Mit den Worten »Ich bin ein wichtiger Religionsstifter und brauche Platz für drei«, verschaffte sich der resolute Dauerketzer Einlaß; anschließend ging er dazu über, seine Begleiter lückenlos über sein »Projekt Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft« zu informieren. Unter dreimal Welt in einem Titel fing Küng gar nicht erst zu schreiben an.

      Die Folgen waren verheerend. Schon nach zehn Minuten war Küngs Claque am Ende. Doch der Weltethiker kannte keine Gnade und rummelte weiter auf seine Opfer ein, die zu stöhnen, zu jammern und zu flehen anhuben. Küng erbarmte sich ihrer nicht im geringsten.

      All dies sorgte für beträchtliche Unruhe; die Nervenenden der meisten Gäste glätteten sich jedoch, als der Patron die Szene betrat: Vincent Klink, Grundgüte in Person und mit den Sehnsüchten der menschlichen Sinne so vertraut, daß er bislang noch jeden Krakeeler friedlich hatte stimmen können. Doch Hans Küng war ein harter Brocken. Der kritische Superchrist hielt einfach nicht den Schnabel. Auch die köstlichsten Desserts wollten nicht helfen. »Weltethos! That`s me!« orgelte Küng zum wohl hundertsten Mal an diesem Abend. Da tat Klink etwas sehr Seltenes und fuhr aus der Haut. Mit einem Ruck seiner Schultern sprengte er seine großzügig bemessene Kochjacke, deren Knöpfe wie Schrapnells durchs Lokal sirrten. »Heuchelglommse!« stieß der nun barbäuchig gewordene Klink hervor. »Kennst du denn gar kein Mitgefühl, du Silberzunge! Iß endlich! Wer ißt, spricht nicht!« Hans Küng war vom Dauerpredigen taub geworden und traktatete weiter. Das war ein Fehler. Klink gab der Menschheitsgeißel einen katholischen Judaskuß mit Zunge, an dessen Offenherzigkeit Küng erstickte. Doch das war nur der Anfang. Klink war wie entfesselt. Er verschwand in der Küche und kam mit einem Satz japanischer Messer zurück. Der Anblick Joseph Fischers an Tisch 8 zauberte ein bacchantisches Lächeln auf Klinks Gesicht. Er betrachtete den Mann mit dem grauen Gesicht, dem grauen Scheitel und dem grauen Anzug. Neben Fischer saß ein blondgefärbter Mann und sagte treuherzig: »Wenn du jetzt noch deine alten Turnschuhe anhättest, wärst du der beste Politiker der Welt.« Es war Campino von den Toten Hosen. Er war so glücklich, bei Fischer zu sitzen.

      »Ich nehme noch sechs Flaschen Mineralwasser, aber bitte nichts zu essen. Meine Linie, meine Linie!«, jammerte der Außenminister in völliger Verkennung seiner Lage. »Ich stecke noch immer im langen Abfluß zu mir selbst«, grinste er. »Ich möchte doch nur, daß Madeleine Albright mich süß findet!«

      Klink sah ihn ausdruckslos an. »Dein Weg ist hier zu Ende, Hungerharke. Und wenn du Schröder in der Hölle triffst, bestell ihm: Wir schnallen den Gürtel weiter!« Fischer wollte es noch einmal mit »Liebe Freundinnen und Freunde« probieren, aber sein Parteitagstimbre zog hier nicht. Er gab den Löffel ab; sein Bewunderer Campino ging als sein ganz persönlicher Kollateralschaden mit über den Neckar. Auch Klinks Mannschaft, aufgestachelt von den ungewöhnlichen Ereignissen, kam jetzt aus der Hüfte. Sommelier Bernd Kreis sah von einer Sekunde zur anderen unrasiert aus. Barfuß hockte er sich auf einen Stuhl und rieb sich die wehen Zehen. »Amselfelder ist alles, was du von mir kriegst!« rief er Rezzo Schlauch zu, der gerade mit seinen Bodyguards auftauchte, laut und raumgreifend wie immer. Schlauch war ein verheerend schlechter Anwalt, aber er hatte immer auf den richtigen Partys herumgestanden und hatte es deshalb zur Lokalgröße gebracht. Die Begrüßungsworte des Sommeliers irritierten ihn. »Rosenthaler Kadarka kannst du auch noch haben!« rief Kreis und lachte. »Oder direkt aus dem Tetra-Pak saufen!«

      »Aber aber, mein Guter«, drömselte Schlauch und versuchte es auf die joviale Tour. Kreis winkte, Klink schnellte herbei - ein rascher Schnitt, und auch Schlauchs frischer Skalp zierte den Gürtel des Küchenhäuptlings. »Du kommst unters Wiegemesser, du Gewürz!« Klink, ein klassischer Homo ludens auf der Suche nach immer neuen Freuden, wandte sich Jürgen Schrempp zu, der an Tisch 11 mit seiner Kreditkartensammlung herumnervte. Vor Schrempp bibberte das gesamte Schwabenland; wenn der Chef von Mercedes Benz hustete, hatte Württemberg die Grippe. Und das, obwohl man Schrempp schon jetzt ansah, daß er dereinst als Hakle feucht wiedergeboren werden würde. Schrempp legte den Kopf schief, als wäre er Sabine Christiansen. Hatte da jemand »Gewürz« zu ihm gesagt? Oder Gewürm? Der Daimler-Mann versuchte, die Sache tief zu hängen. »Dieser Klink ist ja wohl total auf Linse«, dachte er bei sich. »Der kriegt mich nie.« Schrempp irrte. Und wie. Sogar Herr Häfner, Starkellner der Wielandshöhe, hatte sich stark verändert: Nackt und pelzig strich der sonst so vorbildlich korrekte Mann um weibliche Gäste herum. Deren Entzücken war groß, denn Häfner war hübsch und charmant. Er hatte sich am Körper mit allerlei Salat eingerieben und war »richtig gut drauf«, wie durch den Saal zu singen er nicht müde wurde. Männlichen Konkurrenten stöpselte er mit Cohibastumpen die Nasenlöcher zu. »Alte Schule! Dett ha` ick in England so jelernt«, erläuterte Häfner sein unorthodoxes Vorgehen. Als Hans-Olaf Henkel aufsässig wurde, gab ihm Häfner eine Schelle von hier bis Gütersloh.

      Henkel verstand die Welt nicht mehr. Er hatte auf der Damentoilette versucht, sich einen Schuß Himbeersirup zu setzen, »weil Charlie Parker das auch getan hätte«, wie Henkel beteuerte. Aber sogar für ein bißchen falsches Drücken war der Mann zu dusselig. Trotzdem behauptete er penetrant: »Meine Fackel lodert noch!« Die 0190er-Nummer aber zog überhaupt nicht im Waschraum für Mädels. So sah sich Henkel plötzlich vom gutgelaunten Häfner in die Küche geschubst und ging, wie er gelebt hatte: als Schnippelbohne. Allen Spesenrittern wurde der Garaus gemacht. Am Eingangstor zu den Ewigen Quittungsgründen wurde es in dieser Nacht nicht mehr still. Nur auf der Wielandshöhe kehrte langsam wieder Ruhe ein. Das Menü inmitten des Tohuwabohus beenden zu müssen, schmälerte die Freude nicht im mindesten. Von allen schönen Abenden auf der Wielandshöhe ist mir gerade dieser als einer der allerschönsten erinnerlich.

      Wiglaf Droste


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