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    Der Zorn ist meine Wasserwaage - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 23.10.02 17:46:59 von
    neuester Beitrag 23.10.02 17:58:11 von
    Beiträge: 2
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      schrieb am 23.10.02 17:46:59
      Beitrag Nr. 1 ()
      Wenn die halbe Wahrheit zu einer ganzen Unwahrhaftigkeit wird
      Von Professor Dr. Wolfgang Marx


      Warum immer Israel? So war kürzlich in einer Zürcher Studentinnenzeitung zu
      lesen. Gibt es nicht genügend andere Krisenherde und Schauplätze weit
      schlimmerer Menschenrechtsverletzungen? Warum glaubt jede Deppin (ich
      zitiere wörtlich, weise jedoch darauf hin, daß bei dieser Diffamierung nicht
      nur Frauen gemeint, sondern die Männer immer mit eingeschlossen sind), sie
      müsse sich das Maul zerreißen über das Vorgehen Israels gegenüber den
      Palästinensern? Glückliche Schweiz!

      Als Deutscher kann ich mich nicht so banal aus der Affäre ziehen. Ich kann
      und will da nicht wegschauen; denn Israel geht mich persönlich an, seit ich
      als Siebzehnjähriger den Auftrag bekam, im Geschichtsunterricht einen
      Vortrag über die Konzentrationslager zu halten. (Wer erzählt eigentlich
      immer, dieses Thema sei in deutschen Schulen nicht behandelt worden? - Oder
      war mein Geschichtslehrer der berühmte weiße Elefant?) Beim Studium des
      Materials dazu erfuhr ich einiges über Menschen, das ich bis dahin nicht für
      möglich gehalten hatte. Ich war einige Tage wie im Fieber und danach nicht
      mehr wie davor; denn ich hatte gelernt zu hassen. Seit diesen Tagen habe ich
      das Schicksal Israels mit Anteilnahme und Solidarität verfolgt; und ich habe
      mir geschworen, wo immer Unrecht geschieht, nicht zu schweigen.

      In den Sommerferien desselben Jahres durfte ich allein meine erste
      Auslandsreise ins benachbarte Dänemark machen. An Deck der Fähre zwischen
      Fünen und Seeland geriet ich in eine Gruppe junger Burschen, die aus
      allerlei Ländern Westeuropas aufgebrochen waren, um dasselbe Ziel zu
      erreichen wie ich: das sagenhafte Tivoli in Kopenhagen. Daß ich daneben auch
      noch einen Besuch bei der kleinen Meerjungfrau geplant hatte, mußte ich ja
      nicht jedem auf die Nase binden; und da man englisch sprach, gelang es mir
      ebenfalls zu verbergen, daß ich Deutscher sei, offensichtlich als einziger
      in der Runde. Ich hätte das, nach dem, was ich gerade erfahren hatte und von
      dem ich annahm, die ganze Welt wisse es und könne, wie ich, beim Namen
      Deutschland an nichts anderes denken, um keinen Preis zugeben mögen. Später,
      wieder allein an der Reling, spürte ich Scham über diese Verleugnung, und
      während ich auf den Großen Belt blickte, wußte ich auf einmal, daß ich das
      nie wieder tun würde. Seitdem bin ich Deutscher.

      Als Student hatte ich zu lernen, daß die Welt voller Unrecht ist und daß es
      die Kräfte eines einzelnen bei weitem übersteigt, sich in den zahllosen
      Fällen rückhaltlos emotional zu engagieren. Man verbrennt dabei bei
      lebendiger Seele. Ich begriff, daß nur ein Gott das ganze Elend und Leid der
      Welt auf sich nehmen könnte, und ich begriff auch: Ich bin kein Gott, ich
      werde eines Tages sterben und für immer tot sein. Das kann jedoch nicht
      bedeuten, sich nun achselzuckend einfach aus allem rauszuhalten; denn auch
      wenn niemand für die ganze Welt verantwortlich sein kann, so ist und bleibt
      er es doch für seinen persönlichen Teil davon. Zu meinem Teil gehört auch
      Israel.

      Und die Palästinenser? Zugegeben, ich habe mich in all den Jahren wenig um
      ihre Lage gekümmert. Schließlich waren sie die Feinde Israels und,
      spätestens seit dem Attentat auf die Olympiamannschaft Israels in München,
      auch ein wenig meine Feinde; ich lebte damals nur vier U-Bahn-Stationen vom
      Olympischen Dorf entfernt und war wie alle unsere Nachbarn und Freunde
      schockiert von einem Angriff, den ich auch als Angriff auf mich ganz
      persönlich erlebte. Ich habe damals großen Schmerz empfunden und wieder
      diesen verbrennenden Haß, Haß auf die Männer, die das getan hatten, aber
      auch auf Arafat, der damals zur Symbolfigur des internationalen
      palästinensischen Terrorismus wurde.

      Zunächst hatte ich volles Verständnis für die Reaktion Israels, zu
      versuchen, die Täter aufzuspüren und zu töten. Schließlich hatten sie sich
      auf einen Krieg eingelassen, in dem man, wenn man tötet, auch damit rechnen
      muß, selber getötet zu werden. Was mir jedoch damals nicht klar war und was
      ich noch lange Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, waren die Folgen
      dieser Auseinandersetzung für die palästinensische Zivilbevölkerung.
      Spätestens aber seit sich die Dinge mit dem Ausbruch der zweiten Intifada
      noch zugespitzt haben, vermag ich es nicht länger, mich taub und blind zu
      stellen, wo doch so viele Aussagen vorliegen, so viele Bilder zu sehen sind,
      und das zu einem guten Teil auch von israelischen Journalisten und
      Intellektuellen und sogar selbst von der israelischen Armee. Auch wenn man
      nur die gesicherten Mosaiksteinchen verwenden will, ergeben sie
      zusammengesetzt ein erschreckendes Bild wie hier ein ganzes Volk materiell,
      psychisch und geistig in den Staub gedrückt wird , und das keineswegs erst
      seit den durch nichts zu rechtfertigenden Selbstmordattentaten auf
      israelische Zivilisten. Es ist in hohem Maß unredlich, wenn diese
      Verzweiflungstaten verführter junger Menschen im nachhinein die längst
      vorher begonnenen Repressionen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung
      rechtfertigen sollen und die Fortsetzung und Verschärfung dieser
      Repressionen.

      An dieser Stelle pflegt die Totschlag-Frage gestellt zu werden, die jede
      große Debatte irgendwann hervorbringt. In den sechziger Jahren mußte jeder,
      der über rechtes Demokratieverständnis oder eine faire Gesellschaftsordnung
      diskutieren wollte, damit rechnen, mit einem patzigen "Warum gehst du dann
      nicht nach drüben?" abgeschmettert zu werden. Ich weiß nicht, wie oft mir
      dieser steindumme Satz damals um die Ohren geschlagen worden ist, und immer
      mit dem siegesgewissen Lächeln dessen, der den ultimativen Schachmatt-Zug
      getan hat. Heute lautet diese törichte Frage: "Was würdet ihr denn tun, wenn
      ihr solche Attentate ertragen müßtet?"

      Ich habe kein Problem damit, diese Frage ausführlich zu beantworten.

      Als erstes würde ich den Palästinensern genügend Wasser geben, auf daß sie
      ihre elementaren hygienischen Bedürfnisse befriedigen könnten.

      Ich würde aufhören, ihre Wohnhäuser, ihre Olivenhaine und Mandelbäume zu
      zerstören.

      Ich würde sie nicht länger in Sippenhaft nehmen und sie wie Delinquenten
      tage-, gar wochenlang in ihren Wohnungen einsperren.

      Ich würde es ihnen nicht länger unmöglich machen, ihren Lebensunterhalt zu
      verdienen, ihre Jugend auszubilden und Kranke und Schwangere rechtzeitig und
      ausreichend medizinisch zu versorgen.

      Ich würde nicht zulassen, Menschen, die mit wie guten Gründen auch immer
      verdächtigt werden, einfach umzubringen, und das noch auf eine Weise, daß
      zahlreiche Unbeteiligte mit in den Tod gerissen oder schwer verletzt werden.

      Ich würde die völkerrechtlich illegalen jüdischen Siedlungen in den
      besetzten Gebieten räumen und den Palästinensern endlich ihr Land, ihre
      Selbstbestimmung und ihre Würde wiedergeben.

      Ich beende diese Liste, die sicher noch erweitert werden könnte, wohl
      wissend, daß keine Hoffnung besteht, daß auch nur ein Punkt verwirklicht
      werden kann, jedenfalls nicht, solange ein Ariel Scharon in Israel das Sagen
      hat.

      Und nun muß ich am Ende auch noch auf ihn zu sprechen kommen, und das heißt
      wieder auf meine Gefühle. Im Fall Scharon ist es der Zorn, und ich schäme
      mich dessen nicht; denn der Zorn ist, im Gegensatz zur profanen und
      selbstsüchtigen Wut, ein heiliges Gefühl. Der Zorn will nichts für sich
      selbst, er flammt auf im Namen der Gerechtigkeit. Er ist so etwas wie eine
      Wasserwaage, die uns untrüglich anzeigt, daß etwas nicht gerade ist. Als ich
      in der Tagesschau der ARD Herrn Scharon mit dem Lächeln der Mona Lisa seiner
      Armee gratulieren sah, endlich einen lange verfolgten Palästinenserführer
      getötet zu haben, und er dabei kein Wort des Entsetzens, ja nicht einmal des
      Bedauerns finden konnte, daß bei dieser Aktion vierzehn unbeteiligte
      Personen ebenfalls getötet und mehr als hundert verletzt wurden (darunter
      Frauen und Kinder), da spürte ich wieder dieses schmerzhafte Brennen; und
      mir wurde in diesem Augenblick bewußt, daß ein toter Palästinenser für
      Scharon nicht der Rede wert ist.

      Diese Einschätzung bestätigte sich nur wenig später durch jenes denkwürdige
      Interview, das er Michel Friedman für die Sendung "Streitgespräch" in
      Jerusalem gegeben hat. Er erwähnte dort die Zahl der Opfer unter der
      israelischen Zivilbevölkerung; daß die israelische Armee im gleichen
      Zeitraum eine etwa dreifache Zahl Palästinenser umgebracht hat, wurde mit
      keinem Wort erwähnt. So kann eine halbe Wahrheit zu einer ganzen
      Unwahrhaftigkeit werden.

      Dieses Gespräch war auch in manch anderer Hinsicht dekuvrierend. Nachdem
      Scharon salbungsvoll von schmerzlichen Kompromissen gesprochen hatte, die
      beide Seiten hinzunehmen bereit sein müßten, lag die Nachfrage, an welche
      Kompromisse er, Scharon, denn für sich selber gedacht habe, sehr nahe. Daß
      einer wie Friedman sie stellen würde, ja stellen müßte, war mir sofort klar.
      Unvergeßlich die Reaktion Scharons. Der bis dahin durchaus beredte Mann
      stockte einen Moment, um dann von etwas anderem zu sprechen. Ich bin
      Friedman für seine (manchmal ja auch nervende) Penetranz dankbar, die Frage
      unbeirrt wiederholt zu haben. Mit demselben Ergebnis: Herr Scharon hat keine
      Kompromisse im Sinn, also kann er dazu auch nichts sagen. Er erwähnte vage,
      schließlich habe man einen Krieg gewonnen, da habe man es nicht nötig zu
      verhandeln. Als er dann auch noch mit ein wenig Rührung in der Stimme
      (jedenfalls kam es mir so vor) von Samaria und Judäa als der Wiege des
      jüdischen Volkes sprach, mußte dem letzten klarwerden, was die Ziele von
      Ariel Scharon sind: das besetzte Land endgültig zu annektieren und - wenn
      irgendwie möglich - die Palästinenser da hinauszubringen.

      Dazu kommt ihm die Intifada durchaus gelegen, weshalb der Verdacht, er habe
      sie mit seinem provokativen Besuch auf dem Tempelberg bewußt ausgelöst,
      nicht ganz abwegig erscheint. Derzeit hat er jedenfalls Vorwände genug, um
      immer wieder militärisch in Palästinensergebiet vorzudringen und bei jeder
      dieser Gelegenheiten hier ein paar weitere Wohnhäuser, da ein paar
      Olivenhaine oder Felder zu zerstören und das Land nach und nach unbewohnbar
      zu machen wie den Mond. Die Wirkung auf die Menschen in Gaza und im
      Westjordanland bleibt nicht aus. Schon versuchen erste Familien, sich über
      die Grenze nach Jordanien in Sicherheit zu bringen und, wenn es eine
      Perspektive für sie gäbe, wären es sicher bald mehr. Scharon hätte nichts
      dagegen, wenn sie freiwillig gingen, wäre aber notfalls bereit, auch
      weiterhin ein wenig nachzuhelfen.

      So schmerzlich es ist, alle diese Dinge müssen einmal gesagt werden, und sie
      müssen gesagt werden dürfen, ohne daß der Überbringer der schlechten
      Botschaft beschimpft und verleumdet wird. Um das mit den Worten eines alten
      Freundes aus der Mommsenstraße in Charlottenburg auszudrücken: "Ein Scharon
      kann mich doch nicht zu einem Antisemiten machen." Dankbar für diese
      Formulierungshilfe, möchte ich noch hinzufügen: "Und nicht meine
      grundsätzliche Solidarität mit Israel in Frage stellen." Dennoch könnte ich
      derzeit nicht an Sympathiekundgebungen für Israel teilnehmen, bei denen
      Schilder hochgehalten werden, auf denen zu lesen ist: "Scharon, wir lieben
      dich."

      Wie anders die Reaktionen hierzulande, wo ein Sigi Feigel, Ehrenpräsident
      der Israelitischen Cultusgemeinde, in einem Brief an die "Neue Zürcher
      Zeitung", nach deutlichen Worten der Kritik an der Politik Scharons und
      Worten des Erbarmens mit dem Elend der Palästinenser, das israelische Volk
      auffordert, eine "Regierung der perspektivlosen Vergeltungsgewalt"
      abzuwählen. Glückliche Schweiz, muß man abermals seufzen; aber sollte es
      nicht auch in der deutschen jüdischen Gemeinde ein paar aufrechte Menschen
      geben? Ich möchte sie ermutigen, sich auch zu äußern, wohl wissend, wie
      schwer das ist.

      ***

      Der Verfasser lehrt allgemeine Psychologie an der Universität Zürich.

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2002, Nr. 218 / Seite 8
      Avatar
      schrieb am 23.10.02 17:58:11
      Beitrag Nr. 2 ()
      Brav, aber leider dennoch: Schwanengesänge!
      mfg
      Hendrix


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      Der Zorn ist meine Wasserwaage