Der Zorn ist meine Wasserwaage - 500 Beiträge pro Seite
eröffnet am 23.10.02 17:46:59 von
neuester Beitrag 23.10.02 17:58:11 von
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Wenn die halbe Wahrheit zu einer ganzen Unwahrhaftigkeit wird
Von Professor Dr. Wolfgang Marx
Warum immer Israel? So war kürzlich in einer Zürcher Studentinnenzeitung zu
lesen. Gibt es nicht genügend andere Krisenherde und Schauplätze weit
schlimmerer Menschenrechtsverletzungen? Warum glaubt jede Deppin (ich
zitiere wörtlich, weise jedoch darauf hin, daß bei dieser Diffamierung nicht
nur Frauen gemeint, sondern die Männer immer mit eingeschlossen sind), sie
müsse sich das Maul zerreißen über das Vorgehen Israels gegenüber den
Palästinensern? Glückliche Schweiz!
Als Deutscher kann ich mich nicht so banal aus der Affäre ziehen. Ich kann
und will da nicht wegschauen; denn Israel geht mich persönlich an, seit ich
als Siebzehnjähriger den Auftrag bekam, im Geschichtsunterricht einen
Vortrag über die Konzentrationslager zu halten. (Wer erzählt eigentlich
immer, dieses Thema sei in deutschen Schulen nicht behandelt worden? - Oder
war mein Geschichtslehrer der berühmte weiße Elefant?) Beim Studium des
Materials dazu erfuhr ich einiges über Menschen, das ich bis dahin nicht für
möglich gehalten hatte. Ich war einige Tage wie im Fieber und danach nicht
mehr wie davor; denn ich hatte gelernt zu hassen. Seit diesen Tagen habe ich
das Schicksal Israels mit Anteilnahme und Solidarität verfolgt; und ich habe
mir geschworen, wo immer Unrecht geschieht, nicht zu schweigen.
In den Sommerferien desselben Jahres durfte ich allein meine erste
Auslandsreise ins benachbarte Dänemark machen. An Deck der Fähre zwischen
Fünen und Seeland geriet ich in eine Gruppe junger Burschen, die aus
allerlei Ländern Westeuropas aufgebrochen waren, um dasselbe Ziel zu
erreichen wie ich: das sagenhafte Tivoli in Kopenhagen. Daß ich daneben auch
noch einen Besuch bei der kleinen Meerjungfrau geplant hatte, mußte ich ja
nicht jedem auf die Nase binden; und da man englisch sprach, gelang es mir
ebenfalls zu verbergen, daß ich Deutscher sei, offensichtlich als einziger
in der Runde. Ich hätte das, nach dem, was ich gerade erfahren hatte und von
dem ich annahm, die ganze Welt wisse es und könne, wie ich, beim Namen
Deutschland an nichts anderes denken, um keinen Preis zugeben mögen. Später,
wieder allein an der Reling, spürte ich Scham über diese Verleugnung, und
während ich auf den Großen Belt blickte, wußte ich auf einmal, daß ich das
nie wieder tun würde. Seitdem bin ich Deutscher.
Als Student hatte ich zu lernen, daß die Welt voller Unrecht ist und daß es
die Kräfte eines einzelnen bei weitem übersteigt, sich in den zahllosen
Fällen rückhaltlos emotional zu engagieren. Man verbrennt dabei bei
lebendiger Seele. Ich begriff, daß nur ein Gott das ganze Elend und Leid der
Welt auf sich nehmen könnte, und ich begriff auch: Ich bin kein Gott, ich
werde eines Tages sterben und für immer tot sein. Das kann jedoch nicht
bedeuten, sich nun achselzuckend einfach aus allem rauszuhalten; denn auch
wenn niemand für die ganze Welt verantwortlich sein kann, so ist und bleibt
er es doch für seinen persönlichen Teil davon. Zu meinem Teil gehört auch
Israel.
Und die Palästinenser? Zugegeben, ich habe mich in all den Jahren wenig um
ihre Lage gekümmert. Schließlich waren sie die Feinde Israels und,
spätestens seit dem Attentat auf die Olympiamannschaft Israels in München,
auch ein wenig meine Feinde; ich lebte damals nur vier U-Bahn-Stationen vom
Olympischen Dorf entfernt und war wie alle unsere Nachbarn und Freunde
schockiert von einem Angriff, den ich auch als Angriff auf mich ganz
persönlich erlebte. Ich habe damals großen Schmerz empfunden und wieder
diesen verbrennenden Haß, Haß auf die Männer, die das getan hatten, aber
auch auf Arafat, der damals zur Symbolfigur des internationalen
palästinensischen Terrorismus wurde.
Zunächst hatte ich volles Verständnis für die Reaktion Israels, zu
versuchen, die Täter aufzuspüren und zu töten. Schließlich hatten sie sich
auf einen Krieg eingelassen, in dem man, wenn man tötet, auch damit rechnen
muß, selber getötet zu werden. Was mir jedoch damals nicht klar war und was
ich noch lange Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, waren die Folgen
dieser Auseinandersetzung für die palästinensische Zivilbevölkerung.
Spätestens aber seit sich die Dinge mit dem Ausbruch der zweiten Intifada
noch zugespitzt haben, vermag ich es nicht länger, mich taub und blind zu
stellen, wo doch so viele Aussagen vorliegen, so viele Bilder zu sehen sind,
und das zu einem guten Teil auch von israelischen Journalisten und
Intellektuellen und sogar selbst von der israelischen Armee. Auch wenn man
nur die gesicherten Mosaiksteinchen verwenden will, ergeben sie
zusammengesetzt ein erschreckendes Bild wie hier ein ganzes Volk materiell,
psychisch und geistig in den Staub gedrückt wird , und das keineswegs erst
seit den durch nichts zu rechtfertigenden Selbstmordattentaten auf
israelische Zivilisten. Es ist in hohem Maß unredlich, wenn diese
Verzweiflungstaten verführter junger Menschen im nachhinein die längst
vorher begonnenen Repressionen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung
rechtfertigen sollen und die Fortsetzung und Verschärfung dieser
Repressionen.
An dieser Stelle pflegt die Totschlag-Frage gestellt zu werden, die jede
große Debatte irgendwann hervorbringt. In den sechziger Jahren mußte jeder,
der über rechtes Demokratieverständnis oder eine faire Gesellschaftsordnung
diskutieren wollte, damit rechnen, mit einem patzigen "Warum gehst du dann
nicht nach drüben?" abgeschmettert zu werden. Ich weiß nicht, wie oft mir
dieser steindumme Satz damals um die Ohren geschlagen worden ist, und immer
mit dem siegesgewissen Lächeln dessen, der den ultimativen Schachmatt-Zug
getan hat. Heute lautet diese törichte Frage: "Was würdet ihr denn tun, wenn
ihr solche Attentate ertragen müßtet?"
Ich habe kein Problem damit, diese Frage ausführlich zu beantworten.
Als erstes würde ich den Palästinensern genügend Wasser geben, auf daß sie
ihre elementaren hygienischen Bedürfnisse befriedigen könnten.
Ich würde aufhören, ihre Wohnhäuser, ihre Olivenhaine und Mandelbäume zu
zerstören.
Ich würde sie nicht länger in Sippenhaft nehmen und sie wie Delinquenten
tage-, gar wochenlang in ihren Wohnungen einsperren.
Ich würde es ihnen nicht länger unmöglich machen, ihren Lebensunterhalt zu
verdienen, ihre Jugend auszubilden und Kranke und Schwangere rechtzeitig und
ausreichend medizinisch zu versorgen.
Ich würde nicht zulassen, Menschen, die mit wie guten Gründen auch immer
verdächtigt werden, einfach umzubringen, und das noch auf eine Weise, daß
zahlreiche Unbeteiligte mit in den Tod gerissen oder schwer verletzt werden.
Ich würde die völkerrechtlich illegalen jüdischen Siedlungen in den
besetzten Gebieten räumen und den Palästinensern endlich ihr Land, ihre
Selbstbestimmung und ihre Würde wiedergeben.
Ich beende diese Liste, die sicher noch erweitert werden könnte, wohl
wissend, daß keine Hoffnung besteht, daß auch nur ein Punkt verwirklicht
werden kann, jedenfalls nicht, solange ein Ariel Scharon in Israel das Sagen
hat.
Und nun muß ich am Ende auch noch auf ihn zu sprechen kommen, und das heißt
wieder auf meine Gefühle. Im Fall Scharon ist es der Zorn, und ich schäme
mich dessen nicht; denn der Zorn ist, im Gegensatz zur profanen und
selbstsüchtigen Wut, ein heiliges Gefühl. Der Zorn will nichts für sich
selbst, er flammt auf im Namen der Gerechtigkeit. Er ist so etwas wie eine
Wasserwaage, die uns untrüglich anzeigt, daß etwas nicht gerade ist. Als ich
in der Tagesschau der ARD Herrn Scharon mit dem Lächeln der Mona Lisa seiner
Armee gratulieren sah, endlich einen lange verfolgten Palästinenserführer
getötet zu haben, und er dabei kein Wort des Entsetzens, ja nicht einmal des
Bedauerns finden konnte, daß bei dieser Aktion vierzehn unbeteiligte
Personen ebenfalls getötet und mehr als hundert verletzt wurden (darunter
Frauen und Kinder), da spürte ich wieder dieses schmerzhafte Brennen; und
mir wurde in diesem Augenblick bewußt, daß ein toter Palästinenser für
Scharon nicht der Rede wert ist.
Diese Einschätzung bestätigte sich nur wenig später durch jenes denkwürdige
Interview, das er Michel Friedman für die Sendung "Streitgespräch" in
Jerusalem gegeben hat. Er erwähnte dort die Zahl der Opfer unter der
israelischen Zivilbevölkerung; daß die israelische Armee im gleichen
Zeitraum eine etwa dreifache Zahl Palästinenser umgebracht hat, wurde mit
keinem Wort erwähnt. So kann eine halbe Wahrheit zu einer ganzen
Unwahrhaftigkeit werden.
Dieses Gespräch war auch in manch anderer Hinsicht dekuvrierend. Nachdem
Scharon salbungsvoll von schmerzlichen Kompromissen gesprochen hatte, die
beide Seiten hinzunehmen bereit sein müßten, lag die Nachfrage, an welche
Kompromisse er, Scharon, denn für sich selber gedacht habe, sehr nahe. Daß
einer wie Friedman sie stellen würde, ja stellen müßte, war mir sofort klar.
Unvergeßlich die Reaktion Scharons. Der bis dahin durchaus beredte Mann
stockte einen Moment, um dann von etwas anderem zu sprechen. Ich bin
Friedman für seine (manchmal ja auch nervende) Penetranz dankbar, die Frage
unbeirrt wiederholt zu haben. Mit demselben Ergebnis: Herr Scharon hat keine
Kompromisse im Sinn, also kann er dazu auch nichts sagen. Er erwähnte vage,
schließlich habe man einen Krieg gewonnen, da habe man es nicht nötig zu
verhandeln. Als er dann auch noch mit ein wenig Rührung in der Stimme
(jedenfalls kam es mir so vor) von Samaria und Judäa als der Wiege des
jüdischen Volkes sprach, mußte dem letzten klarwerden, was die Ziele von
Ariel Scharon sind: das besetzte Land endgültig zu annektieren und - wenn
irgendwie möglich - die Palästinenser da hinauszubringen.
Dazu kommt ihm die Intifada durchaus gelegen, weshalb der Verdacht, er habe
sie mit seinem provokativen Besuch auf dem Tempelberg bewußt ausgelöst,
nicht ganz abwegig erscheint. Derzeit hat er jedenfalls Vorwände genug, um
immer wieder militärisch in Palästinensergebiet vorzudringen und bei jeder
dieser Gelegenheiten hier ein paar weitere Wohnhäuser, da ein paar
Olivenhaine oder Felder zu zerstören und das Land nach und nach unbewohnbar
zu machen wie den Mond. Die Wirkung auf die Menschen in Gaza und im
Westjordanland bleibt nicht aus. Schon versuchen erste Familien, sich über
die Grenze nach Jordanien in Sicherheit zu bringen und, wenn es eine
Perspektive für sie gäbe, wären es sicher bald mehr. Scharon hätte nichts
dagegen, wenn sie freiwillig gingen, wäre aber notfalls bereit, auch
weiterhin ein wenig nachzuhelfen.
So schmerzlich es ist, alle diese Dinge müssen einmal gesagt werden, und sie
müssen gesagt werden dürfen, ohne daß der Überbringer der schlechten
Botschaft beschimpft und verleumdet wird. Um das mit den Worten eines alten
Freundes aus der Mommsenstraße in Charlottenburg auszudrücken: "Ein Scharon
kann mich doch nicht zu einem Antisemiten machen." Dankbar für diese
Formulierungshilfe, möchte ich noch hinzufügen: "Und nicht meine
grundsätzliche Solidarität mit Israel in Frage stellen." Dennoch könnte ich
derzeit nicht an Sympathiekundgebungen für Israel teilnehmen, bei denen
Schilder hochgehalten werden, auf denen zu lesen ist: "Scharon, wir lieben
dich."
Wie anders die Reaktionen hierzulande, wo ein Sigi Feigel, Ehrenpräsident
der Israelitischen Cultusgemeinde, in einem Brief an die "Neue Zürcher
Zeitung", nach deutlichen Worten der Kritik an der Politik Scharons und
Worten des Erbarmens mit dem Elend der Palästinenser, das israelische Volk
auffordert, eine "Regierung der perspektivlosen Vergeltungsgewalt"
abzuwählen. Glückliche Schweiz, muß man abermals seufzen; aber sollte es
nicht auch in der deutschen jüdischen Gemeinde ein paar aufrechte Menschen
geben? Ich möchte sie ermutigen, sich auch zu äußern, wohl wissend, wie
schwer das ist.
***
Der Verfasser lehrt allgemeine Psychologie an der Universität Zürich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2002, Nr. 218 / Seite 8
Von Professor Dr. Wolfgang Marx
Warum immer Israel? So war kürzlich in einer Zürcher Studentinnenzeitung zu
lesen. Gibt es nicht genügend andere Krisenherde und Schauplätze weit
schlimmerer Menschenrechtsverletzungen? Warum glaubt jede Deppin (ich
zitiere wörtlich, weise jedoch darauf hin, daß bei dieser Diffamierung nicht
nur Frauen gemeint, sondern die Männer immer mit eingeschlossen sind), sie
müsse sich das Maul zerreißen über das Vorgehen Israels gegenüber den
Palästinensern? Glückliche Schweiz!
Als Deutscher kann ich mich nicht so banal aus der Affäre ziehen. Ich kann
und will da nicht wegschauen; denn Israel geht mich persönlich an, seit ich
als Siebzehnjähriger den Auftrag bekam, im Geschichtsunterricht einen
Vortrag über die Konzentrationslager zu halten. (Wer erzählt eigentlich
immer, dieses Thema sei in deutschen Schulen nicht behandelt worden? - Oder
war mein Geschichtslehrer der berühmte weiße Elefant?) Beim Studium des
Materials dazu erfuhr ich einiges über Menschen, das ich bis dahin nicht für
möglich gehalten hatte. Ich war einige Tage wie im Fieber und danach nicht
mehr wie davor; denn ich hatte gelernt zu hassen. Seit diesen Tagen habe ich
das Schicksal Israels mit Anteilnahme und Solidarität verfolgt; und ich habe
mir geschworen, wo immer Unrecht geschieht, nicht zu schweigen.
In den Sommerferien desselben Jahres durfte ich allein meine erste
Auslandsreise ins benachbarte Dänemark machen. An Deck der Fähre zwischen
Fünen und Seeland geriet ich in eine Gruppe junger Burschen, die aus
allerlei Ländern Westeuropas aufgebrochen waren, um dasselbe Ziel zu
erreichen wie ich: das sagenhafte Tivoli in Kopenhagen. Daß ich daneben auch
noch einen Besuch bei der kleinen Meerjungfrau geplant hatte, mußte ich ja
nicht jedem auf die Nase binden; und da man englisch sprach, gelang es mir
ebenfalls zu verbergen, daß ich Deutscher sei, offensichtlich als einziger
in der Runde. Ich hätte das, nach dem, was ich gerade erfahren hatte und von
dem ich annahm, die ganze Welt wisse es und könne, wie ich, beim Namen
Deutschland an nichts anderes denken, um keinen Preis zugeben mögen. Später,
wieder allein an der Reling, spürte ich Scham über diese Verleugnung, und
während ich auf den Großen Belt blickte, wußte ich auf einmal, daß ich das
nie wieder tun würde. Seitdem bin ich Deutscher.
Als Student hatte ich zu lernen, daß die Welt voller Unrecht ist und daß es
die Kräfte eines einzelnen bei weitem übersteigt, sich in den zahllosen
Fällen rückhaltlos emotional zu engagieren. Man verbrennt dabei bei
lebendiger Seele. Ich begriff, daß nur ein Gott das ganze Elend und Leid der
Welt auf sich nehmen könnte, und ich begriff auch: Ich bin kein Gott, ich
werde eines Tages sterben und für immer tot sein. Das kann jedoch nicht
bedeuten, sich nun achselzuckend einfach aus allem rauszuhalten; denn auch
wenn niemand für die ganze Welt verantwortlich sein kann, so ist und bleibt
er es doch für seinen persönlichen Teil davon. Zu meinem Teil gehört auch
Israel.
Und die Palästinenser? Zugegeben, ich habe mich in all den Jahren wenig um
ihre Lage gekümmert. Schließlich waren sie die Feinde Israels und,
spätestens seit dem Attentat auf die Olympiamannschaft Israels in München,
auch ein wenig meine Feinde; ich lebte damals nur vier U-Bahn-Stationen vom
Olympischen Dorf entfernt und war wie alle unsere Nachbarn und Freunde
schockiert von einem Angriff, den ich auch als Angriff auf mich ganz
persönlich erlebte. Ich habe damals großen Schmerz empfunden und wieder
diesen verbrennenden Haß, Haß auf die Männer, die das getan hatten, aber
auch auf Arafat, der damals zur Symbolfigur des internationalen
palästinensischen Terrorismus wurde.
Zunächst hatte ich volles Verständnis für die Reaktion Israels, zu
versuchen, die Täter aufzuspüren und zu töten. Schließlich hatten sie sich
auf einen Krieg eingelassen, in dem man, wenn man tötet, auch damit rechnen
muß, selber getötet zu werden. Was mir jedoch damals nicht klar war und was
ich noch lange Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, waren die Folgen
dieser Auseinandersetzung für die palästinensische Zivilbevölkerung.
Spätestens aber seit sich die Dinge mit dem Ausbruch der zweiten Intifada
noch zugespitzt haben, vermag ich es nicht länger, mich taub und blind zu
stellen, wo doch so viele Aussagen vorliegen, so viele Bilder zu sehen sind,
und das zu einem guten Teil auch von israelischen Journalisten und
Intellektuellen und sogar selbst von der israelischen Armee. Auch wenn man
nur die gesicherten Mosaiksteinchen verwenden will, ergeben sie
zusammengesetzt ein erschreckendes Bild wie hier ein ganzes Volk materiell,
psychisch und geistig in den Staub gedrückt wird , und das keineswegs erst
seit den durch nichts zu rechtfertigenden Selbstmordattentaten auf
israelische Zivilisten. Es ist in hohem Maß unredlich, wenn diese
Verzweiflungstaten verführter junger Menschen im nachhinein die längst
vorher begonnenen Repressionen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung
rechtfertigen sollen und die Fortsetzung und Verschärfung dieser
Repressionen.
An dieser Stelle pflegt die Totschlag-Frage gestellt zu werden, die jede
große Debatte irgendwann hervorbringt. In den sechziger Jahren mußte jeder,
der über rechtes Demokratieverständnis oder eine faire Gesellschaftsordnung
diskutieren wollte, damit rechnen, mit einem patzigen "Warum gehst du dann
nicht nach drüben?" abgeschmettert zu werden. Ich weiß nicht, wie oft mir
dieser steindumme Satz damals um die Ohren geschlagen worden ist, und immer
mit dem siegesgewissen Lächeln dessen, der den ultimativen Schachmatt-Zug
getan hat. Heute lautet diese törichte Frage: "Was würdet ihr denn tun, wenn
ihr solche Attentate ertragen müßtet?"
Ich habe kein Problem damit, diese Frage ausführlich zu beantworten.
Als erstes würde ich den Palästinensern genügend Wasser geben, auf daß sie
ihre elementaren hygienischen Bedürfnisse befriedigen könnten.
Ich würde aufhören, ihre Wohnhäuser, ihre Olivenhaine und Mandelbäume zu
zerstören.
Ich würde sie nicht länger in Sippenhaft nehmen und sie wie Delinquenten
tage-, gar wochenlang in ihren Wohnungen einsperren.
Ich würde es ihnen nicht länger unmöglich machen, ihren Lebensunterhalt zu
verdienen, ihre Jugend auszubilden und Kranke und Schwangere rechtzeitig und
ausreichend medizinisch zu versorgen.
Ich würde nicht zulassen, Menschen, die mit wie guten Gründen auch immer
verdächtigt werden, einfach umzubringen, und das noch auf eine Weise, daß
zahlreiche Unbeteiligte mit in den Tod gerissen oder schwer verletzt werden.
Ich würde die völkerrechtlich illegalen jüdischen Siedlungen in den
besetzten Gebieten räumen und den Palästinensern endlich ihr Land, ihre
Selbstbestimmung und ihre Würde wiedergeben.
Ich beende diese Liste, die sicher noch erweitert werden könnte, wohl
wissend, daß keine Hoffnung besteht, daß auch nur ein Punkt verwirklicht
werden kann, jedenfalls nicht, solange ein Ariel Scharon in Israel das Sagen
hat.
Und nun muß ich am Ende auch noch auf ihn zu sprechen kommen, und das heißt
wieder auf meine Gefühle. Im Fall Scharon ist es der Zorn, und ich schäme
mich dessen nicht; denn der Zorn ist, im Gegensatz zur profanen und
selbstsüchtigen Wut, ein heiliges Gefühl. Der Zorn will nichts für sich
selbst, er flammt auf im Namen der Gerechtigkeit. Er ist so etwas wie eine
Wasserwaage, die uns untrüglich anzeigt, daß etwas nicht gerade ist. Als ich
in der Tagesschau der ARD Herrn Scharon mit dem Lächeln der Mona Lisa seiner
Armee gratulieren sah, endlich einen lange verfolgten Palästinenserführer
getötet zu haben, und er dabei kein Wort des Entsetzens, ja nicht einmal des
Bedauerns finden konnte, daß bei dieser Aktion vierzehn unbeteiligte
Personen ebenfalls getötet und mehr als hundert verletzt wurden (darunter
Frauen und Kinder), da spürte ich wieder dieses schmerzhafte Brennen; und
mir wurde in diesem Augenblick bewußt, daß ein toter Palästinenser für
Scharon nicht der Rede wert ist.
Diese Einschätzung bestätigte sich nur wenig später durch jenes denkwürdige
Interview, das er Michel Friedman für die Sendung "Streitgespräch" in
Jerusalem gegeben hat. Er erwähnte dort die Zahl der Opfer unter der
israelischen Zivilbevölkerung; daß die israelische Armee im gleichen
Zeitraum eine etwa dreifache Zahl Palästinenser umgebracht hat, wurde mit
keinem Wort erwähnt. So kann eine halbe Wahrheit zu einer ganzen
Unwahrhaftigkeit werden.
Dieses Gespräch war auch in manch anderer Hinsicht dekuvrierend. Nachdem
Scharon salbungsvoll von schmerzlichen Kompromissen gesprochen hatte, die
beide Seiten hinzunehmen bereit sein müßten, lag die Nachfrage, an welche
Kompromisse er, Scharon, denn für sich selber gedacht habe, sehr nahe. Daß
einer wie Friedman sie stellen würde, ja stellen müßte, war mir sofort klar.
Unvergeßlich die Reaktion Scharons. Der bis dahin durchaus beredte Mann
stockte einen Moment, um dann von etwas anderem zu sprechen. Ich bin
Friedman für seine (manchmal ja auch nervende) Penetranz dankbar, die Frage
unbeirrt wiederholt zu haben. Mit demselben Ergebnis: Herr Scharon hat keine
Kompromisse im Sinn, also kann er dazu auch nichts sagen. Er erwähnte vage,
schließlich habe man einen Krieg gewonnen, da habe man es nicht nötig zu
verhandeln. Als er dann auch noch mit ein wenig Rührung in der Stimme
(jedenfalls kam es mir so vor) von Samaria und Judäa als der Wiege des
jüdischen Volkes sprach, mußte dem letzten klarwerden, was die Ziele von
Ariel Scharon sind: das besetzte Land endgültig zu annektieren und - wenn
irgendwie möglich - die Palästinenser da hinauszubringen.
Dazu kommt ihm die Intifada durchaus gelegen, weshalb der Verdacht, er habe
sie mit seinem provokativen Besuch auf dem Tempelberg bewußt ausgelöst,
nicht ganz abwegig erscheint. Derzeit hat er jedenfalls Vorwände genug, um
immer wieder militärisch in Palästinensergebiet vorzudringen und bei jeder
dieser Gelegenheiten hier ein paar weitere Wohnhäuser, da ein paar
Olivenhaine oder Felder zu zerstören und das Land nach und nach unbewohnbar
zu machen wie den Mond. Die Wirkung auf die Menschen in Gaza und im
Westjordanland bleibt nicht aus. Schon versuchen erste Familien, sich über
die Grenze nach Jordanien in Sicherheit zu bringen und, wenn es eine
Perspektive für sie gäbe, wären es sicher bald mehr. Scharon hätte nichts
dagegen, wenn sie freiwillig gingen, wäre aber notfalls bereit, auch
weiterhin ein wenig nachzuhelfen.
So schmerzlich es ist, alle diese Dinge müssen einmal gesagt werden, und sie
müssen gesagt werden dürfen, ohne daß der Überbringer der schlechten
Botschaft beschimpft und verleumdet wird. Um das mit den Worten eines alten
Freundes aus der Mommsenstraße in Charlottenburg auszudrücken: "Ein Scharon
kann mich doch nicht zu einem Antisemiten machen." Dankbar für diese
Formulierungshilfe, möchte ich noch hinzufügen: "Und nicht meine
grundsätzliche Solidarität mit Israel in Frage stellen." Dennoch könnte ich
derzeit nicht an Sympathiekundgebungen für Israel teilnehmen, bei denen
Schilder hochgehalten werden, auf denen zu lesen ist: "Scharon, wir lieben
dich."
Wie anders die Reaktionen hierzulande, wo ein Sigi Feigel, Ehrenpräsident
der Israelitischen Cultusgemeinde, in einem Brief an die "Neue Zürcher
Zeitung", nach deutlichen Worten der Kritik an der Politik Scharons und
Worten des Erbarmens mit dem Elend der Palästinenser, das israelische Volk
auffordert, eine "Regierung der perspektivlosen Vergeltungsgewalt"
abzuwählen. Glückliche Schweiz, muß man abermals seufzen; aber sollte es
nicht auch in der deutschen jüdischen Gemeinde ein paar aufrechte Menschen
geben? Ich möchte sie ermutigen, sich auch zu äußern, wohl wissend, wie
schwer das ist.
***
Der Verfasser lehrt allgemeine Psychologie an der Universität Zürich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2002, Nr. 218 / Seite 8
Brav, aber leider dennoch: Schwanengesänge!
mfg
Hendrix
mfg
Hendrix
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