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    Walser ermordet Reich-Ranicki - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 28.05.02 19:45:00 von
    neuester Beitrag 27.08.02 16:12:25 von
    Beiträge: 204
    ID: 592.097
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      schrieb am 28.05.02 19:45:00
      Beitrag Nr. 1 ()
      Walser, der Erfinder des Begriffs von der "Moralkeule" hat einen Roman geschrieben, bei der er seinen Mordphantasien gegenüber RR freien Lauf läßt.
      Die FAZ lehnte den Vorabdruck wegen antisemitischer Klischees ab.
      Es werde das bekannte Klische verwendet, der ewige Jude sei unsterblich. Da staunt man aber und lernt wieder was dazu.
      Offensichtlich sind wir noch lange nicht durch.

      aus: Spiegel online von heute
      --------------------------------------------
      LITERATUR-SKANDAL

      Martin Walsers Mord-Phantasie

      Heimlich hat Martin Walser einen neuen Schlüsselroman geschrieben, der im Sommer veröffentlicht werden soll. Die Hauptfigur ist ein Literaturkritiker, offensichtlich Marcel Reich-Ranicki, der einem gekränkten Autor zum Opfer fällt. Die "FAZ" lehnte einen Vorabdruck wegen "antisemitischer Klischees" ab. Das Buch, so schreibt Faz-Herausgeber Frank Schirrmacher in einem offenen Brief, sei ein "Dokument des Hasses".

      Das Buch wird im Sommer beim Frankfurter Suhrkamp Verlag erscheinen und den Titel "Tod eines Kritikers" tragen. Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ("FAZ")in ihrer am Mittwoch erscheinenden Ausgabe berichtet, geht es in dem "Schlüsselroman über den deutschen Literaturbetrieb" ganz offen um eine Abrechnung Walsers, 75, mit dem "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki, 81. Ein jüdischer Starkritiker namens André Ehrl-König fällt einem vermeintlichen Mord zum Opfer. Der Täter ist ein von ihm verrissener und gekränkter Schriftsteller.
      Die "FAZ" lehnte das Angebot Walsers, das Buch im Feuilleton des Blattes vorab zu veröffentlichen, in einem offenen Brief an den Autor ab: Der Roman sei "ein Dokument des Hasses" und eine "Mordphantasie", die mit dem "Repertoire antisemitischer Klischees" spiele, schreibt Herausgeber Frank Schirrmacher.
      DPA

      Überlebte die Nazi-Verfolgung: Kritiker Reich-Ranicki


      Der populäre, wenn auch streitbare Kritiker Reich-Ranicki überlebte den Holocaust der Nationalsozialisten im Warschauer Ghetto zusammen mit seiner Frau. "Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird?", schreibt Schirrmacher: "Verstehen Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?"

      Antisemitismus-Vorwürfe gegen Martin Walser wurden erstmals 1998 laut: Anlässlich seiner Ehrung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hielt Walser eine Rede, in der er die "Instrumentalisierung von Auschwitz" kritisierte und die ständige öffentliche Thematisierung des Holocausts als "Moralkeule" monierte, die letztlich den gegenteiligen Effekt erziele. Der dadurch ausgelöste Proteststurm wurde angeführt vom damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, der Walser unter anderem "geistige Brandstiftung" und "latenten Antisemitismus" vorwarf. Nach wochenlangen Debatten in den Feuilletons legten die Kontrahenten ihren Streit jedoch bei. Bubis nahm den Vorwurf des "geistigen Brandstifters" zurück, Walser verteidigte allerdings die Unmissverständlichkeit seiner Rede.
      Avatar
      schrieb am 28.05.02 22:24:26
      Beitrag Nr. 2 ()
      als ich geschrieben habe, Walser sei antisemit, haben Musiker und Xylo mich angegriffen. Nun bestätigt sich doch Alles!
      Avatar
      schrieb am 28.05.02 22:37:39
      Beitrag Nr. 3 ()
      Die Frage ist, ob es sich erneut um eine absurde Antisemtismus-Diskussion handelt oder ob an den Vorwürfen etwas dran.
      Vielleicht spielt Walser nur mit diesen Vorstellungen oder es ist ein besonderer Marketing-Trick. Möglicherweise befinden wir uns jetzt in einer Situation, in der ein Tabu-Bruch für die gewünschte Aufmerksamkeit für ein Buch erzeugt.

      Ich bin auf diese Debatte gespannt.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 10:50:36
      Beitrag Nr. 4 ()
      Martin Walsers Mord-Phantasie
      :laugh: :laugh: :laugh:
      Sind also Agatha Christie, Henning Mankell
      und alle Krimiautoren lüsterne Perverse!
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 11:03:34
      Beitrag Nr. 5 ()
      @genya:

      Ein Autor (Walser) hegt Mordphantasien gegen den bekanntesten (und brutalsten) Literaturkritiker Deutschlands. Letzterer ist (zufällig) Jude.
      Was ist daran antisemitisch? Greift Walser in seinem Buch den Kritiker oder den Juden RR an?

      Die Rede von Walser damals fand ich übrigens sehr gut. Da ist doch mit aller Gewalt versucht worden, etwas hinein zu interpretieren, was nie drin war. Walser wurde in der Folge regelrecht kaputt gemacht. Bis heute demonstrieren bei jedem seiner Auftritte linke Gruppen gegen den "Nazi" Walser. Das hat der Mann nicht verdient.

      Und das, liebe(r) genya, sage ich als bekennender Unterstützer Israels im Krieg gegen den Terror. Und als ausgewiesener Fan von RR, den ich auch schon mal "live" bei einem Vortrag erleben durfte.

      Lass mal die Kirche im Dorf.

      P.S.: Möglicherweise liege ich aber falsch, da das Buch noch nicht veröffentlicht wurde. Werde nachher mal in der FAZ genauer nachlesen.

      @menacher: So schnell kann auch Walser kein Buch schreiben. Hat mit der aktuellen Debatte sicherlich nichts zu tun.
      Die Reaktion auf das Buch allerdings dürfte schon etwas damit zu tun haben.

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      schrieb am 29.05.02 11:12:45
      Beitrag Nr. 6 ()
      Da hat der Müll-eman dem Walser glatt die Show gestohhlen :D
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 11:30:14
      Beitrag Nr. 7 ()
      Das wird lustig werden. Vor allem wirbelt es nun alle Fronten durcheinander.

      Spielt dem tief gekränkten Walser nun ein unkontrolliert agierendes Unterbewußtsein einen Streich ?

      SEP
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 11:39:05
      Beitrag Nr. 8 ()
      "Heimlich hat Martin Walser einen neuen Schlüsselroman geschrieben..."
      Klar, es mußte ganz kleinheimlich, im Duklen, im Trüben, in einer bräunlichen
      Dunkelheit passieren... Welcher Mörder ruft schon vorab sein
      Opfer an oder kündigt den Mord öffentlich an? So ist es halt
      mit den Mördern :laugh:
      Im übrigen bin ich ein Fan von RR und wette, dass er dem Buch mit viel Humor
      begegnen wird im wohltuenden Gegensatz zu der stocksteifen deutschen Presse.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 11:42:58
      Beitrag Nr. 9 ()
      @SEP:

      Ich möchte nicht wissen, wie viele deutsche Autoren Mordgelüste gegen RR haben, weil er mal eins ihrer Bücher verrissen hat. Sind deswegen aber bestimmt nicht Antisemiten.

      Es dürfte ganz generell eine Frage des guten Geschmacks sein, ob man in einem Buch, wenn auch verbrämt, den Mord an einem noch lebenden, bekannten Zeitgenossen darstellt, Jude oder nicht Jude. Vor allem vor dem Hintergrund der Vita von RR, der als Kind bzw. Jugendlicher nur knapp der Ermordung entgangen ist.
      Also: Geschmacklos möglicherweise. Deswegen aber noch lange nicht antisemitisch.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 11:48:57
      Beitrag Nr. 10 ()
      Das alle Leichen bei "Derrick" Christen waren , hab ich schon immer gewusst :laugh: ein toter Jude wäre auch mit sicherheit der Beleg für "Antisemitismus" im ZDF gewesen.

      Martin Walser wird sich "köstlich amüsieren" das die "Zensur" jetzt jüdische Mordopfer verbieten will, zumindest wenn der Täter nicht nachweislich ein extrem überzeichneter Alt- oder Neonazi ist.

      Es darf in der Literatur also keine gehässigen Menschen
      jüdischen Glaubens oder Herkunft mehr geben, der Part des unsympathischen bleibt wohl "den Deutschen" vorbhalten, am besten mit Pickelhaube und Monokel oder einer Hakenkreutbinde am Arm.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 12:00:21
      Beitrag Nr. 11 ()
      Walser:
      In Deutschland wird fortlaufend alles nach Antisemitismus abgeklopft. Warum eigentlich? Wegen Holocaust? - wegen der Cleverness der Juden die ihr "Geschäft" schon immer gut verstanden haben? Es ist zum k...!
      In anderen Ländern leben die Juden auch nicht in einem sterielen Umfeld und müssen sich Kritik gefallen lassen, wenn sie über das Ziel schießen.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 12:15:25
      Beitrag Nr. 12 ()
      Das alles erinnert an einen schiefen Song von Georg Kreisler: "Der Kritiker". Der Song endete mit ähnlichen Phantasien.

      Ich kann mir denken, warum die FAZ, gerade zu diesem Zeitpunkt, den Schwanz einkneift. Auch "literarische" Mordszenarien entwickeln eine Phantasie, die "nicht ohne" ist. Und geschmacklos ist es sicher, dies gegenüber einem noch Lebenden in Gang zu setzen.

      Sicherlich steht Walser es frei, ein derartiges Werk zu schreiben, wenn es ihn denn drängt.

      Sicherlich steht es der FAZ zu, Walser zu bitten, sich dafür eine andere Plattform für die Veröffentlichung zu suchen.

      Ich glaube, die FAZ hat garkeine Alternative, als sich ablehnend zu verhalten, wenn sie vermeiden will, nicht von falscher Seite vereinnahmt zu werden. Und man kann ganz sicher sein, daß es eine ganze Menge falscher Seiten gewesen wären, die hierbei die FAZ für ihre jeweilige Sicht "angeführt hätten"

      Ich gebe auch Menacher Recht, der erwartet, dies werde RR juxen.

      Irgendwie habe ich den Eindruck, daß bei Walser durch die Behandlung seiner damaligen Rede etwas angekickt wurde, und er sucht nun auf diese Weise einen Weg der Erkenntnis für sich, der für uns alle schmerzhaft werden könnte.

      In einem Maischberger/ Walser- Interview hatte diese den Walser indirekt auf den kurze Zeit darauf erfolgten Tod von Bubis angesprochen und in ein paar Nebensätzen da einen Zusammenhang in den Raum gestellt.

      Man konnte es deutlich spüren, wie sehr Walser dieser Vorhalt traf.

      Ich glaube, es hat ihn etwas aus der Bahn geworfen, das er nun nicht loslassen kann. Hoffentlich bleibt ihm ein Luftraum aus ihm heraus übrig, der ihn uns erhält.


      SEP
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 13:00:28
      Beitrag Nr. 13 ()
      @Sep
      sehe ich in fast allen Punkten genauso.
      Walser ist, und das kann ich nach genauer Analyse der Walser-Bubis-Debatte nachfühlen, durch das öffentliche Echo nach der Paulskirchen-Rede geknickt und leidet bis heute darunter.
      Vielleicht überdreht er in seinem neuen Roman. Leider können wir uns zu diesem Zeitpunkt - anders als Schirrmacher - kein eigenes Urteil bilden.


      nur eine Frage:

      Die FAZ hat schon Walsers letzten Roman "Lebenslauf der Liebe" abgedruckt, was mich vor einem Jahr sehr gefreut hat, denn ich habe es im Vorabdruck gelesen.
      Die FAZ ist nicht verpflichtet, jedes Buch von Walser vorabzudrucken.
      Warum betreibt die FAZ jetzt "Politik" und veröffentlicht die Gründe für die Ablehnung in einem "offenen Brief" gerade jetzt in der noch durch die Karsli-Möllemann-Friedman-Affäre sehr emotionalisierten allgemeinen Antisemitismus-Debatte?
      Warum wartet man nicht einfach etwas ab, druckt ein anderes Buch und ist erst mal ruhig?
      Schließlich kann ich als normaler Leser z.Z. nicht nachprüfen - da das Buch noch nicht erschienen ist - ob sich das Buch tatsächlich so liest, wie Schirrmacher es gelesen hat oder lesen wollte. Man ist hier zunächst unmündig und auf das autoritäre Urteil der FAZ angewiesen - eine Situation, die die FAZ hätte verhindern können.

      Ich bin also enttäuscht von dem Brief von Frank Schirrmacher, denn an einigen Stellen wird er sehr unsachlich und extrem bevormundend, was den Schreibstil des Autors anbelangt.
      Das ist man von ihm so nicht gewohnt.

      z.B. schreibt Schirrmacher
      "wenn "André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust", dann ist Ihr "darunter" besonders hervorhebenswert, als wäre die große Mehrheit der europäischen Juden eben nicht Opfer gewesen."
      Daß in diesem Satz die Verwendung von "darunter" in dieser Art angegriffen wird, geht mir eindeutig zu weit.
      Es finden sich weitere Beispiele in dem Brief (s.u.)
      Heftig besonders am Ende, wenn er gegen Walser sagt: "Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage."




      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2002, Nr. 122 / Seite 49
      Lieber Martin Walser, Ihr Buch werden wir nicht drucken

      Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z.

      Lieber Herr Walser,

      Ihr neuer Roman wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Nur ein kleiner Zirkel von Eingeweihten kannte bisher den Inhalt. Mittlerweile kenne auch ich ihn. Nicht weil Rechercheure die Panzerschränke im Suhrkamp-Haus geknackt hätten. Sie selbst haben uns, unspektakulär genug, die Fahnen gegeben. Sie wünschen, daß Ihr neuer Roman, "Tod eines Kritikers", in dieser Zeitung vorabgedruckt wird. Sie legen Wert darauf, daß er hier und gerade hier erscheint.

      Ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Roman nicht in dieser Zeitung erscheinen wird. Die Kritiker mögen entscheiden, wie gut oder wie schlecht dieses Buch unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ist. "Auch ein schlechter Walser ist ein Ereignis", sagte einmal ein bekannter Redakteur.

      Ihr Roman ist eine Exekution. Eine Abrechnung - lassen wir das Versteckspiel mit den fiktiven Namen gleich von Anfang an beiseite! - mit Marcel Reich-Ranicki. Es geht um die Ermordung des Starkritikers. Ein Schriftsteller wird als Täter verdächtigt. Ein anderer, der Erzähler, recherchiert. Später erfährt man, daß beide ein und diesselbe Person sind. Am Ende die Aufklärung: Der Kritiker ist nicht tot, er hat nur tot gespielt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen. Dazwischen eine Art Gesamtanalyse des Starkritikers, des literarischen Lebens unter Aufbietung halbverschlüsselter Figuren wie Joachim Kaiser und Siegfried Unseld. In Wahrheit aber: die Beschreibung eines Verhängnisses, das sich in André Ehrl-König alias Marcel Reich-Ranicki über die Literatur in Deutschland legt.

      Ehe Sie, lieber Herr Walser, mit den Begriffen Fiktion, Rollenprosa, Perspektivwechsel antworten - ich bin durchaus im Bilde. Ich bin imstande, das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden. Man hat mich unterrichtet, wie oft und wo überall in der modernen Literatur Kritiker gemordet werden.

      Doch die Burgtore des Normativen, der literarischen Tradition und Technik stehen Ihnen als Zuflucht nicht offen. Denn das alles wären ja nur Kategorien für ein "schlechtes" oder "gutes" Buch. Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses. Und ich weiß nicht, was ich befremdlicher finden soll: die Zwanghaftigkeit, mit der Sie Ihr Thema durchführen, oder den Versuch, den sogenannten Tabubruch als Travestie und Komödie zu tarnen. Nicht wahr, Sie haben das "Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent" nur wörtlich genommen?

      Werden Sie mir glauben, daß ich umgekehrt nun beginne, Sie wörtlich zu nehmen? Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie. Daß der Mord keiner ist, macht die wonnevolle Spekulation unangreifbar. "Habe allerdings keinen, der für mich tötet", sagt der Erzähler beispielsweise einmal. Und mehr als einmal fällt der Satz: "Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." Sie haben sich eine Art mechanisches Theater aufgebaut, in dem es möglich ist, den Mord auszukosten, ohne ihn zu begehen. Doch es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker, wie es etwa bei Tom Stoppard geschieht. Es geht um den Mord an einem Juden.

      Die Signale sind unübersehbar, und sie sind unheimlich. "Das Thema war jetzt", heißt es, "daß Hans Lach einen Juden getötet hatte." Das kommt so nebenbei, aber es ist Ihr Thema, es ist das Thema dieses Buches. Sie denken sich die Sache so richtig durch. Was würde das große Nachrichtenmagazin schreiben? "Wolfgang Leder erklärte scharf und genau, daß es von nichts als Antisemitismus zeuge, wenn die Ermordung eines Juden, wenn er denn einer gewesen sei, moralisch schlimmer geahndet werde als die Ermordung eines Nichtjuden. Philosemiten seien eben, wie bekannt, Antisemiten, die die Juden liebten." Wie kamen Sie auf die Idee, Ihren Verdächtigen dadurch besonders verdächtig zu machen, daß der in höchster Wut dem Starkritiker in Hitler-Sprache droht, "ab 0.00 Uhr wird zurückgeschlagen", worauf der Kritiker tatsächlich wie vom Erdboden verschwindet. Welch ein Spaß, wenn man erfährt, daß diese Kriegserklärung an den Kritiker von einem Unschuldigen stammt! Natürlich kann Ihr Kritikerpapst nicht richtig Deutsch. Ihr Reich-Ranicki sagt nicht "deutsch" sondern "doitsch", nicht Literatur, sondern "Literatür", und er hat einen kapitalen Messiaskomplex: "Aber in einer Hinsicht sei jeder, der sich im keritischen Dienst verzehre, in der Nachfolge des Nazareners: der habe gelitten für die Sünden der Menschheit, der Keritiker leidet unter den Sünden der Schschscheriftstellerrr." Sie, lieber Martin Walser, wissen, was Sie hier tun. Und wer es literarhistorisch nicht weiß, lese die Parodien des Juden Karl Kraus auf den Juden Alfred Kerr.

      Die "Herabsetzungslust", die "Verneinungskraft", das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar, und wenn "André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust", dann ist Ihr "darunter" besonders hervorhebenswert, als wäre die große Mehrheit der europäischen Juden eben nicht Opfer gewesen. Das sind so Kleinigkeiten, die mich stutzig machen und hinter denen ich schließlich zu meiner eigenen Überraschung Methode vermute. Gut, Ihr Kritiker hat einen Sprachfehler, und er trainiert sogar seine sprachliche Eigenheit. Und dann, weil Sie glauben, Sie seien nun salviert, schreiben Sie diesen Satz, den man im Schriftbild vor sich sehen muß, um die Verballhornung des Jiddischen heraushören zu können: "Denken Sie nur an den Ehrl-König-Sound, wenn er über doitsche Scheriftsteller spericht und über die Sperache, die sie schereiben und wie scherecklich es ist, sein Leben geweiht zu haben einer Literatür, die zu mehr als noinzig Perozent langeweilig ist" und so weiter und so weiter.

      Aber das alles ist nichts gegen den Clou dieses Buches. Mord, Mordkommission, das alles spielt hier immer mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis. Doch der Kritiker ist nicht tot. Seine Frau, die kettenrauchend, kaum deutsch, sondern französisch sprechend, unter ihm leidet, weiß es die ganze Zeit. Warum? Sie sagt es, ein Champagnerglas in der Hand: "Umgebracht zu werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König."

      Es ist dieser Satz, der mich vollends sprachlos macht. Er ist Ihnen so wichtig, daß er zweimal in dem Roman vorkommt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß Marcel Reich-Ranicki der einzige Überlebende seiner Familie ist, halte ich den Satz, der das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft macht, für ungeheuerlich.

      Ich habe, lieber Herr Walser, in meiner Laudatio in der Paulskirche eine Summe ihres Werkes und Wirkens gezogen. Ebenso klar sage ich, daß ich fatal finde, was Sie jetzt zu tun im Begriff sind. Als Adolf Hitler seine Kriegserklärung gegen Polen formulierte, die Sie in Ihrem Roman so irrwitzig parodieren, war dies auch eine Kriegserklärung an den damals in Polen lebenden Marcel Reich und seine Familie. Nicht viele europäische Juden haben diesen Satz von Adolf Hitler überlebt. "Darunter", um Sie zu zitieren, noch weniger das Warschauer Ghetto. Und noch mal viel, viel weniger haben den Aufstand im Warschauer Ghetto überlebt. Und noch viel weniger konnten dann in einem Kellerloch in Polen überdauern. Und von all denen, die das überlebt haben, gibt es nur noch einen Bruchteil eines Bruchteils, der heute noch lebt. Zwei davon, lebend also wider jede Wahrscheinlichkeit, sind der heute zweiundachtzigjährige Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila. Verstehen Sie, daß wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, daß dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, daß wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?

      Ich muß diese Absage öffentlich machen. Sie haben bereits vorauseilend die Vermutung geäußert, eine Absage wäre nur auf den undurchschaubaren Einfluß Marcel Reich-Ranickis zurückzuführen. Doch die reale Hauptfigur Ihres Romans weiß nichts von diesen Vorgängen. Es gibt keine Verschwörung.

      Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage. Mit bestem Gruß

      FRANK SCHIRRMACHER

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2002, Nr. 122 / Seite 49
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 13:33:21
      Beitrag Nr. 14 ()
      Ein Literat mordet virtuell einen Kritiker.

      Reich-Ranicki hat sicherlich vielen dazu Anlaß gegeben - aber die Geschichte Ranicki´s sollte einen sozial kompetenten/intelligenten Literaten von solchen Rachefeldzügen abhalten -so sehr ihm möglicherweise auch aufgrund ebenso unappetitlicher, unanständiger Vorwürfe in jüngerer Vergangenheit und literarischer Vernichtungsversuche dazu zumute ist.

      Wer auf solchem Niveau operiert, der begibt sich ausserhalb des Schutzes derer, die ihm in anderer Sache beigestanden haben.

      Ich habe das Buch nicht gelesen - aber die Argumente Schirrmachers sind absolut schlüssig.

      Querdenken, Avantgardismus einerseits sowie Geschmacklosigkeit und blinde Wut andererseits sind eben doch verschiedene Dinge...


      D.T.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 13:44:10
      Beitrag Nr. 15 ()
      @8 von HeiligerSchweinehund Du irrst! Reich-Ranicki wird sehr verletzt sein, wenn er das Buch liest (falls der FAZ-Artikel der Wahrheit entspricht)

      In seiner Biografie `Mein Leben` hat Reich-Ranicki ausführlich über eine Mord-Fantasie berichtet, die jemand auf ihn bezogen geäussert hat. SOWAS KANN EINEN DERART BETROFFENER NICHT KALT LASSEN!

      Es ist mir zum Weinen zu Mute :cry: Gestern hörte ich zufällig in einem Buch-Antiquariat ein Gespräch (hinter Büchergestellen), rein antisemitisch, die bekannten Vorurteile. Ich hätte nie gedacht, dass ich sowas je erleben würde.

      @#12 von Sep

      damit hast du wohl recht:

      Irgendwie habe ich den Eindruck, daß bei Walser durch die Behandlung seiner damaligen Rede etwas angekickt wurde, und er sucht nun auf diese Weise einen Weg der Erkenntnis für sich, der für uns alle schmerzhaft werden könnte.


      @Martin Walser
      Ich liebe ihre Bücher! Wieso haben sie jetzt sowas geschrieben?

      HALT: ich kenne die Antwort. Reich-Ranicki ist sehr weitgegangen im ausloten seines Freiraums. Jetzt hat Martin Walser unglaublich ausgeholt und zurückgeschlagen.

      Traurig.:cry:
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 13:53:10
      Beitrag Nr. 16 ()
      Interessante Diskussion.

      Warum ist RR aufgrund seiner persönlichen Geschichte vor solchen Angriffen zu schützen, während man dies Friedmann nicht zugesteht?

      @leary: Danke für den Artikel. Ich habe ihn nur in der Printversion. Ich teile Deine Meinung, dass Schirrmacher hier offensichtlich Dinge hineininterpretiert, die so nicht drinstehen. Das mit dem "darunter auch..." ist bezeichnend. Böswillige Interpretation.

      Ob das Buch von Walser geschmacklos, möglichweise auch einfach nur schlecht ist, können wir alle nicht beurteilen. Sich über den Akzent eines Literaturkritikers (!) lustig zu machen, wird aber wohl noch erlaubt sein.

      Interessant übrigens auch, dass ich nie den Eindruck hatte, RR würde seine Position als Jude definieren. Warum nun dieses "Jude sein" von dritter Seite herangezogen wird, um ihn gegen (wie gesagt möglicherweise geschmacklose) Angriffe zu verteidigen, bleibt mir rätselhaft. Es bleibt abzuwarten, wie er selbst sich dazu äußern wird. Vermutlich in der Tat belustigt.

      Anders ausgedrückt: Das Buch und das darin enthaltene Szenario wären (politisch) unproblematisch, wenn RR kein Jude wäre? Oder wäre es (meine Meinung) dennoch einfach nur geschmacklos?
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 14:14:59
      Beitrag Nr. 17 ()
      @Rainer6767 Ich muss jetzt leider weg, möchte nichts unbedachtes schreiben. Ich werde später antworten... hoffentlich bleibt der Thread so nett, ohne Pöbeleien.

      Das Thema ist zu wichtig. :kiss:
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 14:23:32
      Beitrag Nr. 18 ()
      man darf gespannt sein, was MRR am Dienstag, den 4.6. abends im ZDF in seiner eigenen Sendung dazu sagt.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 14:59:56
      Beitrag Nr. 19 ()
      leary99

      vielen Dank für den Artikel.

      Ich bin im Moment nicht in der Lage, das zu kommentieren. Ich werde dies noch ein paarmal durchlesen, bevor ich mir zutraue, Stellung zu beziehen. Ich verstehe einige Passagen in ihrer beigemessenen Dimension nicht, u.a. auch das "darunter" aber das soll nicht heißen, daß es nicht etwa doch die Dimension haben könnte. Weil wir eben nicht wissen, ob dies ein kleinlicher Hinweis, oder doch ein Hinweis auf viele kleine "darunters" sind.

      Ich verstehe, daß dieser Artikel von der FAZ nicht abgedruckt wird, und mich beeindruckt beispielsweise die vorsorglich von W. vorgetragene Unterstellung sehr viel mehr, wonach ein "Nichtabdruck" dann wohl auf Veranlassung von RR zurückzuführen sein würde.

      Falls dies stimmt.

      Walser scheint in diesem Falle nicht mehr zu überblicken, was er da mit seiner Vermutung in die Welt setzt.

      Mal abgesehen von dem mir unbekannten Inhalt seines Buches.

      Ich habe in den vergangenen Wochen mehrfach die Foren der FAZ eingesehen, es unterscheidet sich nicht von dem, was hier bei W:0 gedräut wird. Auch das kann eine Entscheidungshilfe sein, sich nicht rechts von der "Neuen Freiheit" wiederfinden zu wollen.

      Mal abgesehen davon: Die FAZ ist die vielleicht ungeeignetste Zeitschrift gewesen, der man einen solchen Vorabdruck anbietet. Viele verstehen den Begriff des Konversativismus womöglich falsch.

      Ich denke, es wird wirklich nur ein schlechtes Buch sein, wenn es sich mit kabarettistisch bereits ausreichend ausgelaugten Aussprachefehlern malend zu entziehen sucht. Die Aussprache RRs beherrscht mittlerweile wirklich jeder, der sich für einen lustigen Vogel hält.

      Und es ist ein Buch, daß zur Unzeit kommt. Es ist die Fortsetzung von Fassbinders „der Müll, die Stadt und der Tod“. Es ging damals u.a. um Bubis. Hier bekommen wir nun eine sehr unappetitliche Fortsetzung dieser Aufführung auf den Tisch, die ich damals im TAT in Frankfurt aus nächster Nähe miterleben durfte.

      Das Drama: die bekennenden Analphabeten der gut behaarten Glazenfraktion müssen nun auch ein Buch von Walser haben, um Golfplatz- tauglich zu bleiben.

      Erfolg "um jeden Preis" ist nicht alles.

      Möllemann beginnt, uns ein Begreifen vorzuspielen.

      Und Walser wird zumindest eine hohe Auflage erreichen. Das wird teuer.

      FAZ- Schirrmacher:

      " Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage".


      SEP
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 15:14:25
      Beitrag Nr. 20 ()
      :):)
      #12 schön zu lesen Sep, dass Georg Kreisler noch nicht
      vergessen wurde. Auch sein Lied über den Musikkkrrittikkkrrrr ist umwerfend gut, wie eigentlich
      alles von ihm. Eine alte Kiste mit Tonbändern von ihm liegt noch bei mir rum, auf der die "Lieder zum Fürchten",
      erhalten sind. Leider ist die Sammlung nicht mehr komplett.
      In seinen Radiosendungen war er doch noch viel besser, als
      auf seinen Platten. Er war der einzige, der
      Satire am Fliessband produzieren konnte, ohne Abnutzung.
      ...und dazu auf dem Klavier eigene Melodien spielte.
      Seltsam, dass die `68 so wenig mit ihm anzufangen wussten.
      ...vielleicht lags daran , dass er keine langen Haare trug, und in der Pappi-Generation war. Ich hoffe, dass von ihm
      wesentlich mehr bleibt, als von Walser und dem aktuellen
      literarischen Dünnbrett-Murks.
      Kreislers "bitter-schwarzen Lieder" konnten sich den ganzen Vormittag festsetzen und bei "2 alten Tanten tanzen Tango,....., mitten in der Nacht", vergass ich manchmal die
      Schule.
      Und zur Pause hiess es dann wieder:
      ...Gib mir auch was zu Naschen, aus der andern Taschen... !
      :):)
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 15:14:51
      Beitrag Nr. 21 ()
      @SEP:

      Die Vermutung Walsers, dass MRR einen Einfluss auf Abdruck oder Nichtabdruck haben könnte, ist doch nicht aus der Welt gegriffen.
      Nicht etwa, weil MRR Jude ist, sondern weil er langjähriger Buchkritiker (also Mitarbeiter) der FAZ war.

      Wird hier nicht schon wieder Walser unterstellt, er würde eine "Verschwörung" vermuten, was in der Tat antisemitisch ausgelegt werden könnte?

      Ich würde, wenn ich ein Buch über die Ermordung eines wichtigen Mitarbeiters der Süddeutschen Zeitung schreiben würde, auch den Verdacht haben, dass eben diese Zeitung das Buch nicht abdrucken wird. Ist es nicht verständlich, dass Walser eben dies auch vermutet hat im Fall der FAZ? Und, nebenbei bemerkt, hat er nicht auf eine gewisse Art sogar Recht behalten? Immerhin druckt die FAZ das Buch nicht ab, auch wenn MRR an dieser Entscheidung nicht beteiligt war. Möchte sich die FAZ möglicherweise ihr Verhältnis zu MRR nicht verderben, damit er auch weiterhin für die FAZ als Autor zur Verfügung steht? Verständliches Motiv.

      Über das Fassbinderstück habe ich nur gelesen. War da nicht auch der gleiche Reflex zu spüren: Greife einen Immobilienspekulanten an, der Jude ist, und Du bist sofort Antisemit?

      Der Vorwurf des Antisemitismus sollte sparsamer verwendet werden, sonst nutzt er sich ab. Und das wäre verheerend.
      Genau so wie die Verharmlosung der Nazi-Diktatur dadurch, dass man Israel Nazi-Methoden vorwirft.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 15:51:49
      Beitrag Nr. 22 ()
      erste Stellungnahme von Walser:

      Martin Walser weist Kritik an neuem Roman zurück


      Hannover (dpa) - Mit völligem Unverständnis hat der Autor Martin Walser auf die Ankündigung der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» reagiert, seinen neuen Roman nicht drucken zu wollen. «Ich hätte nie, nie, niemals gedacht, dass jetzt dieses Buch auf den Holocaust bezogen wird. Verstehen Sie, dann hätte ich das Buch nicht geschrieben», sagte er dem Kulturjournal des Norddeutschen Rundfunk (NDR).
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 16:13:15
      Beitrag Nr. 23 ()
      Ich muss glaube ich meine Aussage zurücknehmen, ich
      weiß nicht ob RR dem Buch mit Humor begegnen wird.

      Es sind anscheinend Passagen drin, die ... na ja... ich erst im
      Zusammenhang lesen muss, bevor ich da spekuliere. Anhand
      dieser wenigen Zitate, scheint mir aber, auch wenn die Ähnlichkeit
      gewollt ist und Verwechselung unmöglich, dass der Kritiker
      eine Symbolfigur ist für Kritik als solche, Lust an der Kritik,
      ja vielleicht sogar für Zensur, moralische Zensur weniger,
      eher für die Zensur des korrekten Geschmacks?

      Die Meinungsmache im Vorfeld der Veröffentlichung ist
      aber eine unerträgliche, oberlehrerharte Bevormundung.
      FAZ disqualifiziert sich hier auch. Wahrscheinlich hat
      es dem Schirrmacher schon auf den Fingern gerannt,
      seine Meinung loszuwerden, jetzt auf dem Höhepunkt
      der Antisemitismusdebatte, jetzt wenn das Eisen so
      richtig glüht. Womöglich hat er mit allem was er sagt
      recht oder auch mit allem unrecht. Er versucht hier
      etwas öffentlich vorzuverurteilen und eine Meinung
      über eine Sache zu etablieren, die noch keiner kennt.

      Schon in dem kurzen Artikel sind aber Unkorrektheiten
      drin. "Angriff auf Polen war Angriff auf RR": RR hat sich
      nie als Pole, auch nicht als jüdischer Pole gefühlt, sondern
      als Deutscher oder dem Deutschen zugehörig, der deutschen
      Sprache, Kunst etc. Polen ist nie seine Heimat geworden.
      RR ist in Berlin geboren und als Gymnasiast nach Polen
      ausgewiesen worden (den Grund kenne ich nicht mehr),
      sein Akzent ist allerdings weniger jiddisch als polnisch, ja eine
      interessante Variante, ein bisschen jiddisches polnisch klingt
      da jedenfalls mit drin. Ich kann mich irren, aber ich vermute,
      RR spricht kein jiddisch. In seiner polnischen Zeit waren einige
      pol. Literaten seine Freunde (wie Tuwim) und er spricht sicher
      sehr gut polnisch. Es ist also ein typischer Streit zwischen
      zwei Deutschen (Walser und Schirrmacher), die meinen mit
      irgendeinem Detail etwas belegen zu wollen und etwas besser
      zu wissen und in Wirklichkeit wissen beide anscheinend einen
      Scheißdreck oder sind nicht feinfühlig genug, die Details zu
      erkennen. Anderenfalls wüssten beide z.B., dass RR zum
      Repräsentanten der jüdischer Gruppe nicht taugt. Er hat mit
      dem jüdischen Leben in Deutschland nichts zu tun, weder
      in der Synagoge noch in irgendeiner politischen Organisation.

      Wie gesagt, man muss es erst lesen, ...
      vielleicht wird RR jetzt durch dieses Buch wirklich "unsterblich",
      seiner einmaligen Klasse als Kritiker sicher ungemessen.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 16:27:58
      Beitrag Nr. 24 ()
      Solange Walser instinktlos mit solcher Publicity kokettiert, ist mir die ganze Diskussion ziemlich egal. Schon mal einer von hier nen Buch von Walser gelesen, ausser in der Schule ? Na dann wisst ihr ja was ich meine. LANGWEILIG !!!
      Dann zieh ich mir lieber nen Stephen King oder Phillip K. Dick rein oder Assimov. Es ist die Aufgabe von Romanen mich zu unterhalten.
      Hab das Buch "Mein Jahrhundert" oder so von Grass gelesen (Weihnachtsgeschenk) ...dünn, dünn. Keine Offenbarung.
      Wenn ich Arno Schmidt nicht ständig dabei hätte (Orpheus,lese ich zum X-ten male,- fühle mich wohl, und hin und wieder lach ich mich immer noch schlapp. )
      Dagegen betreiben Walser oder Grass die reinste Buchstabenverschwendung.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 17:03:30
      Beitrag Nr. 25 ()
      Ich muss das Buch zuerst lesen, bevor ich mich weiter äussern kann. Nur noch folgendes zu der Aussage von Walser:

      Hannover (dpa) - Mit völligem Unverständnis hat der Autor Martin Walser auf die Ankündigung der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» reagiert, seinen neuen Roman nicht drucken zu wollen. «Ich hätte nie, nie, niemals gedacht, dass jetzt dieses Buch auf den Holocaust bezogen wird. Verstehen Sie, dann hätte ich das Buch nicht geschrieben», sagte er dem Kulturjournal des Norddeutschen Rundfunk (NDR).

      Dem begegne nun ich wieder mit absolutem Unverständnis. Falls Walser ein Buch geschrieben hat, in dem er offensichtlich RR beschreibt (oder angreift) bin ich überzeugt, dass er RR`s Buch `Mein Leben` gelesen hat. Dann weiss er unbedingt, dass er RR im tiefsten verletzt mit seiner Mordfantasie. Er soll seine Leser nicht für dumm verkaufen. Man kann nicht sagen, wie wäre es, wenn RR kein Jude wäre. Wenn RR als Macho Frauen im Literaturbetrieb fertig gemacht hat, kann man auch nicht fragen hinterher: was wäre, wenn diese Frauen Männer wären? Der Macho hat eben die Frau fertiggemacht. Er hat das sehr gut verstanden.

      @#24 von wolaufensie Leider ist es ziemlich unwichtig, ob WO-User Bücher von Walser lesen. Das Buch `Der Lebenslauf der Liebe` ist jedenfalls ein guter, schöner Roman. Die öffentliche Diskussion über Literatur ist aber, auch wegen RR`s TV-Karriere, beinahe abgekoppelt von der Literatur. Man spricht über Literatur ohne Bücher zu lesen.

      Noch was zu diesem Satz im offenen Brief der FAZ:
      Man hat mich unterrichtet, wie oft und wo überall in der modernen Literatur Kritiker gemordet werden.

      Es gibt tatsächlich auch eine Reihe von Büchern, die sich mit RR befassen. Vielleicht hat er seine Macht missbraucht, das wird behauptet. Es ist einfach problematisch, jemanden mit diesem Schicksal virtuell zu ermorden.

      Stanislaw Lem hat in einem Interview anlässlich seines 80. Geburtstags gesagt, dass er keine Fiction mehr schreibe. Als er gemerkt habe, wie die Fiction sich in Realität umwandle, habe er seine Verantwortung gespürt. Ich halte es für verantwortungslos RR virtuell zu ermorden.

      Das ist alles.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 17:08:26
      Beitrag Nr. 26 ()
      lieber wolaufensie,

      sich erst über die schlecht ausgefallene pisa-studie
      beschweren und dann king, dick und asimov (schreibt man mit
      einem s!) lesen. :laugh::laugh::laugh::laugh::laugh::laugh:

      mfg,
      Cole_T
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 17:30:20
      Beitrag Nr. 27 ()
      WALSER IM WORTLAUT

      "Es passiert im ganzen Buch kein Mord"

      In einer Stellungnahme wehrt sich der 75-jährige Schriftsteller Martin Walser gegen Vorwürfe der FAZ, einen neuen antisemitischen Roman geschrieben zu haben. Der Wortlaut:

      "Frank Schirrmacher schreibt über meinen Roman: "Es geht um den Mord an einem Juden". Erstens passiert im ganzen Buch kein Mord. Zweitens geht es im ganzen Buch nicht um einen Juden, sondern um einen Kritiker. Das Buch erzählt die Erfahrungen eines Autors mit Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens. Wie Schirrmacher dazu kommt, dieses Thema auf den Holocaust zu beziehen, weiß ich nicht.
      Ein Beispiel dafür, wie er arbeitet, er schreibt: "Die "Herabsetzungslust", die "Verneinungskraft", das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar...". Das heißt aber doch, Herabsetzungslust und Verneinungskraft seien etwas Jüdisches und wenn man Herabsetzungslust und Verneinungskraft kritisch behandelt, operiert man antisemitisch. Für mich ist eindeutig antisemitisch die Unterstellung, Herabsetzungslust und Verneinungskraft seien etwas Jüdisches. Das hätte man wohl in der Nazizeit so gesagt, dass es aber genau so heute in der FAZ gesagt wird, darf einen wundern. Aber so wunderlich ist der ganze Artikel. ]

      "Tod eines Kritikers" ist auch ein Buch über das Schicksal der Poesie unter Bedingungen des immer rauer werdenden Kulturbetriebs. Poesie hat schlechte Quoten. Darüber darf ein Roman elegisch werden. Er darf aber auch polemisch werden, wenn er endlich einmal das, was man als Autor jahrzehntelang einzustecken hat, auf literarische Art beantwortet. Ich habe das Buch mit der Widmung versehen: "Für die, die meine Kollegen sind". Ich habe auf meine Erfahrungen nicht mit Kolportage reagiert, sondern mit Literatur.

      Ich kann es nicht begreifen, dass jetzt so getan wird, als sei eine Romanfigur identisch mit ihrem Vorbild in der Wirklichkeit. Eine Romanfigur hat immer mehr als ein Vorbild. Aber am wenigsten begreife ich, dass Schirrmacher gegen jeden Brauch und Anstand über ein Buch schreibt und urteilt, das noch nicht erschienen ist. Das Manuskript wurde der FAZ überlassen zur Prüfung, ob sie es vorabdrucken wolle. Wenn sie das nicht wollten, hätte eine Mitteilung an den Verlag genügt. Ich nehme an, Frank Schirrmacher sah sich aus Gründen, die ich nicht kennen kann, nicht einmal kennen will, genötigt, sich auf sehr opportune Weise einzumischen. Das tut mir leid. Für ihn."

      http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,198421,00.html
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 17:39:23
      Beitrag Nr. 28 ()
      @Bigshorter und Heiliger:

      Ob das Buch für MRR verletzend ist oder nicht, halte ich für wenig relevant. MRR ist geradezu ein Musterbeispiel für jemanden, der (wenn auch auf unterhaltsame Art) sehr sehr verletzend sein kann in seinen Kritiken. Da muss er auch mal einstecken können.

      Ja, er muss auch mit einer Geschmacklosigkeit ihm gegenüber leben können. Und wenn es noch so verletzend ist. Nebenbei: Schaut Euch mal an, was Günter Grass so alles loslässt über seine Mitmenschen. Zum Teil zutiefst verletzend.

      Womit MRR nicht leben muss, ist Antisemitismus. Dagegen muss in aller Schärfe vorgegangen werden.

      Ich glaube Walser, dass er keinerlei Bezug zum Holocaust herstellen wollte. Ich glaube ihm, weil er sein Buch sicherlich schon vor längerer Zeit geplant hatte und sicherlich seit längerer Zeit daran geschrieben hat. Die Aktualität der Debatte um Möllemann hat ihn da eingeholt.

      Ich bin mir ziemlich sicher, dass ohne diese Debatte das Walser-Buch nicht diese Reaktion hervorgerufen hätte.

      @Heiliger: Was Du bezüglich des Verhältnisses von MRR zum Judentum geschrieben hast, wollte ich in meinem vorangegangenen Posting ausdrücken. MRR definiert sich selbst nicht über seine jüdische Herkunft (großer Unterschied zu Friedmann). Daher wäre MRR das denkbar ungeeignetste Ziel eines antisemitischen Angriffs.

      Nein, Walser hat hier einen unglaublich brutalen, auch oft arroganten Literaturkritiker aufs Horn genommen. Und das muss schon noch erlaubt sein.

      Ob es vom guten Geschmack Walsers zeugt, ihn auf diese Weise anzugreifen (vor dem Hintergrund der persönlichen Leidensgeschichte von MRR), ist eine ganz andere Frage.

      Es wäre wohl klug von Walser gewesen, einen fiktiven Literaturkritiker als Objekt der Handlung zu nehmen, der nicht Jude ist. Und dennoch genügend Anspielungen auf MRR zu machen, damit klar ist, wer gemeint ist. Also das "Jude sein" völlig auszuklammern.
      Aber wäre das nicht genau das, was wir (und wohl auch die meisten Juden) eigentlich nicht mehr wollen? Wollen wir, nein, sollten wir nicht zu einem unverkrampften Verhältnis zu Juden finden? Sie als das nehmen, was sie sind: Unsere deutschen Landsleute.

      Darf man über Juden Witze machen? Ich meine jetzt nicht den braunen Dreck (KZ-Witze), sondern Witze in der Art, wie wir sie über Ostfriesen oder Österreicher machen. Ich meine ja. Wie dürfen nicht nur, wir sollten es sogar. In unser aller Interesse.

      Damit zukünftig ein Michel Friedmann einen Angriff auf seine Person mit gutem Recht als das sehen kann, was er ist: Ein persönlicher Angriff. Kein Angriff auf die Juden.

      Solange aber wir, die wir gegenüber Juden eine freundliche oder zumindest neutrale Einstellung haben, uns nicht trauen, einen Juden anzugreifen, kommen eben die Angriffe nur aus der antisemitischen Ecke. Und dann ist doch klar, dass die angegriffenen Juden eben genau das dahinter vermuten.

      Mag sein, dass ich falsch liege. Sorry für das lange Posting.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 17:43:47
      Beitrag Nr. 29 ()
      natürlich werden im Literaturbetrieb Leute fertiggemacht. Früher lief das gemächlicher, heute ist es wohl brutaler.

      Aus „mein leben“ von marcel reich-ranicki.


      Seite 416:
      „... ich beschäftigte mich intensiv mit MALINA, dem gerade veröffentlichten ersten roman ingeborg bachmanns...“
      „... ich las den roman als poetischen krankheitsbericht, als das psychogramm eines schweren leidens. Ich las MALINA als ein buch über ingeborg bachmann...“

      „“ich war erschüttert. Ich spürte, ich ahnte es: ihr, ingeborg bachmann, steht schreckliches bevor, vielleicht ein furchtbares einde, vielleicht sehr bald.ein alter vers lag mir im sinn und liess sich nicht verdrängen. Er irritierte mich unaufhörlich, er wurde zur zwangsvorstellung, der vers: und ich begehre nicht schuld daran zu sein....“

      „...als ingeborg bachmann am 16. Oktober 1973 unter nie ganz geklärten umständen starb, bat man mich einen nachruf zu schreiben. Er endete mit dem bekenntnis, dass ich einige gedichte aus ihren sammlungen „die gestundete zeit“ und „anrufung des grossen bären“ zu den schönsten zähle, di e in diesem jahrhundert in deutscher sprache geschrieben wurden. Ich fragte mich, schuldbewusst , warum ich dies ihr, ingeborg bachmann, nie gesagt hatte...“

      ----

      ja, warum hat ranicki sie nur immer die „gefallene lyrikerin“ genannt?
      warum hat er (wie es in ‚mein leben‘ steht) den Roman "Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch in der ‚Zeit‘ wohlwollend rezensiert, obwohl bereits zwei wochen vorher eine besprechung dort zu lesen war? Weil ihm frisch leid tat? Weil er den anderen kritiker ausstechen wollte? Oder weil es ihm gefiel, wie Max Frisch die Bachmann fertiggemacht hat in dem Roman?
      Jedenfalls kann man in ranicki’s buch lesen, dass ihm die späteren werke von frisch nicht mehr gefielen. Es gefiel ihm eigentlich nur Gantenbein. Es gefiel ihm, wie eine frau entblösst wurde.

      Ueber das "Entblösstwerden" hat Ingeborg Bachmann in "Malina" folgendes geschrieben:

      aus MALINA:
      „marcel aber ist so gestorben:
      eines tages sollten alle clochards von paris aus dem stadtbild entfernt werden. Die fürsorge, die alleröffentlichste

      fürsorge, die auch für ein anständiges stadtbild sorgt, ist zusammen mit der polizei gekommen in die rue monge,

      und weiter wollte man nichts, nur die alten männer zurückführen in das leben und deswegen zuerst einmal

      waschen und säubern für das leben. Marcel ist aufgestanden und mitgegangen, ein sehr friedlicher mann, auch

      nach ein paar gläsern wein noch ein weiser, widerstandsloser mann. Es war ihm vermutlich völlig gleichgültig an

      diesem tag, dass sie kamen, und vielleicht dachte er auch, dass er wieder zurückkönne auf seinen guten platz auf

      der strasse, wo die warme luft der metro durch die schächte heraufkommt. Aber in dem waschsaal, für das

      gemeinwohl, mit den vielen duschen, kam auch die reihe an ihn, sie haben ihn unter die dusche gestellt, die

      sicher nicht zu heiss und nicht zu kalt war, nur ist er zum ersten mal nackt gewesen nach vielen jahren und unter

      das wasser gekommen. ehe es jemand begreifen und nach ihm langen konnte, war er schon umgefallen und auf

      der stelle tot. du siehst, was ich meine! Malina sieht mich etwas unsicher an, obwohl er sonst nie unsicher ist. Ich

      hätte mir die geschichte ersparen können. Aber ich spüre wieder einmal die dusche, ich weiss, was man marcel

      nicht hätte wegwaschen dürfen. Wenn jemand in der ausdünstung seines glücks lebt, wenn für jemand nicht

      mehr viel worte da sind, sondern nur das ‚vergelts gott‘, ‚gott soll es ihnen vergelten‘, soll man ihn nicht zu

      waschen versuchen, nicht wegwaschen, was für jemand gut ist, jemand säubern wollen, für ein neues leben, das

      es nicht gibt.“
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 17:55:00
      Beitrag Nr. 30 ()
      #28 von Rainer6767 Danke für dein Posting. Es gibt eben viel zu schreiben. Du hast recht, Ranicki war nie zimperlich, ich habe mich schon vor 20 Jahren über ihn aufgeregt :eek: Ich bin dennoch der Meinung, dass eine virtuelle Ermordung eines Menschen mit einer solchen Biografie tabu ist.
      Ich will es mal so sagen: angenommen eine Kritikerin würde bei einem Hausbrand ihren Mann und ihre Kinder verlieren. Jemand schriebe einen Roman über einen Kritiker, der in einer TV-Sendung sich auslässt über einen Roman: "Der Brand" und auf dem Heimweg würde bei einem Autounfall die Familie ausgelöscht.
      Das fände ich total unter der Gürtellinie.

      JETZT ist das beim Thema RR (der sehr jetzt tatsächlich ein Ueberlebender ist) noch ein politisches Problem anderen Ranges. Vielleicht hat er diese Situation ausgenutzt, ich kann es nicht beurteilen, weil ich nicht ALLES gelesen habe, (nur vieles) ABER: er war wohl auch nur Handlanger!!! Dann könnte oder sollte man eher die FAZ, die ZEIT, die VERLAGE oder was weiss ich wen anprangern. Schliesslich kann man dazu kommen, zu denken, dass er und seine unantastbare Stellung gebraucht wurde :cry: und Walser auf diese Provokation reingefallen ist.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:03:39
      Beitrag Nr. 31 ()
      @Bigshorter:

      genau das ist es doch, was ich meine. Dein Beispiel mit dem Autounfall.
      Ein solches Buch wäre einfach nur geschmacklos. Ob man diese Geschmacklosigkeit für akzeptabel hielte oder nicht wäre sicherlich auch eine Frage des Verhaltens der thematisierten Kritikerin.
      Sofern sie in ihren Kritiken jeden zur Sau macht, würde man eine Geschmacklosigkeit über sie wohl durchgehen lassen.

      Bezeichnen wir doch das Walser-Buch als genau das, was es möglicherweise ist: unter der Gürtellinie.

      Aber bitte das Thema Antisemitismus heraushalten.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:04:23
      Beitrag Nr. 32 ()
      wolaufensie

      ich habe nicht alle Platten von Kreisler, aber doch die Wichtigsten.
      Tauben vergiften, 2 alte Tanten tanzen Tango, die nacht in der der Zirkus brannte , eine Wanderniere usw. Und eben den Musikkrrrritiker.

      Zu Walser, mir ist unbehaglich. Soviel ich herausgefunden habe, geht es um die Vortäuschung eines Mordes an dem Kritiker, der damit seine Schäferstündchen tarnt.

      Ich gewinne langsam den Eindruck, daß Walser hier einen Roman vorlegt, der sich RR sehr viel mehr nähert, unterschwelliger, als das zunächst erkennbar ist. Ich meine dabei nicht den spektakulären, im Vordergrund stehenden Mord.

      Das hat schon was mit RR zu tun, seine Liebe zur Selbstinzenierung, und seine heimlichen Vorlieben, und so erst wird es tatsächlich zu einem Mord: zu einem Ruf- Mord.

      Es ist ja keineswegs zufällig, daß Walser sich mit RR befaßt, er will ja was über ihn mitteilen, aussagen. Er will sozusagen in irgendeiner Weise den Vorhang wegziehen. Kein Mensch in der BRD geht davon aus, daß es sich nicht um RR handeln könne.

      Und da kann ich mir vorstellen, daß sich die FAZ zu solch einer Auseinandersetzung, mit deren vorzüglichem Hintergrundwissen, nicht hergeben kann.

      Nur thematisiert man es seitens der FAZ eben genau so chiffriert, wie Walser es vorlegt.

      Es ist womöglich eine Spiel- oder Schau- Ebene, die der Öffentlichkeit präsentiert wird, die aber die eigentliche Sachlage kaschiert.

      RR hat Im Schatten seiner Ehe kein keusches Leben gelebt, und das ist den Insidern der FAZ, den Frankfurter Kulturbeobachtern seit langem nur allzu bekannt. Wird nun hinter dieser, von Schirrmacher konsequent, fast ärgerlich bereits in seiner Einleitung sofort weggewischten Pseudo- Anonymität der Handelnden ( lest es mal nach), eine Attacke gegen RR geritten, unter die diversesten Gürtellinien zielend, dann die Aussprache lächerlich machend, den Sprachfehler ausschlachtend, und das alles immer in der Nähe einer unausgesprochen bleibenden „Zugehörigkeit“ haltend, die man zwar spürt, aber nicht direkt dingfest machen kann ? Ist „darunter“ dafür nur eine chiffre, die den Eingeweihten bestens verständlich ist, wir aber fassen uns an den Kopf aufgrund der platten Banalität?

      Wie gesagt, es stellt sich ja heraus, daß es am Ende kein Mord, sondern ein fingierter Mord war, durch das Opfer inszeniert. Und wer weiß, am Ende ist es ein Mord, aber eben nicht ein literarischer, sondern ein Rufmord.

      Ich würde mich, an der Stelle von Schirrmacher, da auch nicht einspannen lassen, sozusagen den Handlanger abgeben wollen. Es gibt ja auch die Beihilfe beim Mord, und wenn es gut gestrickt ist, dann schiebt der Mörder immer andere vor, die den Mord vollziehen, die Beihilfe leisten.

      Man kann dazu „ Nein“ sagen. Ist dies das „nein“ des Schirrmachers ? Abgedruckt wird dies sowieso, das ist auch der FAZ klar. Wer weiß, vielleicht im Spiegel ? Sind die nahe genug dran an RR ? Dann woanders.

      Es ist sehr vieles sehr doppeldeutig, was ich bisher so gelesen habe. Es ist womöglich ein Stück Unanständigkeit, sozusagen der Teil des Antisemitismus, den man begehen kann, ohne daß Juden involviert sind.

      Walser wäre in diesem Falle doch sehr viel besser drauf, als wir alle meinen.


      SEP
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:04:23
      Beitrag Nr. 33 ()
      Jetzt bin ich wieder reingefallen. Ich weiss ja gar nicht, was im Buch steht!!!
      DAS ist das Problem. Ich urteile, bevor ich es gelesen habe :cry:

      Dazu hat Philip Roth etwas schönes geschrieben. Aber das möchte ich euch nicht auch noch aufhalsen. Es geht darum, das Literatur DIFFERENZIERUNG ist - im Gegensatz zu Politik, die ist Verflachung. Und die FAZ hat jetzt Politik gemacht.

      Ich bin dabei auf meiner Website ein Board einzurichten. Falls jemand Interesse hat, bitte bm :)
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:09:39
      Beitrag Nr. 34 ()
      SEP das ist es genau: die Literatur befasst sich mit sich selber, sie ist seit je mörderisch. Das Fremdgehen hat Ranicki im TV neben seiner Frau sitzend geniesserisch erzählt, das ist kein Geheimnis.

      Wie meinst du denn deinen letzten Satz?
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:10:24
      Beitrag Nr. 35 ()
      @Sep:

      Deine letzten zwei Sätze habe ich wirklich nicht verstanden.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:10:58
      Beitrag Nr. 36 ()
      @bigshorter :D
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:22:57
      Beitrag Nr. 37 ()
      @Rainer6767

      Also die Schlußsätze von Posting 28 waren echt klasse.

      Ich meine die Sätze wo du sagst, das man Witze über Juden (nicht über den Holocaust) machen soll(en dürfte).

      Sehe ich genau so
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:33:04
      Beitrag Nr. 38 ()
      Ich finde es übrigens erheblich interessanter und wohl auch zielführender, dieses Thema an MRR und Walser zu diskutieren als an Möllemann und Friedmann.

      Bei Möllemann habe ich nämlich durchaus berechtigte Zweifel an seinen Motiven. Bei Walser eigentlich nicht.

      Und bei Friedmann lässt sich eben die Tatsache nicht übersehen, dass er ZdJ-Funktionär ist und in dieser Rolle angegriffen wird. Da ist es eben viel nahe liegender, einen Angriff auf die Juden insgesamt zu vermuten.

      Sieht man übrigens auch daran, dass sich das braune Gesocks, das es hier im Board leider auch gibt, bislang aus dieser Diskussion völlig herausgehalten hat.

      Und, vor allem: Parteipolitik spielt hier keine Rolle. Und das ist gut so.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:49:05
      Beitrag Nr. 39 ()
      Von mir aus kann man die Diskussion auch auf Walser verschieben, nur diskutiere ich nicht über etwas, dass ich nicht gelesen habe.

      Und bei allem Respekt - Karsli nur auf den einen Satz zu reduzieren halte ich auch nicht für fair. (Ich muß dazu sagen, dass ich über ihn auch nicht viel mehr weiß!)

      In der ganzen Debatte geht es ja auch nicht um Möllemann oder Friedmann, diese Debatte gibt es ja schon seit den Fünfzigern, mit wechselnden Akteuern, nur nie wurde sie befriedigend durchdiskutiert.

      Wäre Mölli nicht gewesen, hätte Walser (wieder einmal) diese diskutierenswerte Diskussion angestossen.

      Ich bin nicht bereit einen Juden anders zu behandeln als irgendwen sonnst.
      Ich bin selber Konfessionslos - Religionen interessieren mich nicht.
      Ich bin Europäer - Nationalitäten interessieren mich nicht.

      Ich will aber später nicht gefahr laufen wegen meiner, wie ich meine begrüssenswerten Einstellung, mal so defammiert zu werden, daß ich gesellschaftlich keinen Fuß mehr auf den Boden bekomme.

      Davor muss man als deutscher leider angst haben - Und deswegen hier die Antwort auf deine Frage in meinem Thread "Kann man die FDP überhaupt noch wählen?":

      "Ja es macht mein Leben besser wenn diese Sache ausdiskutiert wird."
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:49:50
      Beitrag Nr. 40 ()
      ja rainer, dieser thread gibt mir viel. eben sass ich einen moment an der sonne und war ganz gerührt: ich verstehe auf einmal die jungen menschen betr. der holocaust-diskussion.

      ich kann verstehen, dass man das alles mal diskutieren will ohne den schuldkomplex. das ist wohl walsers anliegen.

      auf einmal sehe ich auch die parallelle zur möllemann-friedmann diskussion, die ich aber, wie ich zugeben muss, nicht verfolge.

      MAN MUSS EINEN KRITIKER, DER SEINE MACHT JAHRZEHNTE AUSGEÜBT HAT, ANGREIFEN DÜRFEN.

      bloss: das wurde in künstlerischer weise oft getan!!!

      Jetzt diese mordfantasie. in einem kampf reizt es eben, dort zu treffen, wo der feind empfindlich ist. offenbar hat walser nichts anderes gefunden, als das bare leben, den angriff darauf. und DAS gefällt mir nicht :cry: das hätte er sich schenken können.... wie hat doch der ermordete holländer PIM gesagt? er kämpfe für REDEFREIHEIT, diese political correctness, die alles verschleime, sei zum KOTZEN und gefährlich, es gebe nur eine ausnahme: aufruf zu gewalt.

      Da bleibt jetzt nur die frage: WAS HAT WALSER GESCHRIEBEN?
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 18:50:46
      Beitrag Nr. 41 ()
      Ach so das Posting #39 war an Rainer6767 gerichtet
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 19:02:56
      Beitrag Nr. 42 ()
      #26 Cole_T
      Arno Schmidt ?... kein Begriff ? Nur King usw.
      Da Du anscheinend hier DIE Kapazität für Rechtschreibung bist, wundert mich Dein Weglassen von A. Schmidt doch nicht.
      Beinhaltet Pisa überhaupt Cole_, das richtige Schreiben von
      Autorennamen ? :D:D
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 19:15:34
      Beitrag Nr. 43 ()
      @SEK:

      War schon klar.

      Ich nehme das allerdings wohl anders wahr als Du. Ich sehe kein Problem darin, einen Juden zu kritisieren. Und ich hatte nie das Gefühl, dass ich das nicht darf. Ich fühle mich da keineswegs eingeengt.

      Es besteht allerdings ein erheblicher Unterschied zwischen Kritik an einem Juden und Kritik an den Juden.

      Wo mich die Political Correctness wirklich stört, ist das Thema Ausländer in Deutschland. Wenn man bspw. nicht mehr über die zweifellos höhere Kriminalität diskutieren darf, ohne gleich in die braune Ecke gestellt zu werden. Denn von dieser Kriminalität können wir alle persönlich betroffen sein. Von islamistischem Terror ganz zu schweigen.

      Diese ganze Debatte hätte man führen müssen, als Beckstein in der Einwanderungsdebatte von "nützlichen" Einwanderern gesprochen hat und dafür als Nazi bezeichnet wurde.

      Oder bei der Frage der Sterbehilfe. Da wird nämlich auch immer das Euthanasie-Argument gebracht. "So etwas darf es hier nie wieder geben" etc. Auch davon könnte ich (oder ein Angehöriger) mal betroffen sein.

      Also: Wenn schon politische Emanzipation, dann bitte bei einem wichtigen Thema.

      P.S.: Härteste Kritik an Israel war in Deutschland schon immer zulässig. Vor vielen Jahren war ich mal JUSO. Da könnte ich Dir einiges darüber erzählen, wozu die Solidarität mit den sozialistischen Brüdern der PLO geführt hat. Der Vorwurf von Nazi-Methoden an eine Gemeinschaft, die von den Nazis fast ausgerottet wurde, übersteigt aber jeglichen Rahmen.

      Aber wir sollten dieses Thema hier nicht weiter diskutieren, dafür gibt es genügend andere Threads.

      @Bigshorter: Ja, wir sollten das Buch abwarten. Äußerst unfair von der FAZ.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 19:29:28
      Beitrag Nr. 44 ()
      @Rainer6767

      Ich weiß ja nicht, wie öffentlich z.B. die Position ist, in der du arbeitest.

      Ich bin noch Student - Im Moment habe ich auch kein Problem zu sagen was ich denke.
      Nun stell dir aber mal vor, du bist in gehobener Stelle in einem Unternehmen tätig.
      Du kritisierst jemanden, der ist Jude oder Ausländer etc..
      Das gibt evtl. schlechte Presse(Antisemit etc..) und die Firma feuert dich. Das kommt vor!
      Du musst noch nicht einmal in deiner Funktion als Firmenvertreter gehandelt haben. Da fragt keiner nach.

      Ich kenne einige Selbständige, die genau aus diesem Grund nicht in die Politik gehen. Ein wort über kontrollierte Einwanderung und du kannst aus dem Geschäft sein.
      Genau aus diesem Grunde kuschen ja auch die meisten Politiker.
      Das nenne ich eine Beeinträchtigung unseres demokratischen Systems.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 19:38:45
      Beitrag Nr. 45 ()
      @SEK zu deinen Punkten:

      Ich bin nicht bereit einen Juden anders zu behandeln als irgendwen sonnst.
      Ich bin selber Konfessionslos - Religionen interessieren mich nicht.
      Ich bin Europäer - Nationalitäten interessieren mich nicht.


      und zum Posting #44 betr. political correctness empfehle ich dir die Lektüre von

      ...Einen sowohl ein ganz allgemeines Gesellschaftsprofil des modernen Amerika verkörpern als auch in ihrer individuellen Einzigartigkeit zerbrechen an den Anforderungen, die die überzogene "politische Korrektheit" der amerikanischen Gesellschaft an sie stellen ...

      @ #43 von Rainer6767
      ich geh aber nicht gerne in andere Threads :( mein Thema ist die Literatur :)
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 20:09:33
      Beitrag Nr. 46 ()
      @Rainer6767

      Du schreibst in #31
      Ein solches Buch wäre einfach nur geschmacklos. Ob man diese Geschmacklosigkeit für akzeptabel hielte oder nicht wäre sicherlich auch eine Frage des Verhaltens der thematisierten Kritikerin.
      Sofern sie in ihren Kritiken jeden zur Sau macht, würde man eine Geschmacklosigkeit über sie wohl durchgehen lassen.
      Bezeichnen wir doch das Walser-Buch als genau das, was es möglicherweise ist: unter der Gürtellinie.
      Aber bitte das Thema Antisemitismus heraushalten.


      Genau dies ist doch das Thema.
      In den nächsten Tagen wird in der Presse zu beobachten sein, wie alles mögliche geschrieben wird, nur eins wird nicht gemacht werden: das Thema Antisemitismus aus dieser Walser/MRR-Geschichte herausgehalten.

      Und das genau das Thema Antisemitismus nicht herausgehalten wird, das sollte doch das für uns entscheidende Thema sein, oder?
      Walser schreibt ein Buch, daß wir alle nicht kennen und muß heute sagen "Ich hätte nie, nie, niemals gedacht, dass jetzt dieses Buch auf den Holocaust bezogen wird."

      Das Thema besteht darin, daß bei dem kleinsten Anlaß, für einige vielleicht nicht wahrnehmbar, eine Anitsemitismus-Debatte in Gang gesetzt wird.

      Daß hier länderspezifische Anfälligkeiten bestehen ist nur zu verständlich.

      Verübt man eine Geschmacklosigkeit gegenüber einem Schwarzen in Deutschland, passiert erstaunlich wenig; es ist einfach geschmacklos. (Man erinnere sich an das "Neger schnackseln halt gerne" von irgendeiner Adligen vor ca. einem halben Jahr .) Es gibt keine öffentlich instituierte Meinungspolizei, die dies in ähnlich harter Form über den Vorwurf der Geschmacklosigkeit hinaus ahnded.
      Verübt man eine Geschmacklosigkeit gegenüber einem Schwarzen in den USA, passiert eine ganze Menge. Der Rassismus-Vorwurf dürfte schneller als bei uns zur Stelle sein. Wer auch hier dem Phänomen des Mißbrauchs der "Keule" in literarisch hervorragender Form verpackt sich nähern will, lese Philip Roth: Der menschliche Makel - ein hervorragendes Buch.

      Bei uns steht an oberster Stelle und am schnellsten der Antisemitismus-Vorwurf vor der Tür. Dies heißt alles nicht, daß es in USA keine Antisemitismus-Debatte und in BRD keine Rassismus-Debatte gäbe.

      Historisch ist es klar, daß in den USA das Thema Rassismus gegen Schwarze und in Deutschland das Thema Antisemitismus noch am ehsten für hitzige Gemüter sorgt.

      Hierfür muß man vielleicht Verständnis haben.

      Jedoch wird mir auch übel bei dem Gedanken, daß man in Deutschland als öffentliche Person tatsächlich in der Weise aufpassen muß, wie SEK dies beschrieben hat.
      Auch ich empfinde das oft als Beeinträchtigung unseres demokratischen Systems und als Verstoß gegen das Prinzip der "Überlegenheit des besseren Arguments". Denn in diesen Debatten scheint es mir immer eine Art Begriffsverwirrung zu geben, die das Argumentieren nicht einfacher macht.
      Man lese mal heute nach, was Walser 1998 wirklich gesagt hat und schaue sich dann an, was ihm von Bubis in den Mund gelegt wurde und wie dies von der Presse aufgenommen wurde.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 20:42:59
      Beitrag Nr. 47 ()
      Ich sollte erklären, was ich mir diesen Sätzen meinte:

      1.) Es ist sehr vieles sehr doppeldeutig, was ich bisher so gelesen habe. Es ist womöglich ein Stück Unanständigkeit, sozusagen der Teil des Antisemitismus, den man begehen kann, ohne daß Juden involviert sind.

      2.) Walser wäre in diesem Falle doch sehr viel besser drauf, als wir alle meinen.

      Schon der Titel ist doppeldeutig. Tod eines Kritikers.

      Zunächst einmal handelt das Buch, ganz profan, von den Umständen um den Tod eines Kritikers.

      Dann jedoch sehen wir, daß es sich um eine kritische Auseinandersetzung geht, mit einer Person, die ausgeteilt hat, und von der, so lese ich man nun erwarten darf, daß sie auch einsteckt.

      Diese nun vorzulegende Auseinandersetzung ist also kritisch, zugespitzt, man kann umgangsdeutsch sagen: da wird einer fertiggemacht.

      Auch da ist der Titel passend: Tod eines Kritikers.

      Untertitel: Der RR wird plattgemacht. Schirrmacher: „Ihr Roman ist eine Exekution“.

      Wir ziehen nun die Schubladen, die zur Verfügung stehen, um mit den Stilmitteln eines erfahrenen Schriftstellers ein Gemälde zu entwerfen, mit Sprachfehlern usw usf das Bild, das jeder von RR hat, zu ergänzen, zu erweitern, zu schieben, zu verschieben.

      Was herauskommt ist, so Schirrmacher, ein Dokument des Hasses. Wir müssen es zunächst einmal glauben, aber auch Schirrmacher weiß, daß wir hierzu nicht endlos werden im Dunkeln tappen müssen.

      Ich bin, ganz nebenbei, nicht der Ansicht, daß man sich nicht auch vor jemanden stellen darf, der durch seinen Beruf „ austeilte“. Man darf sich getrost vor Journalisten stellen, gelegentlich ist es notwendig, sich vor Staatsanwälte stellen zu müssen. Es gibt eine ganze Reihe von guten Gründen, hier das Prinzip „ Auge um Auge“ zu verwerfen. Ob dies im Literaturbetrieb auch für einen Kritiker gelten muß, wird man dann sehen, wenn man das Werk vorliegen hat. Wenn es menschlich nicht sauber ist, dann hat nicht nur ein Jude Anspruch, gegen Antisemitismus in Schutz genommen zu werden. Dieser Schutzanspruch entsteht gegen alle unsauberen Angriffe und sollte sich auf jeden erstrecken. Also auch auf RR in seiner Eigenschaft als Mensch.

      Das meinte ich mit Satz Nr 1.)

      Zu 2.) Ich lese zwischen den Zeilen, und lese nun, wie Walser auf diese Ablehnung reagiert. Er versteht nicht, warum man ihm die Abzüge nicht einfach zurückgegeben habe, da man den Vorabdruck nicht vornehmen werde.

      Das, liebe Leute, ist ein ganz klein wenig scheinheilig.

      Herr Walser ist eine Person des öffentlichen Lebens, so wie der von ihm literarisch bedachte RR.

      RR war lange Jahre Literaturkritiker bei der FAZ.

      Zunächst: es einfach zurückzugeben, hätte die FAZ nicht aus dem Feuer genommen, denn es wäre ja ohnehin bald bekanntgeworden, daß die FAZ dies nicht habe drucken wollen. Die FAZ hat dazu schon Stellung nehmen müssen.

      Dann aber muß dies von der FAZ so verstanden werden – falls stimmt, was Schirrmacher schreibt – daß Walser versucht hat, die FAZ zu benutzen, sie gegen ihren Kritiker in Stellung zu bringen.

      Sowas läßt man nicht kommentarlos über sich ergehen, wenn man für Öffentlichkeitsinformation zuständig sein will. Das geht überhaupt nicht.

      Walser argumentiert da scheinheilig.

      Und schon wittere ich, daß es unangenehmer werden könnte für uns Walser- Fans, als es zunächst aussah. Walser spielt ein Spielchen. Er agiert nicht aufgrund erlittener persönlicher Verletzung, sondern er polarisiert womöglich, bringt zur Strecke.

      Tod eines Kritikers.

      Nun deutlicher ?

      SEP
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 21:07:04
      Beitrag Nr. 48 ()
      ..solange ich keinen Buchstaben des Buches gelesen habe, werde ich meine Meinung zu Walser bestimmt nicht revidieren, schon gar nicht wegen einem Herrn Schirrmacher oder wie er heißt, FAZ zählt nicht zu meinen bevorzugten Blättern.

      Eventuell hat Walser schon bessere Bücher geschrieben, aber 2 Dinge kann man ihm - anders als Möllemann - sicher nicht vorwerfen: Opportunismus und Berechnung.
      Er schreibt, was er empfindet. Und das in der Regel gut. Mit einer gewissen Tiefe, die ein Möllemann niemals erreichen würde, selbst wenn er es könnte, weil er damit für seine Zielgruppe nicht mehr verständlich wäre. Die nach 3 Sätzen ein Ergebnis haben wollen, richtig oder falsch, aber bitte nichts dazwischen.
      Antisemit war Walser bislang auch nicht und daß er es auf seine alten Tage noch werden sollte, würde mich sehr wundern.

      Mit anderen Worten: der größere Skandal scheint mir hier zu sein, wie jemand bloßgestellt wird, bevor sich die Menschen anhand des Buches über die Berechtigung der Vorwürfe überhaupt informieren können.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 22:04:50
      Beitrag Nr. 49 ()
      @ leary99 Wir haben beide dasselbe Buch empfohlen :) da muss doch was dran sein !


      @SEP zu deinem Satz:
      Herr Walser ist eine Person des öffentlichen Lebens, so wie der von ihm literarisch bedachte RR.

      Ich glaube auch, dass Walser scheinheilig tut, das ist aber erlaubt ;)

      Vorhin hatte ich folgende Gedanken. Ich las, nachdem ich Ranicki`s Autobiografie gelesen hatte, auch ein Buch einer Schweizer Autorin, in welchem sie mit RR abrechnete. Sie änderte seinen Namen leicht ab, er war aber klar erkenntlich. Es ging auch darum, dass er parteiisch war in seinem Urteil was Frauen betraf.

      Achtung Fiction:
      angenommen, diese Autorin (sie war früher Literaturkritikerin, sie kennt den Literaturbetrieb von beiden Seiten) hätte den Titel gewählt: "Tod eines Kritikers" (Tod eines Handlungsreisenden) und sie hätte mit Mordfantasien `gespielt` - so als Rache dafür, dass er die Frauen schlecht behandelt hat ... kein Mensch hätte wohl darüber ein Wort verloren,

      DENN

      es war eine andere Zeit

      und


      Herr Walser ist eine Person des öffentlichen Lebens.
      Avatar
      schrieb am 29.05.02 23:33:27
      Beitrag Nr. 50 ()
      @xylophon

      Du hast Recht, man muß erst das Buch lesen, zumindest eine verläßliche Rezension gelesen haben.

      Ich hatte mir vorgenommen, daß ich erst mehrmals lese, was Schirrmacher geschrieben hat.

      Ich muß sagen, mit der Zeit erschließt sich, was dahinter steht. Es ist eines dieser Artikel, die zunächst oberflächlich gelesen einen völlig anderen Eindruck hinterlassen, als wenn man sich Zeit nimmt, und Aussage zu Bekanntem zuordnet.

      Der Inhalt des Artikels verändert sich. Ohne daß sich ein Buchstabe verändert.

      @Bigshorter Natürlich darf Walser scheinheilig sein.

      Aber man fragt sich dann doch, wozu er diese einsetzt. Es ging darum, daß er scheinheilig monierte, man hätte ihm das Manuskript einfach nur zurückschicken sollen. Das nun ist völlig abwegig.

      Auch der Buchtitel ist dann womöglich scheinheilig und doppeldeutig. Auch das ist erlaubt, auch wenn es dann eigentlich " Halali" heißen müßte.

      Aber ich bin völlig mit Euch einig, man muß jetzt abwarten.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 11:56:36
      Beitrag Nr. 51 ()
      RR schlägt zurück und bezeichnet Walsers Buch als miserables Buch, womit er ihn am meisten zu treffen hofft. Aber dies dürfte Walser schon erwartet haben. Außerdem wiederholt er nun den Vorwurf des Antisemitismus. Aus der Reakton schließe ich, daß Schirrmacher sein Vorgehen mit RR abgesprochen hat.


      REICH-RANICKIS REAKTION

      "So schlecht hat Walser noch nicht geschrieben"

      Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat sich erstmals zu dem bereits vor seiner Veröffentlichung umstrittenen Roman Martin Walsers geäußert. Eine erste Lektüre kommentierte er mit den Worten: "Es ist wirklich ungeheuerlich".

      Die "Neue Zürcher Zeitung" ("NZZ" ) gehörte zu den wenigen Glücklichen, die am Mittwoch einige wenige Worte mit Marcel Reich-Ranicki wechseln durften. Der 81-jährige Literaturkritiker, ganz offensichtlich Subjekt des Romans "Tod eines Kritikers", kündigte zunächst an, sich nicht öffentlich äußern zu wollen. Nach einer ersten Lektüre des von "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher als "Dokument des Hasses" bezeichneten Werks, quittierte er Martin Walsers Roman-Farce gegenüber dem Schweizer Blatt mit den Worten: "Es ist wirklich ungeheuerlich".
      Reich-Ranicki kam zunächst nur auf den literarischen Wert des Romans zu sprechen: "Miserable Literatur" sei das Buch, das bereits heftig umstritten ist, ehe es überhaupt veröffentlicht ist. "So schlecht hat Walser noch nicht geschrieben", zitiert die "NZZ" den Kritiker. Aber auch der von Frank Schirrmacher in seinem offenen Absage-Brief gescholtene Subtext des Romans ist Reich-Ranicki nicht entgangen. Auch er, der im Roman als populärer und pompöser Literaturpapst André Ehrl-König fiktionalisiert wird, spricht von einem "antisemitischen Ausbruch, der ja wirklich offenkundig ist".
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 11:56:46
      Beitrag Nr. 52 ()
      .ich habe mir den Artikel von Schirrmacher nochmals genauer durchgelesen.

      Es mag sein, daß der Roman mir nicht gefallen würde, diese "Nachäffung" der Sprache von RR gefällt mir zum Beispiel gar nicht und die Handlung scheint mich auch nicht vom Hocker zu reißen. "Schlüsselromane" außer "Mephisto" sind ohnehin nicht unbedingt mein Fall, RR interessiert mich auch nicht so besonders.

      Es gibt gleichwohl 2 Dinge, die mich an dem offenen Brief stören: zum einen die Veröffentlichung zu dieser Zeit. Niemand ist in der Lage, sich selbst ein Bild zu machen, so daß der Brief den Charakter einer Vorverurteilung erhält. Die subjektive Wertung des Herrn S. ist für niemanden überprüfbar.
      Zudem fällt der Brief in eine Zeit, wo Walser (bewußt? ich denke ja) in die Nähe eines Möllemann, Karsli usw.. gerückt wird, wo er - wie ich schon mehrfach geschrieben habe - nicht hingehört. Hätte man 2-3 Wochen gewartet mit der Veröffentlichung, dann wäre das Echo ev. geringer gewesen, aber es wäre fairer ggü Walser gewesen.

      Zum anderen: das Vorurteil des "unzerstörbaren" ewigen Juden, nun mir ist es nicht bekannt. Und wenn es das geben sollte, m.W. gilt Unzerstörbarkeit doch eher als positive Eigenschaft. Läßt sich Bayern München, die dt. Nationalmannschaft und einige Produkte nicht geradezu damit feiern, daß sie NIE aufgeben, daß man sie nie besiegen kann? Oliver Kahn, ist er nicht deshalb der Held???
      Vielleicht muß man das Bedürfnis empfinden, "den Juden" zu zerstören, um in der Eigenschaft etwas negatives zu sehen? Aber wer tut das? Ich nicht. Walser kaum. Schirrmacher wohl hoffentlich auch nicht.

      Abgesehen davon gibt es auch Bücher in ähnlicher Form über andere Volksgruppen, gerade ein Buch, das in Frankreich viel diskutiert wird, das als "Haßbuch gegen die islamischen Einwanderer" verstanden wird von Michel Houellebecq. Literatur darf immer etwas mehr, gerade zur Literatur gehört es auch, andere Möglichkeiten auszuloten und Perspektiven einzunehmen, die im Alltag zunächst mal unvorstellbar und nicht hinnehmbar sind.


      Schließlich noch eine Anmerkung: man kann auch jemanden solange in eine bestimmte Ecke stellen, daß er am Ende in bewußter Provokation zeigt, wie es aussehen würde, wenn er wirklich in dieser Ecke stünde.
      Auch in Diskussionen hier erlebt man es doch gelegentlich. Ich selbst habe auch schon geschrieben, daß ich es begrüßen würde, wenn morgen eine Atombombe dem Palästineser-Problem ein Ende bereiten würde oder man die Flüchtlingslager einfach zusammenschießt - ohne wirklich diesen Wunsch zu verspüren, einfach weil es mir zu dämlich wurde, daß die Verteidigung Israels gleichbedeutend sein soll mit "uneingeschränkter Solidarität" mit den extremsten strategischen Varianten israelischer Kriegstreiber. Und wenn man in Dschenin von einem Massaker ausgeht, damit die Leute mal sehen, was "wirklich ein Massaker ist".
      Natürlich könnte ich in verantwortlicher Position nichts ähnliches sagen/schreiben. Aber hier in einer Diskussion kann das zulässig sein und ein Literat darf so etwas natürlich erst recht schreiben, wenn er bestimmte Personen mit bestimmten Auffassungen entwicklelt.

      Eine "politisch korrekte" (wobei ich den Begriff als Kampfbegriff nicht mag) Literatur wird es hoffentlich nie geben.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 12:29:35
      Beitrag Nr. 53 ()
      Au weia, politisch korrekte Kampfliteratur wird es niemals geben, sagst Du.

      Und was die Figur des ewigen Juden angeht, mach Dich doch mal schlau, statt hier darüber zu philosophieren, daß "Unzerstörbarkeit doch eher als poitive Eigenschaft" gilt.

      Das mag vielleicht für Dein Auto gelten.

      Hier geht es um Menschen.

      Da Du Dich als Literatur- nahe siehst, so weißt Du sicher, wieviele Werke über rastlos umherirrenden Kreaturen verfaßt wurden, deren ganzes Trachten darin bestand, endlich in den Zustand der "Zerstörbarkeit" gelangen zu dürfen, Ruhe finden zu dürfen.

      Da Juden dabei üffensichtlich "außen vor" sind, und eher den Status eines Bügeleisens haben, gilt für jene wohl, daß Unzerstörbarkeit eine positive Eigenschaft zu sein hat.

      Dessen ungeachtet, hat das Bild des "ewigen Juden" einen sehr konkreten Hintergrund, und auch hier war es die Höchststrafe, ihn ewig umherirren lassen. Immerhin hat man ihn in diesem Bild als einen Menschen gesehen, und nicht als eine Kohlenschaufel.

      Man muß, xylo, die Bilder schon beherrschen, wenn man sich dazu äußert, und RR reicht aus einer Zeit herüber, in der das Bild des ewigen Juden ein gängiges Hetzgemälde aus dem Tagesablauf darstellte.

      Ich verstehe, warum du den Musiker verteidigt hast.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 12:39:20
      Beitrag Nr. 54 ()
      @menacher

      mir schwant Übles. Hast Du einen Quellenhinweis auf das, was RR gesagt hat? NZZ?

      Bitte tue wenigstens Du uns den Gefallen und diferenziere genau:

      Es wurde unterstellt, daß die Verweigerung des Vorabdruckes durch die FAZ auf Druck von RR stattfand. Das halte ich für Käse.

      Du schreibst nun, daß RR die Vorabdruck- Unterlagen kennen wird. Das ist doch etwas anderes und impliziert doch nicht, daß dieser Vorabdruck von diesem verhindert wurde.

      Wir sollten versuchen, ein bestimmtes Niveau zu halten, und da wirst Du sicherlich nicht entgegenstehen. Lassen wir also die offensichtlich unhaltbaren Unterstellungen fallen.

      Das ist kein Aufruf an Dich, (es gäbe keinen Grund dazu), sondern die Bitte an Dich, dies zu unserer gemeinsamen Sache zu machen.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 13:08:16
      Beitrag Nr. 55 ()
      @Sep

      Tut mir leid, die Quelle nicht angegeben zu haben, obwohl ich mich sonst immer dazu bemühe.

      Der Text stammt aus dem Spiegel, nur der erste Absatz ist von mir.
      Ich habe lediglich unterstellt, daß eine Absprache stattgefunden hat. Damit meine ich, daß man RR nach seiner Meinung gefragt hat. An einen Druck von ihm, das Werk nicht vorher in der FAZ abzudrucken, glaube ich nicht.

      Den Satz vom "unsterblichen Juden" als Klischee habe ich auch als merkwürdig empfunden. Wird hier nicht eine Aussage konstruiert um dann anschließend gleich zum Klischee erklärt werden zu können? Oder verwechselt man es einfach mit dem Mythos vom "ewigen Juden"?
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 13:17:44
      Beitrag Nr. 56 ()
      Hier liefere ich auch noch den NZZ-Artikel von heute nach:

      ---------
      Unter Anklage
      Antisemitismus-Vorwürfe gegen Martin Walser

      Hat nach der deutschen Politik nun auch die deutsche Literatur ihren Antisemitismus-Skandal? Nach der Causa Karsli und Möllemann nun die Causa Walser? Man sollte es meinen, wenn man den offenen Brief liest, den der «FAZ»-Herausgeber Frank Schirrmacher gestern im Feuilleton seines Blattes an Martin Walser gerichtet hat. Walser hatte seinen neuen Roman, «Tod eines Kritikers», von dessen Existenz ausserhalb des Suhrkamp-Verlages kaum jemand wusste, der «FAZ» zum Vorabdruck angeboten. In seinem Brief begründet Schirrmacher, warum die Redaktion den Text nicht bringen will: Der Roman, in welchem es um die Ermordung eines Starkritikers durch einen Schriftsteller geht, sei eine kaum verschlüsselte Abrechnung des Autors mit Marcel Reich-Ranicki.

      Die Fiktionalität, die per se jedem literarischen Text zukommt, lässt Schirrmacher nicht gelten: «Ihr Roman ist eine Exekution», schreibt er, ein «Dokument des Hasses», «nichts anderes als eine Mordphantasie», «das Repertoire antisemitischer Klischees» sei «leider unübersehbar», und dass sich «der sogenannte Tabubruch als Travestie und Komödie» tarne - der angeblich Ermordete frönte in Wahrheit nur seiner Geliebten - helfe dem Buch auch nicht.

      Versagt hier tatsächlich jede relativierende Erklärung? Wir können das nicht beurteilen, da wir den Text, von welchem gestern Vormittag selbst in Suhrkamps Pressestelle der Umfang noch unbekannt war, noch nicht gelesen haben. Reich- Ranicki, der das Manuskript auch erst am Dienstagabend erhielt, kommentiert eine erste Lektüre mit den Worten: «Es ist wirklich ungeheuerlich.» Und wohl weil Reich-Ranicki davon ausgehen kann, dass der literarische Verriss Walser mehr schmerzt als eine Reaktion persönlicher Betroffenheit, verdammt er nicht nur den «antisemitischen Ausbruch, der ja wirklich offenkundig ist», sondern rückt das Kritikerurteil an die erste Stelle. «Miserable Literatur» sei das Ganze: «So schlecht hat Walser noch nicht geschrieben.»

      Frank Schirrmachers Vorwürfe sind starker Tobak, seine Argumentation scheint in sich schlüssig, die Belege wirken sprechend, und die Empfindlichkeit, welche ihn vor einem Vorabdruck zurückschrecken liess, kann der Leser nachvollziehen. Der Leser des offenen Briefes wohlgemerkt, der sonst nichts weiss. Martin Walser aber, und es ist seiner Stimme anzuhören, als wir ihn anrufen, steht einigermassen fassungslos vor dem Schirrmacher-Verdikt. Dass es um den Mord an einem Juden gehe und dass dies das Zentrum des Romans sei - «das ist nicht wahr». Dann liest er die am schärfsten inkriminierte Stelle vor und hält sie gegen Schirrmachers Interpretation: «Wie er das bringt, da hört es bei mir überhaupt auf.» Schirrmacher habe dem Buch ein Thema gegeben, das es gar nicht habe. «Alleiniges Thema» sei «die Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens». Walser liest, erläutert die literarische Konstruktion und die Rollenprosa, bittet den Zuhörer am Telefon beinahe inständig, genau aufzupassen auf den Konstruktivismus, um den sich Schirrmacher erklärtermassen nicht kümmern will. Er wirbt um ein trennscharfes Urteil, um Zustimmung, und als der Zuhörer vorsichtig bleibt und noch nicht weiss, was er von der Sache halten soll, da merkt man, wie in Walser die Enttäuschung wächst, und wie er zu ahnen beginnt, dass am Ende nicht Frank Schirrmacher wegen seines «skandalösen Vorgehens, über ein Buch zu schreiben, bevor die Leser es kennen können», öffentlich tribunalisiert werden wird, sondern er: Martin Walser.

      «Ich muss diese Absage öffentlich machen», schreibt Schirrmacher. Vielleicht musste er das wirklich. Aber unser Verwundern über den Stil dieses Vorstosses der «FAZ», die wir mit Martin Walser freundschaftlich verbunden wähnten, wollen wir schon festhalten. Hat nicht der «FAZ»- Literaturchef Hubert Spiegel kürzlich noch Martin Walser vehement verteidigt, als es im Vorfeld des Treffens mit Gerhard Schröder (NZZ 11. 5. 02) Vorverurteilungen setzte? Und ist nicht gerade erst am vergangenen Wochenende Walsers jüngst erschienene Sammlung «Aus dem Wortschatz unserer Kämpfe» differenziert, aber begeistert gewürdigt worden? Ganz zu schweigen davon, dass Frank Schirrmacher der von Walser eigens gewünschte Laudator an dessen Friedenspreisrede 1998 in der Frankfurter Paulskirche war. Man wird sagen: Um so schwerer wiegen nun die Vorwürfe. Wer schon immer die Ansicht streute, Walser kultiviere antisemitische Zungenschläge, wird sich nun sogar auf das Urteil des Ex-Laudators stützen dürfen. Hat Schirrmacher gut bedacht, welches Gewicht seiner Attacke zwangsläufig zukommen wird?

      Bei Suhrkamp findet man, der «FAZ»-Artikel verzerre Walsers Roman, und man will nun den Band möglichst rasch in den Handel bringen. Eingeräumt aber wird, dass das Buch auch im Verlag Gegner habe. Als «inhuman» rügen es einzelne Mitarbeiter. Vom kranken Siegfried Unseld, der die Zügel aus der Hand gegeben hat, ist eine Stellungnahme weder zu erhalten noch zu erwarten. Verlagsleiter Günter Berg, von Martin Walser bereits ausdrücklich und öffentlich als dessen neuer Verleger begrüsst, hat den Roman im Hause durchgesetzt - was man nur zu gut verstehen kann: Es ist «sein» erstes Buch mit dem Starautor. Aber eine glückliche Premiere, so viel lässt sich jetzt schon sagen, wird dies nicht werden.

      Joachim Güntner
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 13:48:52
      Beitrag Nr. 57 ()
      Nochmal Zitat Walser:

      "Aber am wenigsten begreife ich, dass Schirrmacher gegen jeden Brauch und Anstand über ein Buch schreibt und urteilt, das noch nicht erschienen ist."
      "Das Manuskript wurde der FAZ überlassen zur Prüfung, ob sie es vorabdrucken wolle. Wenn sie das nicht wollten, hätte eine Mitteilung an den Verlag genügt."

      Diesen beiden Aussagen stimme ich zu. Als langjähriger Abonnement-Bezieher der FAZ muß ich auch sagen, daß ein solches Verhalten für die FAZ extrem untypisch ist. In der 1998er-Debatte Walser-Bubis hat man -auch Schirrmacher- schlichtende Funktion ausgeübt und MRR verteidigte Walser inhaltlich gegenüber den Vorwürfen von Bubis, obwohl MRR die Form von Walsers Rede als ungeschickt, mißverständlich darstellte.

      Sep schreibt, ein anderes Verhalten der FAZ wäre nicht möglich gewesen:

      " Zunächst: es einfach zurückzugeben, hätte die FAZ nicht aus dem Feuer genommen, denn es wäre ja ohnehin bald bekanntgeworden, daß die FAZ dies nicht habe drucken wollen. Die FAZ hat dazu schon Stellung nehmen müssen.
      Dann aber muß dies von der FAZ so verstanden werden ? falls stimmt, was Schirrmacher schreibt ? daß Walser versucht hat, die FAZ zu benutzen, sie gegen ihren Kritiker in Stellung zu bringen.
      Sowas läßt man nicht kommentarlos über sich ergehen, wenn man für Öffentlichkeitsinformation zuständig sein will. Das geht überhaupt nicht.
      Walser argumentiert da scheinheilig.




      Dazu: Man muß als FAZ dazu Stellung beziehen. Aber man hätte auch dann Stellung beziehung können, wenn die Sache anderweitig "hochgekommen" wäre. Eine Mitteilung an den Verlag, wie von Walser vorgeschlagen, hätte doch tatsächlich genügt. Die Debatte würde jetzt nicht stattfinden. Die Begründung für die Ablehnung hätte man völlig unproblematisch z.B. zum Erscheinungstermin vorlegen können.
      Mir geht es also um den Zeitpunkt dieser Debatte. Sie wird zu einem Zeitpunkt geführt, zu dem sich kein Leser ein Bild von dem "Gesamteindruck" des Romans machen kann.
      Dies führt dazu, daß sich ein Bild über den Roman in den Köpfen festsetzt, der extrem von den jetzigen Äußerungen Schirrmachers und MRR (Zitat "ein antisemitischen Ausbruch, der ja wirklich offenkundig ist" geleitet ist.

      Ich bin gespannt darauf, inwieweit es mir möglich sein wird, diesen Roman "objektiv" zu lesen. Gerade weil es hier um die Bemühung antisemitischer Klischees gehen soll, dürfte dies sehr schwerfallen, denn gerade das Erkennen oder Hereinlesen oder Nicht-Hereinlesen von Klischees in Texte(n) ist eine sehr sensible, geistige Leser-Tätigkeit, die enorm durch Vorab-Erwartungen geprägt wird.

      Insofern wird dies ein - womöglich der Ernsthaftigkeit der Debatte nicht gerecht werdendes - sehr interessantes literarisches Experiment für jeden einzelnen Leser.

      Für mich bleibt die Form der Absage seitens Schirrmacher unfair.
      Fair wäre es gewesen, JETZT zu sagen "aus bestimmten Gründen werden wir den Roman nicht in der FAZ veröffentlichen" und ZUM ZEITPUNKT der Ersterscheinung genau diesen Brief zu veröffentlichen. Denn auch andere Kritiker haben jetzt nicht die Möglichkeit, Walser zu verteidigen.

      Eine Gerichtsverhandlung, bei dem nur der Angeklagte und die Staatsanwälte Einblick ins Beweismaterial haben und nicht auch der Richter (letztlich wir) oder mögliche Verteidigungsanwälte schmeckt mir überhaupt nicht.

      leary99
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 13:59:47
      Beitrag Nr. 58 ()
      P.S. Das Problem ist nämlich, daß die Gerichtsverhandlung gegen Walser genau JETZT stattfindet und zum Zeitpunkt unserer Beweismitteleinsicht höchstwahrscheinlich bereits - einhergehend mit einer erheblichen Schädigung seines Rufes - eine Art undefinierbarer öffentlicher Schuldspruch eines nicht mehr zu identifizierdenen Richters gefallen sein wird.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 14:18:06
      Beitrag Nr. 59 ()
      Ich habe gestern bis spät nachts online alles gelesen, was bereits über diesen skandal geschrieben wurde - dann, heute früh öffnete ich die NZZ und wurde gleich erschlagen:

      da steht (printversion) ganz klar, dass walser einen antisemitischen roman geschrieben habe :eek:

      ich habe dann auf meinen spaziergang über den text in der FAZ und in der NZZ nachgedacht und gelangte zum schluss: die müssen von RR inspiriert sein.
      warum ich zu dem schluss kam? weil schirrmacher schrieb: "Man hat mich unterrichtet, wie oft und wo überall in der modernen Literatur Kritiker gemordet werden." ... und weil das eben auch thema in RR`s autobiografie ist. die ganze argumentation der FAZ erinnert mich an das geschriebene von RR.

      walser hat keine chance mehr, das BILD, das sich die öffentlichkeit macht, zu korrigieren.


      EIN ETIKETT WIRD MAN NIE MEHR LOS

      also bedient man die wunschvorstellung
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 15:47:57
      Beitrag Nr. 60 ()
      KORREKTUR!!

      eben bin ich in`s cafe zurückgeeilt um nachzulesen, ob in der NZZ tatsächlich so ein artikel stand ( wie im letzten posting beschrieben) online konnte ich nichts finden.

      der erwähnte text steht nicht in der NZZ sondern im

      Tages Anzeiger, der vorspann lautet:

      In Deutschland bahnt sich ein Literaturskandal an. Im Mittelpunkt steht Martin Walser mit seinem neuen - antisemitischen - Roman.

      da hat eine journalistin einfach die meinung der FAZ übernommen :cry:

      jetzt online ist der text nicht zu finden... http://www.tagesanzeiger.ch/ta/taOnlineArtikel?ArtId=191989
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 16:32:22
      Beitrag Nr. 61 ()
      ..also zunächst mal: von "Kampfliteratur" war bei MIR nicht die Rede. Sondern von "politisch korrekter Literatur", also Literatur, die kein Tabu mehr anrührt. Wobei ich mir durchaus wünsche, daß gewisse Tabus respektiert werden, auch von Literatur. Aber ihre Aufgabe ist es eben auch, Grenzen auszuloten.

      Ansonsten: der "ewige" Jude. Auch dazu habe ich bereits erwähnt, daß mir dieser Begriff wenig sagt. Ich kenne ihn als negatives Klischee, aber nicht im Zusammenhang mit "Unzerstörbarkeit". Möglicherweise ist das eine Bildungslücke, aber dann muß ich eben eingestehen, daß ich sie habe.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 16:39:05
      Beitrag Nr. 62 ()
      ...ansonsten sehe ich genau das Problem wie leary99, daß der Zeitpunkt des offenen Briefes extrem unfair ist.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 16:40:24
      Beitrag Nr. 63 ()
      @bigshorter

      In Deutschland bahnt sich ein Literaturskandal an. Im Mittelpunkt steht Martin Walser mit seinem neuen - antisemitischen - Roman.

      ja es ist wirklich traurig.
      Gestern war es noch die MEINUNG eines Frank Schirrmachers, wie des MRR, daß das Buch - ich zitiere nur MRR - einen "antisemitischen Ausbruch, der ja wirklich offenkundig ist" enthält.

      Heute wird schon in einer Titelschlagzeile wie selbsverständlich - in berichtender Form - der Roman als antisemitsch bezeichnet.

      So schnell geht eine subjektive, bisher von zwei Personen getragene Meinung oder Behauptung als Nachricht, quasi objektivierende Feststellung in Zeitungen ein.
      Es handelt sich hier um die TATSACHENSCHAFFUNG einer Zeitung.

      Es wird gegen die journalistische Grundregel Nr. 1 verstoßen : Meinungen werden als Tatsachen hingestellt.

      Dass schon heute für eine Zeitung feststeht, daß Walsers Roman antisemitisch ist, so schnell hätte ich nicht damit gerechnet.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 16:45:51
      Beitrag Nr. 64 ()
      @leary99 danke für deine antwort. ich dachte schon, ich spinne. alles sitzt in strassencafes und ich hetze heim, um zu korrigieren, dass der text nicht in der NZZ steht `g`.

      ich habe den artikel aus dem tagesanzeiger rausgerissen, damit ich ihn hier abschreiben kann, ich hätte grosse lust, einen leserbrief zu schreiben. :mad:
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 16:51:06
      Beitrag Nr. 65 ()
      ..doch leider laufen ja heute Debatten genau nach diesem Muster. Wer die Definitionsmacht hat, der hat schon gewonnen.

      Beim Zuwanderungsgesetz war es die Regierung, die der Oppostition Blockade vorwerfen konnte, obwohl diese nur einige geringfügige - m.E. sinnvolle - Änderungen durchsetzen wollte, während die Regierung nicht mehr bereit war, in irgendeiner Form zu verhandeln.
      Im Falle Israels reden alle über deren Menscherechtsverstöße, während die Selbstmordattentate als Ausgangspunkt der isr. Strategie in einem Nebensatz mit erwähnt werden, "sind natürlich auch nicht in Ordnung". :mad:
      Und Walser ist ja für einige ohnehin schon der "antisemitsche Autor", der die "Schlußstrich-Debatte" eröffnet hat und nun mit "Versailles" ankommt. Jetzt muß das doch der letzte erkennen, "wo sogar sein alter Freund Schirrmacher von ihm abrückt" (wie schon J.Günther in dem NZZ-Artikel anmerkte).

      Inhalte und Zusammenhänge sind irrelevant, was zählt sind Schlagworte. Wer mehr davon gewinnt, der gewinnt auch insgesamt.
      In diesem Sinne haben Schirrmacher und RR mit ihren Äußerungen zum jetzigen Zeitpunkt "strategisch sehr geschickt" gehandelt. Ein Kompliment ist das nicht.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:04:53
      Beitrag Nr. 66 ()
      Dies ist Post von Wagner(Bild).

      30.05.2002
      Lieber Martin Walser,
      Von FRANZ JOSEF WAGNER

      ein Dichter ist ein Dichter wie eine Rose eine Rose. Ein Möllemann ist ein Müllmann, der braunen Wähler-Müll einsammelt („Michel Friedman mit seiner intoleranten, gehässigen Art“). Sie, Martin Walser, haben in Ihrem neuen Buch die Fantasie, Deutschlands zweitbekanntesten Juden zu ermorden, den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
      Welche Leser wollen Sie einsammeln?

      Die FAZ druckt Ihr Werk nicht ab, weil es „nicht um die Ermordung eines Kritikers als Kritiker geht“, sondern „um den Mord an einem Juden“. In Ihrem Buch machen Sie sich lustig über den Literaturpapst, dessen „Doitsch“ jiddisch klingt. „Schscheriftstellerr!“

      Lieber Herr Walser, die guten Farben und guten Gerüche einer Prosa hängen von all dem Unsichtbaren ab, die sie nähren. Ihre Tinte ist bräunlich – und was das Schlimmste ist, Sie Dichter, Sie riechen nicht mehr die schlechte Luft in Deutschland.

      Ich schreib Ihnen diese Zeilen aus meinem Zimmer 1913, Sheraton Sapporo, Japan. Über das Internet habe ich alles gelesen, und ich hab’s nun in meiner Nase. Den üblen Geruch.

      Ich hätte jetzt einen Cognac nötig. Aber was heißt Cognac auf Japanisch? Ein genauso schwieriges Wort wie Einsamkeit. Sie, Walser, machen einsam.

      Ich sehne mich so, über Fußballer zu schreiben, die ohne Müll ihr Ding machen.

      Herzlichst




      Jetzt können Sie Franz Josef Wagner auch eine E-mail schreiben: fjwagner@bild.de


      Wir sollten ihm alle eine Protestmail schicken.

      Irgend so etwas:


      "Sehr geerhter Herr Wagner.

      Was sind sie für ein Journalist?

      Sie richten über Walser und sein Buch, haben es aber garnicht gelesen.

      Wenn das guter Journalismus ist, dann kann man die Pressefreiheit von mir aus auch abschaffen.

      Mit freundlichen Grüßen"


      Vielleicht kann einer einen schönen Text schreiben, denn wir dann alle mit cut and past an diesen Top Journalisten schicken.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:06:52
      Beitrag Nr. 67 ()
      hab`s auch gerade eben gelesen :eek:

      MANN, ich könnte nur noch leserbriefe schreiben!!!

      könnten wir nicht gemeinsam etwas verfassen?
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:13:18
      Beitrag Nr. 68 ()
      ....ein mieser Mistkerl ist dieser Wagner offensichtlich. Aber was wird es helfen. Das Urteil ist schon gesprochen, bevor die Beweisaufnahme auch nur begonnen hat.

      (Wobei es "ein Stück aus dem Tollhaus" ist, daß ausgerechnet die Bild-Zeitung so einen Müll schreibt. Bei denen ist es doch wirklich reiner Zufall, wer jetzt auf der Täter- und wer auf der Opferseite Platz nehmen darf. Ist bei denen jetzt Friedmann der Böse oder Möllemann? Und jetzt sind sie also Verteidiger des Herrn RR gegen den antisemitischen Nazi Marin Walser, den alten KZ-Wächter. Ich könnte kotzen).



      Ansonsten: Deine Mail ist doch gut. Kurz und auf den Punkt, wie es die Bild-Zeitung liebt. Von daher, schick sie ihm ruhig. So versteht er sie wenigstens. Vielleicht mach ich mir auch den Spaß. Es wird aber nichts helfen.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:14:56
      Beitrag Nr. 69 ()
      whow, xylophon,

      Kompliment für #65, und das meine ich ohne den allergeringsten Unterton!
      Sehr klug und sehr treffend!

      Gruß, DM

      P.S.: Ich war in der Vergangenheit immer mal anderer Ansicht als Du und werde mich sicher des öfteren noch eines Besseren belehren lassen müssen, aber hier bin ich mir ganz sicher, daß Du den Kern der Sache getroffen hast.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:18:04
      Beitrag Nr. 70 ()
      ..wahrscheinlich wird die Mail aber doch nichts helfen, dieser Herr Wagner kapiert offensichtlich GAR NICHTS: sonst hätte er nicht ausgerechnet die Teile von Möllemanns Zitat weggelassen, die den eigentlichen Vorwurf begründen:

      Ein Möllemann ist ein Müllmann, der braunen Wähler-Müll einsammelt („Michel Friedman mit seiner intoleranten, gehässigen Art“ ).

      ...wie Friedmann schon richtig sagte: mich als Person darf man durchaus kritisieren. Das Problem ist der zweite Teil, wo diese "Art" für "den Antisemitismus" verantwortlich gemacht wird, also für die Geisteshaltung derer, die ihre Aversion gegen die Person Friedmann auf "die Juden" übertragen. DEN TEIL läßt Schlaumeier Wagner aber natürlich weg. Er kapiert GAR NICHTS.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:20:57
      Beitrag Nr. 71 ()
      .Musiker: danke für die warmen Worte, ging runter wie warmes Öl (sagt man doch, oder?). Bin nämlich gesundheitlich ein wenig angegriffen, da freut man sich doppelt über was Schönes.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:22:31
      Beitrag Nr. 72 ()
      @menacher

      " Tut mir leid, die Quelle nicht angegeben zu haben, obwohl ich mich sonst immer dazu bemühe"

      Vorangegangen war kein Vorwurf an Dich, sondern eine Bitte, ich wollte irgendwo den Faden aufnehmen. No problemo.

      Ich habe mich inzwischen auch durch die diversen Kommentare gelesen, Mich hat stutzig gemacht, daß es bei Suhrkamp dazu offensichtlich auch divergente Meinungen gab. Und daß Walser den Verlag gebeten habe, rechtsmittel gegen die FAZ einzulegen. Was der Verlag aber abgelehnt hat.

      Ich hoffe, ihr habt das auch gelesen, sonst muß ich nochmal nach Links suchen gehen.

      RR hat wohl Ausschnitte gelesen. Ich verweise darauf, daß wir hier festgestellt hatten, daß RR in dieser Antisemiten- Frage sicherlich eine eher distanzierte Rolle einnimmt, er ist da kein Pusher.

      Dennoch äußert er sich eindeutig.
      Schirrmacher äußert sich in dieser Weise.
      Der Verlag ist gespalten.

      Ich denke, wir werden eine Diskussion darüber bekommen, was Antisemitismus überhaupt ist.

      Der Roman scheint in der Kategorie der ganz normalen Hetze zu landen. Oder aber Schirrmacher ist am Ende seiner Karriere.

      Hetze gegen einen Juden ist Antisemitismus. Was sonst ? Oder gibt es dazu noch Judenhetze, die kein Antisemitismus ist ? Ich hetze gegen einen, der Jude ist, aber will es lediglich als stinknormale Hetze gegen ihn verstanden wissen und trenne säuberlich davon den Teil der Hetze ab, der antisemitisch wäre ?

      Das wird interessant.

      Der Vorwurf an die FAZ, diese habe sich unfair verhalten.

      Können wir das nicht auch erst genauestens wissen, wenn auch wir den Text kennen?

      Wer weiß, vielleicht ist der Text antisemitisch, ein Dokument des Hasses, und man ist wirklich so entsetzt, daß man einem Schriftsteller mit einer öffentlichen Ablehnung des Vorabdruckes entgegentreten muß ?

      Der zum Vorabdruck vorgelegte Text sei nicht derjenige, der zur Veröffentlichung gelangen soll. Lese ich recht ? Na dann verstehe ich die Aufregung überhaupt nicht. Wieso schickt man der FAZ einen Text zum Vorabdruck, der nicht abgedruckt werden soll?

      Vielleicht würde die FAZ also am Ende den eigentlichen, also den richtigen Text gar doch noch abdrucken wollen?

      Cool bleiben, das ist alles nicht kosher.

      Es erinnert mich ein wenig an den Leverkusen- Trainer Daum, der zur Entlastung des gegen ihn vorgebrachten Vorwurfes, Kokain zu nehmen, eine Harrprobe abgab.

      Und damit den Verdacht zur gewißheit werden ließ.

      Warum hat er das nur gemacht ? Das Unterbewußtsein spielt halt immer mit.

      Also trat Daum vor die Presse und gestand: ja, er habe gelogen, ja er habe Kokain genommen.

      Am Ende, vor Gericht, sah alles dann doch wieder ganz anders aus. Die Proben waren zweifelhaft, das bis dahin eindeutige Verfahren fragwürdig, das öffentliche Geständnis war gelogen.

      Und wir alle werden uns fragen müssen: hatte der Daum nun glasige Augen und fahrige Bewegungen, oder aber ist Walser frei von allen unbewußten Bewegungen, und überzieht MRR nicht mal wieder mit seiner Kritik, nachdem wir dann wissen werden, was für einer der überhaupt ist.

      Die Verurteilung einer Vorverurteilung eines Buches, das offensichtlich darauf aus ist, einen Kritiker mit literarischen, als juristisch nicht angreifbaren Mitteln zu verurteilen.

      Auch irgendwie ne Form der Scheinheiligkeit

      SEP
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:31:04
      Beitrag Nr. 73 ()
      .nun, ohne den Fall Daum vertiefen zu wollen: das Problem dort war ja nicht, daß das Gutachten unbrauchbar war, nur daß zu weitgehenden Schlüsse daraus gezogen wurden - möglicherweise. Daum war also keineswegs unschuldig, allenfalls war er weniger schuldig als es zunächst aussah.
      (Auch im übrigen ein Beispiel, das zur Nr. 65 gepasst hätte, wenn man sich erinnert, wie damals auf Herrn Hoeneß eingeprügelt wurde, als er die Sache anstieß. Auf einmal war er danach der Gute und Daum der Böse, und so weiter).


      Ansonsten zur 72: der zweite Teil würde voraussetzen, daß überhaupt noch eine sachliche unvoreingenommene Diskussion stattfinden wird. Der Vorwurf, den man Schirrmacher jedoch machen muß, dass er - gerade angesichts der herrschenden Diskussionskultur, von der wir bereits erste Beispiele zur Kenntnis nehmen durften - eine solche offene Diskussion verhindert, zumindest aber massiv erschwert hat. Durch die Veröffentlichung dieses Briefes.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:36:00
      Beitrag Nr. 74 ()
      @Sep

      Der Vorwurf die FAZ habe sich unfair verhalten, ist berechtigt und zwar egal ob Schirrmacher mit seinem Vorwurf recht hat oder nicht.

      Und zwar ganzeinfach deshalb, weil er die Öffentliche Meinung zu einem Zeitpunkt prägt zu der diese sich garnicht informieren kann.
      Schirrmacher hätte Walser persönlich die Meinung sagen dürfen. Aber er hätte nicht mit der ganzen Macht eines FAZ Redakteuers seine Meinung vor die Öffentliche Diskussion stellen dürfen.
      Das halte ich doch für zumindest eine sehr fragwürdige Methode.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:37:22
      Beitrag Nr. 75 ()
      Andererseits:

      Der Walser hätte sich garkeine bessere Werbung wünschen können.

      Wer von jedem gemocht werden will, wird von keinem geliebt.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:43:06
      Beitrag Nr. 76 ()
      Die Reich-Ranicki AG

      Der Literaturkritiker wird heute 80 Jahre alt. Seine Ich-Aktie steht auf Höchstkurs



      Von Mathias Döpfner



      Wenn Marcel Reich-Ranicki in die Oper geht, und er geht immer noch in jede Frankfurter Premiere, dann legt er Wert darauf, weit vorne zu sitzen. Er pflegt seinen Platz spät einzunehmen, wenn alle schon sitzen. Und bevor er sich niederlässt, blickt er in die Runde, nach hinten, wie ein König, der sich seinem Volk zuwendet. Marcel Reich-Ranicki liebt das Publikum. Er lebt und schreibt für das Publikum. Und er weiß, dass das nur funktioniert, weil er eitel ist: "Kritiker müssen eitel sein, sonst können sie gleich Buchhalter werden."

      Marcel Reich-Ranicki inszeniert die Selbstdarstellung als Kritiker, als Literaturpapst und Autorenschreck lustvoll. Es ist ihm bewusst, dass er längst ein Markenzeichen, ein Markenartikel geworden ist. Seine Stimme, das bedrohlich rollende "R", der jäh auffahrende Diskantschrei und das explosionsartige Lispeln werden auf jeder Party und sogar in Werbespots parodiert. Und wenn ein Lexikonverlag, eine Plattenfirma den Absatz steigern wollen, dann greifen sie in Werbung und PR gerne auf das Reich-Ranicki-Branding zurück. Also agiert der Kritiker als Unternehmer in eigener Sache. Und als Vorstandsvorsitzender der Reich-Ranicki AG kann er zufrieden sein mit der Kursentwicklung der Ich-Aktie.

      Seit der Übersiedlung in die Bundesrepublik 1958 sind seine Arbeiten am deutschen Literaturmarkt notiert, in den sechziger Jahren steigt der Kurs durch das Temperament und polemische Feuer seiner Kritiken in der "Zeit". 1973 holt ihn Joachim Fest als Literaturchef ins Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"; stilistischer Furor und unverholener Machtwille werden nun auch noch durch eine Institution von allerhöchster Autorität untermauert. Eine nachhaltige und bis 1988 anhaltende Hausse ist die Folge. Zu einer kurzen Kurskorrektur kommt es nach dem Zerwürfnis mit Fest, von dem Reich-Ranicki sich während des Historikerstreits entfremdet.

      Reich-Ranicki spürt nach seiner Pensionierung die Chancen und die Macht des Fernsehens und erschließt sich das neue Wirkungsfeld mit dem "Literarischen Quartett". Aus der Elitenmarke Reich-Ranicki wird ein überaus erfolgreiches Massenprodukt. Der Kurs schnellt in die Höhe, bis es im Sommer 1994 zu einem überraschenden Einbruch kommt. Der Sohn des mit Reich-Reinicki zuerst freundschaftlich, dann feindschaftlich verbundenen Rhetorikprofessors Walter Jens enthüllt in einem Fernsehbeitrag, dass der Literaturkritiker nach dem Zweiten Weltkrieg für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hat. Reich-Ranicki dementiert zunächst und korrigiert sich erst, nachdem weitere Veröffentlichungen die Kontakte belegt haben. Nur kurz ist der Glanz des Unternehmens Reich-Ranicki getrübt, doch schon 1996 ist die Baisse überwunden, der Kurs steigt wieder. Den vorläufigen Höhepunkt in der Marktbewertung bewirkt die Veröffentlichung der Autobiografie Reich-Ranickis. Das Buch wird ein spektakulärer Erfolg und übertrifft mit einer bisher verkauften Auflage von mehr als einer halben Million die Verkaufszahlen der meisten von Reich-Ranicki besprochenen und protegierten Bücher. Im Jahr 2000, zum 80. Geburtstag Marcel Reich-Ranickis, steht seine Ich-Aktie auf Höchstkurs.

      In keiner Branche wirkt Erfolg, vor allem kommerzieller Erfolg, so provozierend, ja unanständig wie in der deutschen Literaturszene. Neid macht einsam. Marcel Reich-Ranicki hat gelernt, mit Einsamkeit und Neid zu leben. Mitunter scheint er den Neid fast zu genießen - als aufrichtigste Form der Anerkennung. Das Bild vom hemmungslos den Shareholder-Value pflegenden Ich-Aktionär ist allenfalls die halbe Wahrheit.

      Die andere, die dunkle Seite seines Lebens hat Marcel Reich-Ranicki nach langem Zögern selbst enthüllt. Die schrecklichsten Kapitel des eigenen Lebens, wie der 18-Jährige von den Nazis aus Berlin nach Polen deportiert wird; wie das Warschauer Ghetto den Menschen das Leben und die Würde nimmt; wie der junge Marcel Reich von seiner Mutter zu den Nachbarn geschickt wird, um dem Kind zu helfen, dessen Vater sich gerade aufgehängt hat ("Kümmere dich um das Mädchen"), was dazu führt, dass der 20-Jährige neben einer Leiche die Liebe seines Lebens findet; und schließlich wie er den Abtransport seiner Eltern beobachtet, die, vor Angst rennend, in die Viehwaggons der Vernichtungslager getrieben werden, die Mutter trug "einen hellen Regenmantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte" - diese Erinnerungen prägen sein Buch "Mein Leben" und gehören zu den eindringlichsten Kapiteln deutschsprachiger Autobiografik. Wer sie liest, wer die persönlichen Traumata kennt, versteht Marcel Reich-Ranicki besser, seine Unruhe, seinen Ehrgeiz und seine euphorisch-depressive Ambivalenz.

      Reich-Ranicki wollte oder musste immer weg, raus, woanders hin. Raus aus dem kleinen Kaff Wloclawek an der Weichsel, rein in die große Kulturmetropole Berlin, raus aus der tödlichen Bedrohung und Barbarei des Warschauer Ghettos, hinein in die Sicherheit einer zivilisierten Kulturnation, raus aus der kommunistischen Gesinnungsdiktatur Polens, hinein in den freien, selbstkritischen Diskurs des Sechziger-Jahre-Deutschland, raus aus dem Elfenbeinturm des einsamen Literaten, hinein in das pralle Leben des Literaturbetriebs auf offener Bühne.

      Bei allem Erfolg ist Reich-Ranicki ein misstrauischer Mensch geblieben. Immerzu wittert er die Verschwörung. Es dauert lange, bis er sich öffnet. Und ganz öffnet er sich nie. Rastlos sitzt er da, trippelt mit dem Fuß, rutscht vor und zurück, wiegt den Körper, wandert mit den Augen nervös hin und her oder himmelwärts und schürzt und kräuselt die herzförmig aufgeworfenen Lippen. Gelassen, in sich ruhend, wirkt nichts an diesem 80-Jährigen. Und das ist keine Schwäche, sondern sein Motor. Ein Leben auf der Flucht. Heimat ist ihm fremd. "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude", hat Reich-Ranicki einmal gesagt - und damit die Dinge, um der Pointe willen, etwas einfacher gemacht, als sie sind. Denn selbst das Judentum ist ihm keine richtige Heimat.

      Religion zumindest war ihm immer fremd. Reich-Ranicki ist auf fast trotzige Weise areligiös. Er war nie Mitglied der jüdischen Gemeinde, hat - von einer unvermeidlichen Ausnahme abgesehen - nie eine Synagoge besucht, und die Texte des Gebetbuchs hält er für "indiskutabel". Das Judentum ist für ihn also keine Religionsgemeinschaft, nichts, auf dessen jahrtausendealte Tradition man stolz sein könnte, sondern eher ein - bisweilen lebensgefährliches - Ausgrenzungsmerkmal, das isoliert - und allenfalls dadurch verbindet.

      An den Wänden eines Kölner Kellers, in dem sich während des Holocaust einige Juden versteckt hatten, fand man 1945 folgende Sätze: "Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt." Reich-Ranicki würde das vermutlich kitschig nennen, zumindest naiv. Weil die religiöse Identifikation fehlt, definiert er das Jüdischsein überwiegend ex negativo. Das latente Gefühl, ausgegrenzt zu sein, nicht dazugehören zu dürfen, hat ihn ein Leben lang geplagt und getrieben. Auf die Frage, ob er - wenn er wählen könnte - lieber als Jude oder als Nichtjude auf die Welt kommen würde, antwortete er wie aus der Pistole geschossen: "Selbstverständlich als Nichtjude. Da gibt es keinen Augenblick des Zweifelns. Es ist kein Vergnügen, einer Minderheit anzugehören. Sie wissen nicht, was man für einen täglichen Kummer hat."

      Für Reich-Ranicki ist das Judentum allenfalls eine Schicksalsgemeinschaft, vor allem aber eine Kulturgemeinschaft. Auf die Errungenschaften und die Helden des deutschjüdischen Bildungsbürgertums ist Reich-Ranicki stolz: Mendelssohn, Mahler und Weill, Heine und Börne, Schnitzler und Döblin, Freud und Kafka, Kerr, Kraus, Polgar und Tucholsky - das ist seine Welt. In der Tradition der letzten vier vor allem steht seine Arbeit. Reich-Ranickis einziger Patriotismus gilt der deutschen Sprache. Sie ist seine größte Liebe und seine einzige Heimat. Weshalb er - trotz allem - auf Deutschland zurückgeworfen wurde und auf Deutschland zurückgeworfen bleibt.

      Auf den Fluren der "FAZ" pflegte Reich-Ranicki in den achtziger Jahren mit dem Satz zu kokettieren: "Ich lebe gefährlich, weil ich verständlich schreibe." Schon wahr, dass er dafür von verschrobenen Seminaristen und den Großmeistern des vorgetäuschten Tiefgangs verachtet wird. Zugleich ist es sein größtes Erfolgsgeheimnis. Marcel Reich-Ranicki hat große Literaturkritiken geschrieben. Meilensteine des Genres. Auf den ersten Blick kultiviert er einen mühelosen, schnörkellosen Geradeaus-Stil. Hauptsätze, Hauptsätze, Hauptsätze, kaum Fremdworte, wenig Metaphern und eine klare, an gesprochene Rede erinnernde Gedankenführung.

      Bei genauer Betrachtung jedoch sind Reich-Ranickis Texte kunstvoll inszeniert, dramaturgisch bis ins Detail geplant und mit Doppelpunkten, Haltepunkten, Einwürfen und rhetorischen Fragen auf Wirkung, Verblüffung und Pointe angelegt. Der Autor strukturiert die Lektüre seiner Texte wie ein gutes Theaterstück. Und je natürlicher, leidenschaftlicher und spontaner es wirkt, desto kunstvoller ist es angelegt. Nicht der Leser, der Autor soll sich quälen. Reich-Ranicki tut das immer noch, wägt und verwirft Worte oder ganze Passagen.

      Natürlich liebt Reich-Ranicki wie jeder gute Kritiker die polemische Überzeichnung. Früher, wenn in der Feuilletonredaktion der "FAZ" wieder einmal ein allzu ausgewogenes "Einerseits-andererseits-Stück" abgeliefert wurde, donnerte er seinen Merksatz: "Man muss überzeichnen, um verstanden zu werden." Seine Schüler, die Reich-Ranicki wie jeder Machtmensch herangezogen hat, beherzigen das. Und der Lehrmeister sorgt wie ein Pate dafür, dass "seine Leute" an verschiedenen Stellen sein Erbe antreten. Uwe Wittstock, Volker Haage und Ulrich Weinzierl gehören dazu. Und in gewisser Weise auch Frank Schirrmacher, der, von seinem Mentor Fest enttäuscht, in die Arme des Antipoden getrieben wurde, wo er vom Temperament her schon immer hingehörte.

      Kritik ist kein Urteil, sondern ein Plädoyer. Und der Kritiker ist nicht Richter, sondern Anwalt des Publikums. Auch wenn Reich-Ranicki, wie jeder große Kritiker, manchmal am liebsten Anwalt und Richter zugleich wäre. Der Mut zum leidenschaftlichen Urteil, zur klug begründeten, aber manchmal überspitzten ästhetischen Wertung ist Voraussetzung einer vitalen Kritik. Sie soll und will ihr Publikum für den Kunstgegenstand interessieren, sie soll und will Literatur wichtig machen. Also darf Kritik alles, nur nicht langweilen. Reich-Ranicki hat das seinem Naturell entsprechend beherzigt und mit untrüglichem Sinn für Debatten intellektuellen Streit gesucht. Keine Frage: Marcel Reich-Ranicki verkörpert die gebildetste Form des Radaujournalismus.

      Wenn seine Feinde die Köpfe zusammenstecken, versuchen sie ihn gerne als "Showmaster des deutschen Literaturbetriebs" zu diskreditieren. Was für ein Kompliment! Denn genau an diesen Showmastern fehlt es so sehr in Deutschland. Es herrscht gefährlicher Mangel an kompetenten Popularisierern, an leidenschaftlichen Übersetzern zwischen der hermetischen Welt der Literaten und dem oft verunsicherten, suchenden Publikum. Keiner in Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten mehr für die Literatur getan als Marcel Reich-Ranicki. Und dass es der deutschen Literatur nicht so geht wie dem deutschen Theater oder der deutschen Avantgardemusik, die unter Ausschluss des Publikums dahinsiechen, ist auch sein Verdienst.

      Reich-Ranicki hat viele Autoren verletzt, gedemütigt, vielleicht sogar ungerecht behandelt. Dass irgendein von ihm verkanntes Genie durch Reich-Ranickis Angriffslust vernichtet worden wäre, gehört zu den larmoyanten Legenden seiner Feinde. Selbst seine Lieblingsgegner, Grass und Walser, haben vom charismatischen Widerstand ihres begabtesten Kritikers langfristig nur profitiert. Schlimm ist es allein, von Reich-Ranicki ignoriert zu werden. Unterschätzt wird gerne, dass der leidenschaftliche Verreißer ebenso leidenschaftlich loben kann. Max Frisch, Wolfgang Koeppen, Hermann Burger, Ulla Hahn und Sarah Kirsch haben es erlebt.

      Doch bei allem Engagement für die zeitgenössische deutsche Literatur erweist sich Reich-Ranickis Literaturgeschmack als ein zutiefst bürgerlicher. Goethe und Thomas Mann sind die Hauptfiguren in dieser Welt. Die zärtlichsten Formen nimmt seine Liebe zu Thomas Mann an. Nicht unwichtig ist hierbei, was Frank Schirrmacher in einem Aufsatz geschrieben hat: dass Mann "die Gegenfigur zu Adolf Hitler" ist, oder, wie Reich-Ranicki selbst es einmal ausgedrückt hat: "Hitler und Thomas Mann sind die beiden Möglichkeiten des Deutschtums." Der Schriftsteller als Projektionsfläche des anderen, des kultivierten, weltoffenen Deutschlands und damit auch als Legitimation für die eigene Rückkehr in das Land der Shoah - sicher spielt das eine Rolle. Und doch sollte die schiere Bewunderung Reich-Ranickis für das Artistische, für das virtuose Sprachhandwerk des "ironischen Deutschen" Thomas Mann nicht unterschätzt werden. Hier bewundert der eine Zauberer die Tricks des anderen. Hier findet sich ein sehr ähnlicher Humor. Und schließlich trifft sich die gebrochene Sehnsucht nach einer großbürgerlichen Welt, zu der Reich-Ranicki bei aller Zwiespältigkeit auch ein bewunderndes Verhältnis hat. Tief im Inneren mag hier sogar auch eine soziale Sehnsucht mitschwingen.

      Reich-Ranickis Lieblingsoper heißt "Meistersinger", ausgerechnet die deutsche Nationaloper schlechthin, die mit ihrem Spannungsbogen von dem ehrgeizig-strengen Kritiker Beckmesser bis hin zu dem nach Neuem suchenden Schuster Sachs den Spannungsbogen in Reich-Ranickis Persönlichkeit beschreibt.

      Ruhm, Macht, Liebe, Tragik, Flucht, Neid, Hass, Angst, Rausch - Marcel Reich-Ranicki hat alles gehabt. Und von allem mehr als die meisten. So sitzt er denn in seinem 80. Lebensjahr in seiner Neubauwohnung in Frankfurts Dichterviertel und beobachtet halb erfreut, halb verwundert die späte Phase der eigenen Geschichtswerdung. Das Temperament wird Monument. Reich-Ranicki gehört zu den wenigen, die diesen Prozess selbst erleben dürfen. Oder müssen. Denn dieser Triumph ist immer auch eine Art Anfang vom Abschied.

      Neben ihm auf dem von der Nachmittagssonne gewärmten Ledersofa sitzt Tosia, das "Mädchen", um das er sich kümmern sollte und um das er sich ein Leben lang gekümmert hat - wie Tosia sich um ihn. Die beiden sprechen von damals: "Ja, damals", sagt Tosia, "da waren wir zusammen in der Hölle - und auch im Himmel."

      Die Angst vor der Hölle hat ihn dorthin gebracht, wo er immer hinwollte. Marcel Reich-Ranicki ist neben Alfred Kerr der größte Kritiker des 20. Jahrhunderts. Herzlichen Glückwunsch.




      Zur Person


      Marcel Reich-Ranicki wurde heute vor 80 Jahren in Wloclawek an der Weichsel geboren und wuchs in Berlin auf. Von 1960-1973 war er ständiger Literaturkritiker der "Zeit", von 1973-1988 leitete er die Redaktion Literatur und literarisches Leben der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Gastprofessuren in Stockholm, Uppsala, Tübingen, Düsseldorf. Seit 1988 leitet er das "Literarische Quartett" im Zweiten Deutschen Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderen die Ehrendoktorwürde der Universitäten Uppsala, Augsburg, Bamberg und Düsseldorf, den Ricarda-Huch-Preis (1981), den Thomas-Mann-Preis (1987), den Bayerischen Fernsehpreis (1991), den Ludwig-Börne-Preis (1995), die Goldene Kamera (2000). Er publizierte mehr als 50 Bücher und Essaybände. Seine Autobiografie "Mein Leben" (DVA, Stuttgart, 1999) avancierte zum erfolgreichsten deutschsprachigen Sachbuch 1999/2000.

      http://www.welt.de/daten/2000/06/02/0602ku171399.htx
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 17:59:52
      Beitrag Nr. 77 ()
      SEK: das Problem bei Nr. 75 ist nur, daß Herr Walser zu denen zählt, die eigentlich keinen gesteigerten Wert auf Werbung oder Publicity legen, sondern eher ruhig und sachorientiert arbeiten und ggf. diskutieren wollen.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:10:22
      Beitrag Nr. 78 ()
      Schickt alle diese Mail an Wagner von Bild.de

      E-Mail: fjwagner@bild.de

      Betreff: Vertragen sie Kritik

      Sehr geehrter Herr Wagner,

      bezüglich ihres offenen Briefes an Walser muss ihnen doch diese Frage stellen:


      Was sind sie für ein Journalist?


      Sie richten über Walser und sein Buch, haben es aber gar nicht gelesen. Ein Journalist soll doch Menschen informieren. Oder irre ich mich? Informieren kommt, soweit ich weiß, von Information. Ohne Information kann man also nicht informieren. Wieso kommen sie denn dann auf die Idee einen richtenden offenen Brief an Walser zu schreiben.

      Sind sie sich ihrer meinungsbildenden Position und der damit verbundenen Verantwortung nicht bewusst?

      Sie stützen ihre Meinung auf Gerede, dass weder sie noch ich zu diesem Zeitpunkt nachprüfen können. Ich gehe davon aus, dass sie wissen, dass Walsers Roman erst im August erscheint und er bis dahin sozusagen wehrlos ist.

      Wenn sie aber in diesem Wissen so gehandelt haben – auf einen wehrlosen losgegangen sind, weil es gerade en Vouge ist – dann sind sie leider nicht viel besser als diese Leute mit den etwas zu kurzen Haaren, dem etwas zu steifen rechten Arm und den etwas zu leeren Köpfen die unser Land so in Verruf bringen.
      Ich hoffe inständig, dass dem nicht so ist.

      Deshalb bitte ich sie:

      „Schreiben sie in ihrer nächsten Kolumne „Post von Wagner“ doch mal an sich und ihre Kollegen und fordern sie zu fairem, kritischen und guten Journalismus auf.


      Mit freundlichen Grüßen

      Ihr Name

      P.S.: Sollten sie das Buch tatsächlich in einem Vordruck gelesen haben, hätten sie dies erstens schreiben sollen und zweitens hätte diese Tatsache nichts an Walsers Wehrlosigkeit bis zur Veröffentlichung geändert. Wenn ihnen diese Zeilen dennoch so sehr auf der Seele gebrannt haben, dann hätten sie auch direkt an ihn schreiben können.





      Wenn das mehrere leute schicken, dann liest er die Mail vielleicht.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:16:23
      Beitrag Nr. 79 ()
      xylophon, walser hat sich m.e. provozieren lassen.
      Vielleicht hat RR ihn dauernd gereizt mit seiner `Unantastbarkeit` Es wird wohl NIEMAND genau verstehen, was sich da abspielt :eek:

      http://www2.tagesspiegel.de/archiv/2002/05/29/ak-kl-4411723.…

      Eine Mordsaffäre

      In seinem neuen Roman spielt Martin Walser mit dem "Tod eines Kritikers". Im Visier ist Marcel Reich-Ranicki



      Helmut Böttiger

      Immer, wenn Martin Walser groß herauskommen wollte, war Marcel Reich-Ranicki schon da. Das ging über Jahrzehnte so, und da muss sich in Walser langsam etwas angesammelt haben, das einmal nach Erlösung drängte. Der Walser-Roman, den der Suhrkamp-Verlag für Ende August ankündigt, scheint nun zum Ventil zu werden. "Tod eines Kritikers" heißt er. Was da genau drinsteht, wurde wie ein Staatsgeheimnis gehandelt. Man konnte nur ahnen und munkeln, und Walser inszenierte dieses Ahnen und Munkeln in seiner zwischen Staatsmann und Stammtisch schillernden Inszenierungskunst gleich mit. Als er neulich bei Gerhard Schröder im Kanzleramt zu Gast war, kam ihm das für den Staatsmann-Anteil dabei sehr zupass.

      Welche Rolle in dieser Aufführung Frank Schirrmacher zugedacht ist, dem für Kultur zuständigen Herausgeber der FAZ, werden vielleicht die nächsten Tage deutlicher zeigen. In der FAZ von gestern begründet Schirrmacher in einem Offenen Brief an Walser, warum dessen neuer Roman nicht, wie sonst üblich, in der FAZ vorabgedruckt wird: Es handle sich "um ein Dokument des Hasses". Im Zentrum steht die Ermordung eines Starkritikers.

      Dass dieser den Namen "André Ehrl-König" trägt, zeigt Walsers Willen zur Schmiere. Das Vorbild Reich-Ranicki ist überdeutlich, Walser versucht sogar ziemlich verzwungen, die Sprechweise des Fernsehkritikers zu imitieren. Am Schluss stellt sich für Schirrmacher folgendes heraus: "Der Kritiker ist nicht tot, er hat nur tot gespielt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen." Angesichts der Tatsache, dass Reich-Ranicki mit seiner Frau im Warschauer Ghetto dem Naziterror und der Vernichtung nur knapp entkam, fragt der FAZ-Herausgeber den Autor: "Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?"

      Dass Schirrmacher die Form des offenen Briefs wählt, könnte einem bewussten Kalkul entsprechen. Immerhin war er Walsers Laudator bei der Verleihung des Friedenspreises 1998 und ist ein Kenner seiner Gedankenwelt. Die assoziative Verbindung zu Jürgen Möllemanns Zündeln mit dem Antisemitismus drängte die FAZ jetzt aber Richtung Öffentlichkeit - um die Diskurshoheit zu beanspruchen.

      Schirrmachers Lobrede galt damals durchaus auch Walsers patriotischen Gelüsten. Und Walser kritisierte anschließend in seiner Dankesrede die "Instrumentalisierung von Auschwitz"; er bezeichnete die ständige öffentliche Thematisierung des deutschen Massenmords an den Juden als "Moralkeule". Walsers Lust am "Tabubruch" ist also nicht neu. Er hat schon öfter überraschende Volten geschlagen: Eine Zeitlang agierte er als enger Sympathisant der DKP, bis heute tritt er gelegentlich als bekennendes Mitglied der Schriftsteller-Gewerkschaft auf, und plötzlich sprach er von der Sehnsucht nach der Nation und der deutschen Einheit, als das wirklich längst ad acta gelegt schien.

      Walsers Unberechenbarkeit hat etwas mit seinem anarchischen Temperament zu tun, er ist ein Feuerkopf vom Bodensee, der gern Aufsehen erregt. Da neigt man auch dazu, die Dinge der Welt allzu ausschließlich auf sich selbst zu beziehen. Dass es da, von frühen Tagen in der Gruppe 47 angefangen, auch eine Konkurrenz zu einem Temperament wie Reich-Ranicki geben musste, ist klar. Seinen ersten Höhepunkt hatte dieses Autor-Kritiker-Duell Ende der siebziger Jahre, als Walser schon genauso unbändig und hemmungslos produzierte wie heute: Reich-Ranicki feierte zunächst Walsers "Fliehendes Pferd" als einzigartiges Meisterwerk, um bald darauf schon im ersten Satz der Besprechung von "Jenseits der Liebe" zu verkünden, was für ein entsetzlich missratenes Buch das sei. Und Walsers eifersüchtiges Interesse an jüdischen Themen in letzter Zeit mag damit zusammenhängen, dass Reich-Ranicki ihm beim groß angelegten autobiografischen Roman "Ein springender Brunnen", der die Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus beschreibt, eine auffällige Verharmlosung der Judenverfolgung vorwarf. Die Friedenspreisrede Walsers war auch eine Antwort darauf.

      Walser, der immer unstet eine Heimat suchte und sie nie richtig finden konnte, hat sich in den letzten Jahren in ein trotzig-gekränktes Deutschtum gerettet. Er ist Sprachwirbler genug, um das Unterschwellige immer nur durchschimmern zu lassen, Atmosphärisches anzusprechen, ohne allzu eindeutig zu sein, Ressentiments zu bedienen und doch auch immer etwas Richtiges zu treffen. Walser wirft Schirrmacher nun vor, aus einem noch nicht freigegebenen, "unredigierten Manuskript" zitiert zu haben. Und er habe nicht damit gerechnet, dass dieser Schlüsselroman über den Literaturbetrieb vor dem "Hintergrund des Holocaust" gelesen werden könne.

      Vielleicht hat er diesmal den Bogen doch überspannt. Bestsellerverdächtig ist das Sujet allemal, die Anbahnung des dafür notwendigen Skandals ist gelungen - aber dieses Duell wird Reich-Ranicki wieder gewinnen, auch wenn er gegenüber dem Tagesspiegel nur sagt: "Es gibt in Deutschland 80 Millionen Menschen, die etwas dazu sagen können. Ich bin der Einzige, der dazu nichts sagen kann. Das werden Sie verstehen."

      Auch dem Suhrkamp-Verlag, der ein natürliches Interesse an einem Bestseller hat, dürften einige aufregende Tage bevorstehen. Walser hat öffentlich den designierten Nachfolger von Siegfried Unseld, Günther Berg, als seinen Verleger akzeptiert. Berg ist darauf angewiesen, Walser, dessen Lebenswerk bei Suhrkamp vorliegt, zu halten. Aus dem Verlag ist zu hören, dass es wilde Diskussionen um den neuen Walser-Roman gegeben hat. Nicht zuletzt deshalb, weil eine kaum verfremdete Siegfried Unseld-Figur, im Gegensatz zur Reich-Ranicki-Figur, im Buch tatsächlich stirbt. Der bald 78-jährige Unseld hat es nach heftigen Auseinandersetzungen zugelassen, dass der Roman in seinem Verlag erscheint. Nicht einmal Schirrmacher wird das verhindern. So droht in Vergessenheit zu geraten, was schon seit etlichen Jahren feststeht: Es gibt weitaus Wichtigeres für die Literatur als den jeweils neuesten Roman von Martin Walser.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:24:47
      Beitrag Nr. 80 ()
      übrigens, im Spiegel gibt`s ein Leserforum zum Thema, hier zwei Beiträge daraus...


      Der Streit ist albern und hilft doch allen Beteiligten: Walser hat sein Image als Querulant aufgefrischt, Suhrkamp steht ein Bestseller bevor, die F.A.Z. ruft sich ins Bewusstsein zurück und die Massenmedien bekommen ein seitenfüllendes Thema serviert. Nachteil daran: Der Begriff "Antisemitismus" verkommt noch mehr zur Mode-Wort-Hülse. Ob seine Benutzung in diesem Zusammenhang angemessen war, wage ich zu bezweifeln.

      Peter Stets, Weil am Rhein



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      Der Dreh- und Angelpunkt der Debatte um Walser, Möllemann e tutti quanti scheint doch der zu sein: Was genau ist Antisemitismus? Dass es sich dabei eben nicht um ein Phänomen handelt, das sich auf Hasstiraden glatzköpfiger Dummbeutel beschränkt - darüber scheint es in der deutschen Öffentlichkeit wenig Klarheit zu geben: wie tief er in unserer Kultur verwurzelt ist (wer weiß schon vom Antijudaismus, der aus Bachs Musik in der Johannes-Passion spricht), wie wenig er oft seinen Trägern bewusst ist. Wenn wir wirklich "aus der Geschichte gelernt" haben wollen - wäre nicht dann dies die mindeste Anforderung, dass wir uns geduldig, genau und ernsthaft hierüber verständigten? Wäre das - im Sinne demokratischer Selbstaufklärung - übrigens nicht ein Projekt, das des SPIEGELs würdig wäre?

      Thomas Seifert, Münster
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:28:48
      Beitrag Nr. 81 ()
      "Hitler und Thomas Mann sind die beiden Möglichkeiten des Deutschtums."

      Ein Jude darf so etwas zu uns deutschen sagen.

      Zwei Schubladen für ein ganzes Volk.

      Zugegeben, daß Zitat ist aus dem Zusammenhang gerissen und ich kenne den Zusammenhang auch nicht, aber irgendwie halte ich das nicht für korrekt.

      Antideutschismus gibt es aber leider nicht als begriff.

      Vielleicht ist dass das Problem von uns deutschen.

      Antisemitismus
      Antiamerikanismus
      und auf uns deutschen kann man garnicht genug rumprügeln.


      Vielleicht erfindet ja mal ein sprach begabeter ein pendant das wir benutzen können um zu sagen: "Das reicht! Hier muß schluß sein!"
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:29:36
      Beitrag Nr. 82 ()
      Achso ganz vergessen:

      "Hitler und Thomas Mann sind die beiden Möglichkeiten des Deutschtums." Ist ein Zitat von RR
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:37:11
      Beitrag Nr. 83 ()
      RR meinte das durchaus nicht abwertend, wenn ich recht informiert bin. Sondern als zwei Extrempositionen, Hitler zum Schlechten, Thomas Mann als großen Literaten auf der andren Seite.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:37:42
      Beitrag Nr. 84 ()
      Die Auseinandersetzung um Wals nimmt stündlich an Schärfe zu, wie folgender Artikel zeigt. Walser will Schirrmancher anzeigen. Der Verleger des Aufbau-Verlags wirft Walser neiderfüllt vor, es handele sich hier um einen Marketingtrick.

      aus Spiegel online von heute
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      REICH-RANICKI ÜBER WALSER

      "So ein erbärmliches Buch"

      Jetzt zieht der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki über den neuen, noch unveröffentlichten, Roman Martin Walsers her. Bei der Lektüre habe er "als Betroffener" allerdings keine Wut, sondern Mitleid mit Walser empfunden. Walser bestätigte unterdessen, Reich-Ranicki in seinem Buch karikieren zu wollen, und griff die "FAZ" erneut an.

      "Walser hat noch nie so ein erbärmliches Buch geschrieben", kritisierte Reich-Ranicki den Schriftsteller am Donnerstag. Er fühle sich als "Betroffener", meinte Reich-Ranicki im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Der Literaturkritiker warf Walser vor, "leicht erkennbare Personen lächerlich zu machen und teilweise zu denunzieren".
      Der frühere FAZ-Feuilletonchef halte die Entscheidung der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für richtig, das Buch nicht abzudrucken. Der FAZ- Herausgeber Frank Schirrmacher habe in seinem Offenen Brief an Walser "das Nötige klar gesagt", meinte Reich-Ranicki. Zu der Frage nach antisemitischen Untertönen in Walsers Roman wollte Reich-Ranicki sich nicht äußern. "Ich bin schließlich der Betroffene." Das Buch enthalte sogar mehrere seiner Äußerungen.
      "Ich habe viele Bücher von ihm gelobt und Jahrzehnte lang an sein Talent und seine Redlichkeit geglaubt", sagte Reich-Ranicki, der bislang generell eher zu den Kritikern Wasers zählte. Bei der Lektüre des Romans mit dem Titel "Tod eines Kritikers" habe er keine Wut, sondern Mitleid verspürt, sagte Reich-Ranicki. "Walser stellt sich wieder einmal als Opfer dar." Ein Gespräch mit Walser lehnte Reich-Ranicki ab: "Ich halte nichts davon, dass mir ein Autor sein Werk erklärt. Der Text muss für sich selbst stehen." Besprechen wolle er es auch nicht, weil das literarische Niveau aus seiner Sicht zu niedrig sei.

      Zuvor hatte Reich-Ranicki den Walser-Roman bereits in der "Neue Zürcher Zeitung" als "miserable Literatur" bezeichnet und eine erste Romanlektüre mit den Worten "es ist wirklich ungeheuerlich" kommentiert.

      Walser bestätigt Karikatur Reich-Ranickis

      In Interviews mit mehreren Tageszeitungen bestätigte Martin Walser unterdessen, dass er in seinem Roman den Literaturkritiker Reich-Ranicki bewusst parodiert habe. Er wies aber Vorwürfe des Antisemitismus zurück. "Ja, klar", beantwortete Walser die Frage der "taz", ob er Reich-Ranicki karikiere. Es liege "auf der Hand", dass man in seiner Romanfigur den Genannten erkenne: "Man darf in der Literatur jede beliebige öffentliche Figur parodieren, warum nicht Reich-Ranicki?", fragte Walser in der "Welt". Es gehe ihm aber nicht darum, "Reich-Ranicki oder einen anderen Kritiker in meinem Roman anzugreifen, weil sie Juden sind". Dies liege nicht in seinem Interesse. "Mir geht es darum, wie so eine Figur wie Reich-Ranicki seine Macht im Literaturbetrieb ge- und missbraucht", beschreibt Walser seinen Ansatz.

      Hart geht er dabei mit der öffentlichen Absage des "FAZ"-Herausgebers Frank Schirrmacher ins Gericht, seinen neuen Roman nicht vorab abzudrucken. "Er hat eine Exekution versucht", wirft Walser Schirrmacher in der "taz" vor und bezichtigt ihn, seinerseits in Einzelformulierungen "antisemitisch" zu sein und einen "elenden Artikel" geschrieben zu haben.

      In einem Interview mit dem Radiosender MDR Kultur bekräftigte Walser am Donnerstag erneut, eine Strafanzeige gegen die "FAZ" wegen Verleumdung zu erwägen. "Ich muss mal sehen, was ich da für juristische Chancen habe", sagte der Autor. Er begreife nicht, was da gerade passiert, und halte die Anschuldigungen der "FAZ" für "reine Willkür". "Ich habe ein Buch geschrieben gegen Machtausübung im Kulturbetrieb, und das Erste, was ich jetzt erfahre, ist Machtausübung", sagte er dem Radiosender. Walser bekräftigte, dass er nichts an seinem Roman ändern wolle. "Ich habe die Hoffnung, dass die lesende Welt nicht aus lauter Schirrmachers besteht", lästerte er.

      Verlegerlob für FAZ

      Unterdessen warf der Verleger des Berliner Aufbau-Verlags, Bernd Lunkewitz, dem Schriftsteller Martin Walser vor, mit seinem noch unveröffentlichten Roman gezielt einen verkaufsfördernden Eklat provoziert zu haben. "Das war Kalkül des Autors", sagte Lunkewitz. Walsers Taktik der "gezielten Regelverstöße" sei ein Marketingtrick, um die Auflage in die Höhe zu treiben. "Die ganze Story schmeckt nach Judenfeindschaft", meinte der Verleger. Ohne Eklat würden von dem Buch vielleicht 5000 Exemplare verkaufen werden, schätze Lunkewitz, "jetzt kann Walser mit 100 000 Exemplaren und mehr rechnen".

      Der Verleger sagte, bei nur stillschweigender Ablehnung des Romanvorabdrucks durch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" wäre schnell von einer "jüdischen Lobby" die Rede gewesen, die das Buch habe verhindern wollen. Deshalb sei die Entscheidung der FAZ, den Abdruck in einem Offenen Brief des Herausgebers Frank Schirrmacher wegen "antisemitischer Klischees" in dem Buch abzulehnen, richtig gewesen, meinte Lunkewitz


      Nachkorrektur beim Verlag?

      Unterdessen nutzt der Suhrkamp Verlag den ausgebrochenen Rummel um das Walser-Buch für eine Offensive und gibt das Manuskript an interessierte Medien heraus. Es gehe darum, allen Journalisten den "gleichen Informationsstand zu ermöglichen, damit sie wissen, worüber sie sich erregen", sagte die Verlagssprecherin Heide Grasnick am Donnerstag in Frankfurt. Es seien bereits weit über hundert Anfragen eingegangen. Der Erscheinungstermin des Romans soll zudem von August auf Juni vorgezogen werden.

      Die Sprecherin betonte, dass es sich bei dem jetzt freigegebenen Text nicht um die definitive Druckvorlage handele, denn die Fahnen werden wie bei jedem Suhrkamp-Buch noch Korrektur gelesen. Eine inhaltliche Korrektur sei damit aber nicht mehr verbunden, stellte sie erste Meldungen klar. In einem Interview mit der "Welt" hatte am Vortag Suhrkamp-Verlagsleiter Günter Berg missverständlich auf die Frage geantwortet, "In welchem Zustand ist das Manuskript eigentlich?". Bergs Antwort: "Es war nicht zitierfähig, es ist zitiert worden. Damit ist es leider in einem Zustand in der Welt, in dem wir es nie in der Welt haben wollten".

      Die "FAZ" hatte allerdings zuvor schon eine fertige "Entscheidungsvorlage" zum Vorabdruck erhalten. Damit sollte ursprünglich in zwei Wochen begonnen werden. "Das, was wir hatten, sollten wir drucken", verlautete aus der "FAZ"-Redaktion. Dies sei aber nur "eine halbe Wahrheit", hieß es unterdessen aus dem Suhrkampf-Verlag. Denn selbstverständlich sollte die Zeitung für ihre Veröffentlichung noch eine weitere, nochmals Korrektur gelesene Text-Datei erhalten. Inhaltlich hätte sich darin aber nichts mehr geändert.

      Holger Kulick
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:39:41
      Beitrag Nr. 85 ()
      ja, goldig. so wie alle Frauen Huren oder Mütter sind!

      RR kotzt mich an, ich darf das sagen, ich bin Schweizerin.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 18:51:05
      Beitrag Nr. 86 ()
      Ich unterstelle ihm auch garnicht es abwertent gemeint zu haben trotzdem finde ich es ungeheuerlich.

      RR findet Thomas Mann super und kann Hitler wahrscheinlich wie die meisten hier nicht besonders leiden.

      Also kann RR dich entweder gut leiden und du bist ein Thomas Mannoder er mag dich nicht und vergleicht dich mit Hitler.

      Wäre ich so künstlich übersensibel, wie Friedmann oder auch wie RR im Fall Walser rüberkommt wäre ich stock sauer.

      Wenn ich sagen würde

      "Hitler und Bubis sind die beiden Möglichkeiten des Judentums."

      (Hitler hatte Jüdische Vorfahren oder Verwandte - Schickelgruber hießen die)

      Wenn jch dass als deutscher sagen würde, dann wäre ich fertig.

      wenn das aber in diesem Kontext eine Frechheit ist, dann auch in dem von RR.

      Schließlich haben nicht nur die Juden mit Hitler eine schreckliche Erfahrung gemacht, sondern auch die Deutschen.

      Meines Wissensnach sind im 2.WK mehr deusche gestorben als Juden - auch davor sollte man respekt haben und nicht in die Hochmut, des international anerkannten Opfers verfallen.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 21:14:20
      Beitrag Nr. 87 ()
      "Der Erscheinungstermin des Romans soll zudem von August auf Juni vorgezogen werden. "

      Gute Entscheidung des Verlags!
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 21:49:57
      Beitrag Nr. 88 ()
      Eine verhängnisvolle Affäre
      Innenansichten eines Skandalbuches: Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers"
      Von Ulrich Weinzierl
      Naturgemäß ist Martin Walser kein Antisemit. Er sagt es selbst. Die anderen seien es, die "Meinungssoldaten", die "Gesinnungspresse" und FAZ-Mitherausgeber Schirrmacher und alle, die ihn fälschlich des Antisemitismus bezichtigten.

      Walser ist Romanschriftsteller, Herr der Figuren und Figurenreden. Die können und dürfen widerwärtig sein oder antisemitisch. Man muss bloß den Konjunktiv beherrschen, und den beherrscht Walser, was längst nicht mehr selbstverständlich scheint, vorzüglich. Seine, literaturtheoretisch durchaus triftige Verteidigungsstrategie lautet: "Was in einem Roman geschieht und gesagt wird, kann nur danach beurteilt werden, wie es eingebettet ist in die Romanatmosphäre und -prosa."

      Was also geschieht im Reich-Ranicki-Roman "Tod eines Kritikers", was wird darin in welcher Atmosphäre gesagt? Michael Landolf, Autor von Texten über Kabbala und christliche Mystik, erfährt im Ausland, dass sein Münchner Kollege Hans Lach unter Mordverdacht festgenommen wurde. Das Opfer, der Starkritiker André Ehrl-König, ist verschwunden, zurück blieb sein blutverschmierter Pullover. Landolf will an die Tat Lachs nicht glauben. Gewiss, der Verdächtigte hätte ein zureichendes Motiv gehabt - wie zahllose andere Dichter auch, die der furchtbare Rezensent gekränkt hat. Zudem bedrohte Lach bei der regelmäßig nach der TV-Sendung "Sprechstunde" veranstalteten Party in der Villa des Verlegers Prinz den Kritiker öffentlich mit der finsteren Ankündigung: "Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen." Und Walser, recte der Ich-Erzähler Landolf, fährt fort: "Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, dass André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust." Aparterweise lässt Walser Landolf die genealogischen Informationen aus der "FAZ" beziehen. Die müsste das im Grunde besser wissen, doch das ist wohl poetische Freiheit.

      Wie auch immer: Landolf versucht, sich ein Bild zu verschaffen, das die Unschuld Lachs beweise. Zu dem Zweck führt er Gespräche mit Partygästen, mit Bekannten und so genannten Freunden Ehrl-Königs. Dabei stellt sich heraus: Alle haben sie ihn gehasst, gefürchtet und verachtet. Die Aussagen fügen sich wie Mosaiksteinchen zu einem indirekten Porträt, einer Karikatur. Professor Silberfuchs zum Beispiel zitiert die dauernde Klage Ehrl-Königs, "dass er zu dienen habe dem Wohl und Gedeihen der doitschen Literatür." Der parodistische Zungenschlag, dessen sich auch andere Romanfiguren bei ihrer Charakterisierung Ehrl-Königs bedienen, ist verräterisch. Mit derart plumper Verfremdungstechnik in Laut und Schrift ("doitsch") und Wortstellung pflegten Judenhasser, vom "Stürmer" abwärts, das "jüdelnde" Deutsch zu verhöhnen. Sollte das Walser oder der Kabbala-Kenner Landolf etwa nicht gewusst haben? So ist es ihm, ein schwacher Trost, unbewusst "passiert". Und wie steht es mit der kettenrauchenden Frau Ehrl-König, von der alle nur per "Madame" sprechen? Landolf gibt Gerüchte wieder, ihr Vater "sei zuerst Privatsekretär Pétains und dann Geheimdienstchef des Vichy-Regimes gewesen". Es fällt schwer, solche Witzelei angesichts des Schicksals der realen Frau Reich-Ranicki, die mit ihrem Mann das Warschauer Ghetto und in einem Kellerversteck überlebte, nicht als unerträgliche Geschmacklosigkeit zu empfinden, zumal da sich der Vater von Teofila Reich-Ranicki im Ghetto aus Verzweiflung erhängt hat. Vielleicht gehört derlei zur neuen deutschen Unbefangenheit im Umgang mit der Geschichte.

      Ohne Zweifel wirkt das Profil Ehrl-Königs abstoßend, sogar abgesehen von seiner körperlichen Hässlichkeit. Die Romanfiguren schildern seine unerträgliche Eitelkeit, seine Brutalität und nicht zuletzt seine "sexuelle Delikatesse, Schwangere bis zum dritten Monat". Die sehr üble Nachrede wird übrigens Rainer Heiner Henkel in den Mund gelegt, hinter dem sich, mangelhaft verschlüsselt, Walter Jens verbirgt. Auffallend ist: Der Hass auf Ehrl-König hat häufig einen sexuellen Beigeschmack. Ein Tonbandprotokoll präsentiert eine betrunkene Schriftstellerrunde. Hans Lach ereifert sich angeekelt über das "weiße Zeug", das Ehrl-König "in den Mundwinkeln" bleibe. "Scheißschaum," ruft ein zweiter, "das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert ja durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der doitschen Literatür aufgeilt. Der Lippengorilla, der elendige."

      Keine Angst, die Sache geht trotzdem relativ glimpflich aus. André Ehrl-König ist nicht tot, er hat sich mit einer Geliebten zu ausgedehnten Schäferstündchen zurückgezogen. Dafür stirbt der Verleger Prinz, der fatal Walsers krankem Verleger Unseld ähnelt. Als dritte Pointe serviert Walser eine bewährte Konstruktionsvolte: Michael Landolf ist in Wirklichkeit das Alter Ego von Hans Lach, das Finale mündet in den Anfang. Ende gut, alles gut? Keineswegs. Denn es gibt, wenn man Ehrl-Königs gebrandmarktes Denkprinzip des Entweder-Oder befolgt, nur zwei mögliche Sehweisen. Nach der einen haben wir es mit einem antisemitischen Schlüsselroman zu tun, nach der anderen mit einem vom Schlüsselromancier dargestellten antisemitischen deutschen Literaturbetrieb. Die - im Roman gern verteidigte - Variante des Sowohl-als-Auch wollen wir vorsichtshalber nicht in Betracht ziehen. Am unheimlichsten wirkt freilich ein leitmotivisch wiederkehrender Satz aus Hans Lachs fiktivem Buch "Der Wunsch, Verbrecher zu sein": "Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." Martin Walser ist diese hohe Kunst mit der Figur des Kritikers Ehrl-König noch nicht ganz gelungen, aber er hat sich leider sehr darum bemüht. Das ist der Kern der verhängnisvollen Affäre.

      http://www.welt.de/daten/2002/05/31/0531kli335115.htx

      ich kauf das buch! :laugh: scheint W:O-board-stil zu sein!
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 22:19:24
      Beitrag Nr. 89 ()
      Das scheint einer jener Journalisten geschrieben zu haben, die jetzt doch im Voraus eine Ausfertigung bekommen haben.

      Den vorletzten Absatz des Artikels lesend, verfestigt sich bei mir der Eindruck, daß das Buch zumindest geschmacklos ist - erinnert mich im Ton an Houellebecq.

      Ich werde es bei der Lektüre wohl nicht abstellen können, daran zu denken, wie sich MRR wohl fühlte, die entsprechenden Zeilen lesend.

      leary99
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 22:29:13
      Beitrag Nr. 90 ()
      @leary99 Ich werde es bei der Lektüre wohl nicht abstellen können, daran zu denken, wie sich MRR wohl fühlte, die entsprechenden Zeilen lesend.

      Sowas hat MRR genau in seiner Autobiografie beschrieben. Er hat den Teufel an die Wand gemalt. Ich komm nicht los vom Gedanken, dass sich da zwei Leute aufgeschaukelt haben im Lauf der Jahre.

      Geht uns das eigentlich was an?
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 22:37:46
      Beitrag Nr. 91 ()
      Intelligenz ist zu erkennen,wo der Zensor sitzt der einem
      Damokles-Schwert gleich ,hernieden fährt.Ein Studium der
      Linguistik ist dazu nicht notwendig,es ist halt schwer sich
      einem Irrtum einzugestehen.Ratlosigkeit hat die Boardintelligenz erfasst,bis auch sie der Zensor erreicht.:laugh:Besonderen Gruß an Rainer :p
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 22:44:49
      Beitrag Nr. 92 ()
      Oh, dieses erhabene Gefühl mit anzusehen, mit welch flammender Leidenschaft und Ausdauer sich unsere intellektuelle Elite den brennenden Themen unserer Zeit annimmt.

      Da behaupte jetzt mal einer, uns Deutschen würde es schlecht gehen.


      NeuSte (von genialer Argumentationstechnik und feingeistiger Akrobatik stets tief beeindruckt)
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 22:51:37
      Beitrag Nr. 93 ()
      :laugh: OHA Besuch vom anderen Stern. Wo geht`s denn zur Elite bittschön? Und welcher Weg führt zur Boardintelligenz? Ihr habt noch die Linksintellektuellen vergessen, und die Rechtspopulisten :laugh:

      Ich hätt auch einen Begriff für euch: Neidhammel :laugh:
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 22:52:12
      Beitrag Nr. 94 ()
      @leary99

      wir liegen wieder eng zusammen. Mir ist nicht wohl, was ich da höre und lese.

      Soeben war in den Tagesthemen sowohl RR, als auch Walser zu hören, und ein intensiveres Interview mit Karasek. Anschließend ein Kommentar, da habe ich aber den Ton abgedreht.

      Karasek hat den Vorabdruck erhalten, und er äußert sich distanziert, um es gelinde auszudrücken.

      @SEK, Du schreibst an mich:

      "@Sep, Der Vorwurf die FAZ habe sich unfair verhalten, ist berechtigt und zwar egal ob Schirrmacher mit seinem Vorwurf recht hat oder nicht."

      Fein, SEK, der Vorwurf an die FAZ, sie habe sich unfair verhalten, ist ungerechtfertigt. Schirrmacher hat sich nicht anders verhalten können. Bitte degradiere mich nicht zu Deinem Befehlsempfänger, und degradiere nicht Schirrmacher, wie geschehen, zu einem Redakteur. Er ist Mit-Herausgeber der FAZ. Das ist in diesem Zusammenhang wesentlich.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 23:10:29
      Beitrag Nr. 95 ()
      der geist wird immer frei sein.
      Avatar
      schrieb am 30.05.02 23:18:21
      Beitrag Nr. 96 ()
      @Sep

      bezüglich der einschätzung "Geschmacklos" sind wir uns wohl einig.
      bezüglich des Vorwurfs, die FAZ habe sich unfair verhalten, liegen wir wohl auseinander.
      Genaue Begründung : siehe #57
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 00:03:50
      Beitrag Nr. 97 ()
      Bezüglich des "Geschmacklos" stimme ich nach der Inhaltsangabe durchaus auch zu, insbesondere was die "dichterische Freiheit" im familiären Umfeld betrifft. Sogar äußerst geschmacklos, wenn es zutrifft.
      Ich sehe mich dann allerdings nach wie vor eher in der Vermutung bestätigt, daß Walser - in eine Ecke gedrängt - überreagiert hat (vgl. Nr.52, leicht abgewandelt: man kann auch jemanden solange in eine bestimmte Ecke stellen, daß er am Ende in bewußter Provokation zeigt, wie es aussehen würde, wenn er wirklich in dieser Ecke stünde...Ich selbst habe auch schon geschrieben, daß ich es begrüßen würde, wenn man die Flüchtlingslager einfach zusammenschießt - ohne wirklich diesen Wunsch zu verspüren, einfach weil es mir zu dämlich wurde und damit die Leute mal sehen, was "wirklich ein Massaker ist".
      Natürlich könnte ich in verantwortlicher Position nichts ähnliches sagen/schreiben. Aber hier in einer Diskussion kann das zulässig sein und ein Literat darf so etwas natürlich erst recht schreiben, wenn er bestimmte Personen mit bestimmten Auffassungen entwicklelt).
      Eher in dieser Vermutung bestätigt als in der Vermutung widerlegt, daß Walser KEIN Antisemit ist.

      Wobei sich weiter die Frage stellt, ob das Buch und ggf. die Geschmacklosigkeit mit Antisemitismus zu tun hat, oder nicht eher mit persönlicher Feindschaft/Hass.
      Woran sich natürlich eine Frage anschließt, in diesem Zusammenhang: unterstellen wir mal, jemand beschreibt einen Juden, auf den dummerweise einige antisemitische Klischees zutreffen. Und er beschreibt ihn äußerst unvorteilhaft, wobei er Schwächen, die antisemitischen Klischees entsprechen, keineswegs ausläßt. Er spielt zum Beispiel sehr deutlich auf den "immensen Einfluß" ein, den der Mensch hat und auch nutzt, neben "viel Geld".
      Jedenfalls setzt sich dieser Kritiker des Juden in der jetzigen Zeit dem Verdacht aus, mit "antisemitischen Klischees zu spielen".
      Der Vorwurf trifft eventuell auch zu, wenn nämlich die Beschreibung der Einzelperson "exemplarisch" gewählt wurde.

      Wenn es aber gerade um die konkrete Person geht, und das scheint ja bei Walser der Fall zu sein (Schlüsselroman), dann hat es doch wohl eher nichts mit Antisemitismus zu tun, auch solche Schwächen zu benennen, die als "typisch jüdisch" gelten - wenn sie denn tatsächlich vorhanden sind. Sondern dann sind es eben zufälligerweise in diesem Fall auf die beschriebene Person passende Attribute, die mit anderen Eigenschaften durchaus korrelieren können, die keineswegs typisch jüdisch sein mögen.



      Bezüglich des "unfair"? Wieso hätte sich Schirrmacher nicht anders verhalten können? Was spräche dagegen, diesen offenen Brief nicht in einer Zeit zu veröffentlichen, wo der Begriff "Antisemitismus" mit Leuten wie Möllemann oder Karsli verbunden wird, die nun wirklich - nach wie vor - mit Walser nichts gemeinsam haben.

      Und dann noch was zu SEK: ohne den Zusammenhang zu kennen, sollte man über einen solchen Satz nicht urteilen. Wie auch nicht über das Buch von Walser. Ich denke nicht, daß RR gemeint haben kann, es gäbe NUR diese zwei Möglichkeiten. Sondern sie als Extrempunkte in beide Richtungen gewertet wissen wollte.
      Ansonsten: auch wenn es "mehr" deutsche Opfer gab, wobei die Juden ja nun ganz überwiegend auch "Deutsche" waren: Hitlers Vernichtungswille bezog sich nun mal in erster Linie auf die Juden und anderes "unwertes Leben". SIE wurden auch in "industriellen" Vernichtungslagern möglichst effizient auszurotten versucht. Das kann man wohl kaum mit den "deutschen Opfern", die nicht zum Feindbild gehörten, vergleichen.
      Abgesehen davon dürfte die Quote Täter/Opfer in extrem unterschiedlichen Dimensionen sich bewegen. Und selbst als jemand einer ganz anderen Generation ohne persönliche oder familiäre Verstrickung in die Nazi-Kreise: ich finde es etwas befremdlich, wenn sich jetzt "die Deutschen" von der Täter- gleich auf die Opferseite schlagen wollten.
      Natürlich gab es auch Deutsche Opfer und nicht jeder Deutsche war Täter. Aber Dein letzter Absatz liest sich schon sehr seltsam, als hätten "die Deutschen" eigentlich den "die Hauptrolle" unter den Opfern einzunehmen, welche ihnen die Juden unverschämterweise weggenommen hätten.
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 00:51:39
      Beitrag Nr. 98 ()
      uiuiui schon wiedre jemand, der den Vorabdruck gelesen hat :eek:
      http://www.fr-aktuell.de/fr/index.htm

      Tod eines Autors

      Eine erste Lektüre des neuen Romans von Martin Walser

      Von Marius Meller

      Martin Walser beschuldigte am Mittwoch Frank Schirrmacher, den für das Feuilleton verantwortlichen Herausgeber der FAZ, dieser habe mit seiner schroffen Ablehnung seines neuen Buches Tod eines Kritikers gegen "Brauch und Anstand" verstoßen und einen "Bruch der heiligsten Bedingungen" begangen. Er drohte sogar mit juristischen Schritten. Es geht um die sogenannte "Sperrfrist", die verhindern soll, dass Rezensionen vor dem Erscheinungstermin veröffentlicht werden. Schließlich lag der Text Walser noch nicht einmal in den Fahnen vor, sondern nur als unautorisierter Computerausdruck.

      Vorgestern hatte Frank Schirrmacher in Form eines offenen Briefes an Martin Walser, der den Text der FAZ zum Vorabdruck angeboten hatte, genau so, wie dieser das mit vielen früheren Romanen getan hatte, den Tod eines Kritikers als ein "Dokument des Hasses" bezeichnet, des Hasses auf den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der unschwer erkennbar das reale Vorbild des fiktiven André Ehrl-König ist. Dieser Roman enthalte unübersehbar "antisemitische Klischees". "Verstehen Sie", schrieb Schirrmacher mit ernstem Pathos an Walser, "daß wir hier der verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bereiten werden?"

      "Die Vorwürfe wiegen schwer", heißt es in der ersten Stellungnahme des Suhrkamp Verlags, die auffällig vorsichtig formuliert ist, so, dass sie zwar die Notwendigkeit des baldigen Erscheinens begründet, sich aber inhaltlich mit keiner Silbe zu den Vorwürfen Schirrmachers äußert. Der Suhrkamp Verlag verteilte Fotokopien des Computerausdrucks . So ist eine erste Lektüre Textes möglich.

      Es stellt sich heraus, dass der Roman, eher die Novelle Tod eines Kritikers die Heftigkeit der Schirrmacherschen Vorwürfe voll rechtfertigt. Walser hantiert nämlich nicht nur fahrlässig mit antisemitischen Klischees während er mit Reich-Ranicki persönlich abrechnet, sondern dem Text als ganzem ist darüber hinaus eine höchst anrüchige motivische Matrix eingearbeitet, die die durch "Schuld" und "Schande" neurotisch gestörte deutsche Seele in den direkten Zusammenhang von individuellen und kollektiven Mordfantasien bringt. Walser redet in abstoßender und erschreckender Weise - in einer Motivreihe, die nicht die zentrale sein mag, aber sie ist da! - von der deutschen Frage.

      Der Skandal ist, dass diesen Mordfantasien die Einfühlungsarbeit des Autors gilt. Der Skandal ist, dass dieses eitle, unappetitliche Monstrum mit dem zotig sprechenden Namen Ehrl-König, das Walser litarisch-technisch unbeholfen kalauernd zeichnet, verschwörungstheoretisch aufgeladen wird, als jemand, der alle Macht des Literaturbetriebs in perverser Weise auf sich konzentriert hat, als jemand der - in der Fiktion ganz real - über Leben und Sterben der Autoren gebietet.

      Der Skandal ist, dass nicht nur die jüdische Herkunft des Vorbilds die Folie ist, auf die solche Strukturen bezogen werden müssen, sondern auch ganz konkret im Text eine Rolle spielen. Walser schildert, wie der fantasierte Mord von den Medien aufgenommen wird: "Das Thema war jetzt, dass Hans Lach einen Juden getötet hatte." Der Text erzwingt die Folgerung: typisch politisch korrekte und gleichzeitig skandalgeile Mediengesellschaft. Es ist absurd, wenn Walser jetzt behauptet, in der Funktion seines Romans, sei MRR bzw. Ehrl-König eben kein Jude, sondern nur Kritiker. Dahinter steht das in diesem Zusammenhang geschmacklose Postulat nach Gleichbehandlung von Juden und Nicht-Juden, der der Text in einen leider vielbemühten Kontext stellt: in die Dichotomie von Anti- und Philosemitismus.

      Absurd ist auch, wenn Walser zu seiner Rechtfertigung darauf verweist, dass der Kritiker am Ende ja wieder quicklebendig sei. Sein Überleben wird dem Kritiker selbst implizit zum Vorwurf gemacht, es passe nicht zu André Ehrl-König, umgebracht zu werden. Dass Schirrmacher in den Assoziationsraum dieses Motivs, abgesehen von der Geschmacklosigkeit angesichts MRRs Biografie, die Vorstellung vom "ewigen Juden" einbringt, grenzt eben nicht an Überinterpretation. Nein, wenn der Autor auf diesem sumpfigen Terrain nicht souverän über die Assoziationsräume verfügt, ist er ein schlechter oder dummer, oder eben, wie im Fall Walser, ein unverantwortlich den Hass schürender Autor.

      Ein Beispiel unter allzu vielen für das vexierhafte Entgleiten der Assoziationsräume: In der literarischen Fernseh-Talk-Show "Sprechstunde" des Großkritikers, die dem "Literarischen Quartett" nachempfunden sein soll, ist der Überraschungsgast eine Martha Friday aus New York. Die Bücher, die besprochen werden sind ein Roman von Philip Roth und einer des fiktiven deutschen Schriftstellers Hans Lach, der später unter Mordverdacht gerät. Wenn Walser nicht kalkuliert hat, dass hier ein ganz bestimmtes Schema erkannt werden kann und muss, dass Martha Friday (Susan Sontag?) Jüdin sein könnte und das Buch des Juden Philip Roth von einem Juden in den Himmel gelobt und der des deutschen Helmut Lach in die Hölle verdammt wird, dann sollte Walser zumindest den Beruf wechseln.

      Ausführliche Rezensionen werden all die schmuddeligen Details des Textes beschreiben, wie Siegfried Unseld alias Ludwig Pilgrim sterben muss, wie seine Frau Ulla Berkéwicz herabgesetzt wird und vieles andere Widerliche, werden die Sprechakte, die Motivreihen im einzelnen sondieren. Aber ausgesprochen werden darf und muss es schon jetzt. Auch wenn der Autor noch so oft proklamieren wird, dass er selbst kein Antisemit sei (gut, wir wollen es ihm glauben): Der neue Text des Schriftstellers Martin Walser ist ein geschmackloses und ein gefährliches Buch. Es schillert in einer stinkenden Farbe.
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 01:49:38
      Beitrag Nr. 99 ()
      um nochmal kurz vom Thema abzuweichen, weil anscheinend sogar in Walsers Roman Philip Roth vorkommt.
      Ich lese gerade Roth`s 1967 erschienenen Roman "Portnoys Beschwerden". Eine schonungslose Abrechnung eines Juden mit seiner jüdischen Erziehung - und voll von Sätzen, die man jedem Nicht-Juden, der sie schriebe, um die Ohren hauen würde.
      Weiterhin voll von Klischees, mit denen die jüdischen Eltern der Hauptfigur den sog. Gojim, also den Nicht-Juden begegnen.
      Von einem Deutschen geschrieben, wäre auch das Buch ein öffentlicher Skandal geworden.

      leary99
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 02:16:12
      Beitrag Nr. 100 ()
      leary99

      da trennen sich dann unsere Wege


      SEP
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 10:54:41
      Beitrag Nr. 101 ()
      @SEP

      Entschuldigung, aber ich hatte nicht vor dich zu meinem Befehlsempfänger zu machen.
      Ich habe lediglich meine Meinung zum besten gegeben. Ob Schirrmacher Redakteuer oder Mitherausgeber ist macht für mich in der Sache keinen Unterschied.

      @Xylophon

      Zu dem RR Zitat:

      Ich habe ja selber geschrieben, daß ich den Zusammenhang nicht kenne und ich füge hinzu - Ich glaube der RR kann uns deutsche an sich sehr gut leiden. Mann müsste sich nur mal vorstellen, etwas ähnliches hätte...(Ich weiß hätte, wäre, könnte - trotzdem finde ich es richtig mal drüber nachzudenken.)


      Zu dem Thema deutsche Opfer des 2.WK:


      Ich schlage mich nicht von der Opfer auf die Täterseite, denn ich war noch nie Täter!

      Das Hitler gegenüber den deutschen keinen unbedingten Vernichtungswillen hatte ist unbestreitbar.

      Das Opfer-Täter Verhältnis ist auch eindeutig.

      Da hast du recht und da stimme ich voll mit dir überein.

      Was man aber nicht vergessen darf und es wird leider immer gerne vergessen:

      Die Opfer eines Krieges ist immer die Zivilbevölkerung! Der kleine Mann, der ohnmächtig zuschauen muß wie die Obrigkeit den Karren an die Wand fährt.

      Große Teile oder besser die Mehrheit der deutschen war Opfer, nicht Täter.


      Mann kann als einer der nie diese Extremsituation miterlebt hat natürlich leicht sagen: Du hättest Befehle verweigern können, du hättest rebellieren können.....

      Das alles ist Quatsch.

      Ein Mann mit einer Pistole (6 Schuß) kann locker 100 Menschen in Schach halten. Und warum?
      Weil Helden selten sind.

      Man hat nur ein Leben, wenn jemand stirbt geht seine Welt unter. Ein Leben nach dem Tod gibt es wohl auch nicht.

      Es kann also meiner Meinung nach niemand verlangen, daß ein Mensch sein Leben für einen (oder auch 100 Millionen) anderer Menschen gibt.
      Er ist dann zwar kein Held aber er ist dann immer noch so gut wie 99% aller Menschen.

      Das sollte man nicht vergessen.

      P.S.: Der Schmerz der deutschen um ihre Toten ist genauso groß und genuso zu respektieren wie der, der Juden. Er ist gleichberechtigt zu behandeln. Es gibt so etwas wie die Hauptrolle unter den Opfern nich! Wer das nicht akzeptieren kann, sollte mal gut über die Worte von Helmut Kohl über "die Gnade der Späten Geburt" nachdenken. Viele von uns (ich schließe mich da nicht aus) wären wohl Täter gewesen, wären wir 1910 geboren worden.

      Ich ergänze diese Worte sogar noch um "die moralische Gnade Opfer gewesen zu sein" (Soll keine bagatellisierung des Holocaust oder so etwas sein! Bitte nicht falsch verstehen sondern darüber nachdenken.). Denn vielleicht wären auch Opfer unter anderen Umständen Täter geworden.

      Wenn man dies einsieht hat man sofort eine Gehörige Menge mehr Demut und wird stärker sensibilisiert für Unrecht, dass um einen herum geschieht und das man selber begeht.
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 11:58:51
      Beitrag Nr. 102 ()
      Es ist verblüffend, wie `saisonal` die Walser-Ranicki-Story passt. Eben las ich im Spiegel (print) 2 kontroverse Artikel, einer von Henrik Broder, den anderen Autoren-Namen hab ich vergessen. Leider finde ich die Artikel nicht online. Blöde Regelung, dass viele Texte, die in den Printmedien stehen nicht online verfügbar sind :mad: Ich finde, in diesen beiden gegenüberliegenden Statements ist alles gesagt, was es zum Thema zu sagen gibt. Die Texte wurden VOR diesem neuen Walser-Skandal geschrieben, es wird aber bereits auf Walser hingewiesen.

      Heute hat es im Tagesanzeiger eine wirklich guten, differenzierten Artikel, allerdings ohne Entschuldigung über die Vorverurteilung in der gestrigen Ausgabe. Leider ist auch dieser Text nicht online verfügbar.

      Ich zieh mich jetzt zurück aus diesem Thread. Erstens, weil ich viel zu tun habe, zweitens, weil ich zu dumm bin, mir eine eigene Meinung zu bilden. :cry: es überfordert mich schlichtweg.
      Danke allen, es war toll!
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 12:44:56
      Beitrag Nr. 103 ()
      jaja, SEK, ich weiß.

      Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 13:09:43
      Beitrag Nr. 104 ()
      SEK:

      Natürlich warst Du nie Täter, ich i.ü. auch nicht. Es ist aber nun mal leider so, daß Hitler und seine Regierung "Deutschland" regiert haben, mit Deutschen Stimmen gewählt wurden und deutsche Soldaten in alle Welt geschickt haben, damit sie am Deutschen Wesen genese.
      Deshalb sollte man als Deutscher ein wenig vorsichtig sein, wenn man sich den Platz auf der "Opferseite" wählt. Man kann dort richtig zuhause sein, natürlich wurden zahlreiche Deutsche (unter ihnen in erster Linie Juden) Opfer. Es kann aber auch sehr anmaßend sein, wenn man beispielsweise im Sudentenland erst Hitler als "Befreier" begrüßt hat und später - tatsächlich als Opfer - vertrieben wurde. Oder wenn man - um es mal überspitzt zu sagen - als Aufseher im KZ sein Bein verloren hat...

      Wir hatten Nachbarn, die beide Söhne, die einzigen Kinder, im 2. WK verloren haben. Ich weiß nicht, wie diese Leute zu Hitler standen. Es ist mir auch egal, diesen Schmerz gönne ich keinem. Ihre Kinder sind sicher Opfer und sie selbst auch.
      Unterstellen wir mal, daß eine Familie mit ähnlichem Schicksal begeisterte Anhänger Hitlers gewesen ist. Eine Familie, die menschlich gesehen ohne jeden Zweifel "Opfer" war. In der Öffentlichkeit sollten diese Überlebenden dennoch nicht unbedingt als Opfer auftreten. Weil dann ihre Opferrolle sehr ambivalent wäre. Weil sie auch sehr viel Anteil daran hätten, daß andere - viel unschuldiger, allein mit dem falschen Blut - auch Opfer wurden.

      Deshalb widerspreche ich diesen Sätzen:
      Der Schmerz der deutschen um ihre Toten ist genauso groß und genuso zu respektieren wie der der Juden. Er ist gleichberechtigt zu behandeln!
      Das gilt nur für einen Teil der Deutschen, keineswegs für alle. Nicht für die, die Schuld waren.
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 17:47:34
      Beitrag Nr. 105 ()
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 19:02:01
      Beitrag Nr. 106 ()
      @SEP

      du redest Scheiße.

      Oder meinst du auch, daß es uns die Juden nie verzeihen, daß sie Jesus getötet haben?


      @Xylophon

      Es haben nur 30% Hitler gewählt.

      Wieviele davon wohl die Folgen geahnt haben?

      Du machst es dir einwenig zu einfach, vergiss nicht, dass wir heute ex post beurteilen können. die Leute damals mussten ex ante urteilen.

      Deshalb bleibe ich bei meiner Meinung.



      @Alle


      Habe vorhin einen Literaturkritiker im Radio Sender DLF gehört.
      Der hat Walsers Buch gelesen (einige Exemplare wurden an Journalisten und Kritiker als Reaktion auf den FAZ Artikel rausgegeben.)

      Der Tenor war, daß an dem Buch nichts antisemitisches zu entdecken sei und dass Schirrmann die einzigen Zeilen herausgegriffen hätte in denen es um Juden geht.

      Der Kritiker meinte, daß Buch wäre ziemlich gut, er konnte RR`s Urteil nur aus der Perspektive verstehen, dass RR sich für die Mordphantasie rächn wolle und kritisierte vor allem Schirrmann


      Das nur mal um eine Stimme zu erwähnen, die Walser in Schutz genommen hat.

      Halte es trotzdem nicht für sinnvoll das Buch vor Erscheinung zu kritisieren.

      schönes Wochenende.
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 19:14:18
      Beitrag Nr. 107 ()
      Weiterhin haufenweise Leute, die sich zu dem Buch geäußert haben:

      http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,198840,00.h…

      Ist das als e-mail an eine ganze Menge Journalisten verschickte Manuskript eigentlich schon irgendwo in den Internet-Tauschbörsen aufgetaucht????
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 20:35:11
      Beitrag Nr. 108 ()
      na fein SEK, dann will ich mal nicht weiter stören.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 31.05.02 21:42:48
      Beitrag Nr. 109 ()
      SEK: im Gegenteil, DU machst es Dir zu einfach.

      Man kann sich nicht einfach hinstellen und Täter und Opfer auf eine Stufe stellen. Es macht einen Unterschied, ob man

      a) Hitler war
      b) bewußt mitgemacht hat bei der Judenvernichtung
      c) nicht mitgemacht hat, sie aber billigte
      d) davon wußte, aber sich nicht traute, ein Held zu sein
      e) nichts davon wußte

      oder

      f) seine Geschwister und seine Eltern "verloren hat", weil sie von a, b, c, d, ermordet wurden.

      Natürlich muß man auch zwischen a,b,c, und d) unterscheiden. Aber der Spruch: "ich wäre vielleicht auch kein Held gewesen", der macht es sich sehr viel zu einfach.

      Jawohl, ich wäre vielleicht auch kein Held gewesen, ziemlich sicher sogar. Ich hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mein Leben riskiert, jedenfalls nicht für Fremde....

      Aber dennoch ist es geradezu ein Hohn für die Opfer, wenn jetzt Deutche anfangen, sich mit ihnen auf die gleiche Stufe zu stellen: die Juden hatten nämlich nicht die Wahl zwischen a) bis e). Sie hatten nur eine Wahl: Sterben.

      Das ist der Unterschied.
      Avatar
      schrieb am 01.06.02 12:48:20
      Beitrag Nr. 110 ()
      @all
      Ich fände es schön, wenn im Gegensatz zu den Beteiligten der Schirrmacher-Walser-Debatte wenigstens wir hier im Forum zurückfinden zu einer sachlichen Diskussion.

      Hier die neueste Einschätzung von Hubert Spiegel, dem Nachfolger von Ranicki als Literatur-Chef der FAZ, der eine interessante Themenverschiebung bringt:


      HUBERT SPIEGEL

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2002, Nr. 124 / Seite 47

      Was ist zumutbar?

      Martin Walser und die Gespenster der Vergangenheit

      Jeder weiß, daß in diesen Wochen der Vorwurf des Antisemitismus inflationär zu werden droht. Das ist gefährlich, weil die Grenzen verfließen. Aber es gibt auch Eindeutigkeiten: Ein Buch, das den zweiundachtzigjährigen Holocaust-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki und seine Frau haßerfüllt karikiert, muß wissen, daß es mit den Stereotypen antisemitischer Klischees spielt. Und Martin Walsers neuer Roman - und hier ist vorläufig gar nicht vom Autor die Rede - spielt ohne Zweifel mit antisemitischen Klischees. Die großen Tageszeitungen sind nach der ersten Lektüre des Buches ganz überwiegend zu dem Schluß gekommen, daß die von dieser Zeitung erhobenen Vorwürfe berechtigt seien (siehe unsere Meldung auf dieser Seite).

      Schon einmal hat es über die Verwendung antisemitischer Klischees in einem literarischen Werk eine Auseinandersetzung gegeben, in die sich diese Zeitung und der damalige Herausgeber Joachim Fest vehement eingemischt haben. Es ist siebzehn Jahre her, daß die Freiheit der Kunst und die Grenzen des Zumutbaren sich auf bis dahin einzigartige Weise berührten. Der jüdische Theaterregisseur Peter Zadek schrieb damals über das umstrittene, am Frankfurter Schauspielhaus zur Uraufführung anstehende Theaterstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder, er glaube, das deutsche Theaterpublikum sei objektiv genug, um zu sehen, was ihm da vorgeführt werde. Zadek hielt das Stück für antisemitisch und zählte es zu den schwächsten Arbeiten Fassbinders: "Trotzdem, nun ist es da, und ich finde es gut, dieses schwache antisemitische Stück eines genialen Filmemachers zu zeigen."

      Zadek stand 1985 mit seiner Meinung nicht allein, viele teilten die Ansicht des Regisseurs. Kaum jemand verteidigte die geplante Aufführung mit dem Argument, Fassbinder habe ein großartiges Stück geschrieben. Nur wenige widersprachen dem Vorwurf, Fassbinders Stück zeige deutliche antisemitische Tendenzen. Aber man hielt den Antisemitismus für ein Gespenst aus einer fern geglaubten Vergangenheit und das deutsche Publikum für reif genug, sich antisemitische Stücke anzusehen. Die Gegner der Aufführung waren zum Teil anderer Ansicht, zum Teil definierten sie jedoch nur das deutsche Publikum ein wenig anders. Denn sie zählten, anders als ihre Widersacher, auch Juden dazu. Das Entsetzen vieler Juden, darunter auch Überlebender des Holocaust, darüber, daß sie das Zerrbild des "reichen Juden" auf einer deutschen Bühne sehen sollten, war das stärkste Argument der Aufführungsgegner. Sie stellten es sogar über die Freiheit der Kunst.

      Ignatz Bubis, der als Vorbild für Fassbinders antisemitische Figur des "reichen Juden" galt, forderte damals ebenso wie Zadek die Aufführung des Stücks, freilich aus einem anderen Argument heraus. Bubis war besorgt, es würde sonst heißen, "die Juden" in Frankfurt hätten sogar die Macht, ein Theaterstück zu verhindern. Joachim Fest schrieb damals in dieser Zeitung: "Das Argument ist sicherlich zutreffend. Aber es fällt nicht ins Gewicht, und niemand sollte sich darauf berufen. Denn es ist ein Argument der Angst."

      Als vor vier Jahren Fassbinders Stück in Berlin aufgeführt werden sollte, meldete sich Zadek wieder zu Wort. Dieses Mal sprach er sich gegen die Aufführung aus. Es sei ein miserables, peinliches Stück, dessen Aufführung der Verlag seinem Autor zuliebe verhindern sollte. Zadek war nach wie vor der Ansicht, Fassbinders Stück sei eindeutig antisemitisch. Aber gegen die Aufführung des Stücks war er nun aus Gründen mangelnder Qualität. Mangelnde Qualität hat Marcel Reich-Ranicki auch dem neuen Buch von Martin Walser vorgeworfen.

      Seit der Auseinandersetzung um Fassbinders Stück sind siebzehn Jahre vergangen, Jahre, in denen die Vergangenheit nicht ferner und der Antisemitismus nicht ungefährlicher geworden sind. Wer anderes glauben will, mag anderes glauben. Aber niemand wird leugnen wollen, daß das Entsetzen der Juden in Deutschland darüber, was mancher glaubt, ihnen zumuten zu dürfen, nicht geringer geworden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Und deshalb geht der Streit um das neue Buch von Martin Walser vor allem um die Frage, was wir als zumutbar verstehen wollen.

      Die großen Tageszeitungen sind mit Ausnahme der "Süddeutschen Zeitung" der Ansicht, daß Walser die Grenze des Zumutbaren überschritten habe. Der Schriftsteller lehnt diese Sichtweise nach wie vor vehement ab. Walser sagt, er habe ein Buch über die Verhältnisse des Literaturbetriebs geschrieben, betrachtet aus der Perspektive des Autors. Walser beschreibt also, wie ein Autor Kritik empfindet und wie er gern darauf reagieren möchte.

      Wer nicht zustimmen könne, heißt es in "Tod eines Kritikers" einmal, solle den Mund halten. Es ist ein Schriftsteller, dem der Schriftsteller Martin Walser diese Worte in den Mund legt. Was ist davon zu halten? Gegen wen sind diese Worte gerichtet? Gegen die Kritik, die es als ihre Aufgabe betrachtet, mehr als nur Zustimmung zu äußern, nämlich begründete Zustimmung oder begründete Ablehnung? Oder wird hier ein Schriftsteller lächerlich gemacht, der sich in seiner narzißtischen Ablehnung der Kritik in eine unselige Tradition stellt, nämlich die Tradition all jener, die Kritik als schädlich und zersetzend begreifen wollen?

      Martin Walser weiß, daß die Kritik im Nationalsozialismus als jüdisch diffamiert und mundtot gemacht wurde. Und er weiß, daß Marcel Reich-Ranicki sein Leben lang darum gekämpft hat, daß die Kritiker in Deutschland als Anwälte der Literatur verstanden werden. Walser selbst liefert, wenn er über die Bücher anderer Autoren schreibt, emphatische Freundschaftsbekundungen, Liebeserklärungen von Schriftsteller zu Schriftsteller. Wenn er über den Kritiker schreibt, entsteht ein Dokument des Hasses, das nicht allein Marcel Reich-Ranicki betroffen macht.

      Der Roman "Tod eines Kritikers" ist der Versuch einer Abrechnung. Er sollte wohl den Schlußpunkt setzen unter eine Jahrzehnte währende Beziehung zwischen einem Schriftsteller, Martin Walser, und einem Kritiker, Marcel Reich-Ranicki. Martin Walser wollte sich rächen und er wollte es auf die ihm gemäße Weise tun: auf literarische Weise. Man muß sagen, daß dieses Unternehmen gründlich mißlungen ist. Oder gilt der Satz: Wer nicht zustimmen kann, soll den Mund halten?

      Mehrfach hat Martin Walser von der Zuneigung gesprochen, die es zwischen Autor und Kritiker im Buch gebe. Tatsächlich gibt es das Werben Hans Lachs um den Kritiker und das hinterhältige Spiel André Ehrl-Königs mit den Annäherungsversuchen des Autors, der Nähe, Vertrauen, auch seinen Vorteil sucht. Was dem erfolglosen Werben im Buch folgt, ist die Rachephantasie des Zurückgewiesenen. Lach ist unschuldig, aber er gesteht. Denn er kann, ganz walsertypisch, die gefühlte Mordlust nicht geringer schätzen als die Tat. In Walsers Sinne sind Gedanken Taten. Auch deshalb wiegt die Verwendung antisemitischer Klischees so schwer.

      Einige Jahre vor dem Fassbinder-Streit erhielt Walser die Heine-Plakette. Damals schrieb sein Laudator Marcel Reich-Ranicki: "Dieser Schriftsteller ist ein anatomisches Wunder - sein Körper besteht aus lauter Achillesfersen. Mit anderen Worten: Er ist überall verwundbar. Das mag seine größte Schwäche sein und zugleich seine größte Stärke. Das ist vielleicht sein Unglück, aber unser, seiner Leser, Glück. Denn Verwundbarkeit bedeutet hier Empfindlichkeit." Das gilt heute leider nicht mehr. Denn weil Martin Walsers Empfindlichkeit heute auf die Verwundung anderer aus ist, ist sein Unglück nun auch das seiner Leser.

      HUBERT SPIEGEL

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2002, Nr. 124 / Seite 47
      Avatar
      schrieb am 01.06.02 13:00:56
      Beitrag Nr. 111 ()
      :laugh:

      Ich hab den RR doch erst gestern im Fernsehen gesehn! .... für´n Toten sieht der noch ziemlich lebendig aus!

      :laugh:


      .... ich möchte bitte nicht auf Grund meiner Aussage als Antisemit beschimpft werden! :rolleyes:

      hell :D
      Avatar
      schrieb am 01.06.02 14:50:51
      Beitrag Nr. 112 ()
      Schirrmacher hat sich nun in einem Interview geäußert. Seine Vorwürfe gegeb Walser scheinen nun wirklich nicht viel Substanz zu besitzen. Fast könnte man glauben, er sei auf die bewußte Provokation Walsers hereingefallen.
      Die Aussage "ab heute .. wird zurückgeschlagen" sei eine antisemitische Äußerung! Tja, was soll man dazu sagen.


      aus Spiegel Online von heute
      --------------------------------
      FRANK SCHIRRMACHER ÜBER MARTIN WALSER

      "Ich war so angewidert"

      Er war der Auslöser der Walser-Debatte, bezichtigte den Autor antisemitischer Mordphantasien. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher schrieb in seiner Zeitung, weshalb er den neuen Roman Martin Walsers nicht drucken werde. Seitdem steht auch Schirrmacher in der Kritik - und schwieg. Jetzt antwortet er im SPIEGEL-Gespräch.

      SPIEGEL: Herr Schirrmacher, Sie haben Ihre Entscheidung, den neuen Walser-Roman nicht vorabzudrucken, auf Seite eins der "Frankfurter Allgemeinen" verkündet und im Feuilleton, mit Blick auf die "antisemitischen Klischees", ausführlich begründet. Warum haben Sie nicht stattdessen dem Autor sein Manuskript persönlich zurückgegeben und ihm einfach gesagt: Lieber Mann, diesen Text drucken wir nicht?
      Schirrmacher: Das haben wir uns lange überlegt. Aber ich hatte schließlich keine andere Wahl. In diesem Text wurde ja mein Vorgänger als Literaturchef - der auch jetzt noch für uns arbeitet - attackiert, zudem ein Kollege mit einer besonderen, allgemein bekannten Biografie. Es war doch klar, dass ich mich allein schon deshalb vor ihn stellen würde. Nun hat allerdings Walser zu verstehen gegeben, dass er eine Ablehnung dem Einfluss von Marcel Reich-Ranicki zuschreiben würde und dass sein Text dann eben woanders erscheinen müsste. In dieser Situation wäre es nicht zu verantworten gewesen, wenn es später geheißen hätte, die "FAZ" kannte diesen Text und hat nichts unternommen. Ich musste also da etwas öffentlich unternehmen - um Reich-Ranicki zu schützen und einer Legende vorzubeugen.

      SPIEGEL: Trifft Sie der Vorwurf, Sie hätten mit Ihrer Vorab-Kritik eines noch nicht veröffentlichten Buchs Anstandsregeln der Presse verletzt?

      Schirrmacher: Elementare Anstandsregeln sind durch das Buch verletzt worden, auch durch den naiven Versuch, ausgerechnet die "FAZ" zum Komplizen einer solchen Hinrichtung ihres eigenen Mitarbeiters zu machen. Das Manuskript, das wir bekommen haben, war ja vom Verlag schon autorisiert.

      SPIEGEL: Noch einmal: Warum die Skandal-Trompete, die das umstrittene Werk nun richtig bekannt macht?

      Schirrmacher: Das wäre doch erst recht passiert, wenn kolportiert worden wäre,

      die "FAZ" hätte, nachdem sie viele andere Walser-Romane vorabgedruckt hat, diesen stillschweigend abgelehnt - unter dem Einfluss Reich-Ranickis.

      SPIEGEL: Was halten Sie von der Lesart einiger weniger Walser-Verteidiger, der Roman enthalte viel Geschmackloses, sei aber "kein antisemitisches Buch"?

      Schirrmacher: Dass ich behauptet habe, wie mir unterstellt wird, es sei schlechthin ein antisemitisches Machwerk, ist falsch. Ich sprach vom Spiel mit dem Repertoire antisemitischer Klischees, etwa was die notorische "Herabsetzungslust" des Kritikers angeht.

      SPIEGEL: Zielt die Mord-Phantasie eines Schriftstellers, die Walser beschreibt, nicht vor allem auf die Medien-Übermacht des Kritikers Ehrl-König und weniger auf dessen jüdische Herkunft?

      Schirrmacher: Nein, in dem Buch finden sich ja Reflexionen darüber, ob es einen Unterschied macht, einen Juden oder Nichtjuden umzubringen. Walser wusste sehr genau, was er da schreibt: "Sehen Sie sich vor, Herr Ehrl-König. Ab heute Nacht null Uhr wird zurückgeschlagen." Diese Hitler-Variation hat Walser doch freiwillig hineingeschrieben, das zielt natürlich auf den Juden und nicht auf den Kritiker als solchen. So etwas ausgerechnet bei uns zu drucken, hielt ich für unverantwortlich.

      SPIEGEL: Erschiene das Werk am besten überhaupt nicht?

      Schirrmacher: Ich meine, das Buch soll veröffentlicht werden, wenn es jemand veröffentlichen will - wo auch immer. Allein schon, um zu verhindern, dass daraus ein Mythos wird.

      SPIEGEL: Halten Sie es prinzipiell für bedenklich, eine Satire auf Reich-Ranicki zu schreiben?

      Schirrmacher: Das hat Eckhard Henscheid doch längst gemacht. Wir alle parodieren den Meister gern mal. Aber Walser hat in sich, vielleicht auch unbewusst, eine solche Menge Hass akkumuliert, über den er die Kontrolle verloren hat, um dann diese Mord-Phantasie über einen Mann, dessen Familie fast vollständig ermordet worden ist, zu entwickeln. Da ist die Grenze, die er nicht hätte überschreiten dürfen.

      SPIEGEL: Sie haben dem Friedenspreisträger Walser 1998 in der Frankfurter Paulskirche die Laudatio gehalten und später seine Rede über die "Moralkeule" Auschwitz verteidigt. Jetzt greifen Sie, wie es scheint, selbst zu dieser Keule. Tut Ihnen Ihre Laudatio von damals heute Leid?

      Schirrmacher: Überhaupt nicht. Ich habe nichts zurückzunehmen. Die Paulskirchen-Rede von Walser scheint mir auch rückblickend vertretbar. Nur glaube ich heute, dass damals etwas begann, was ich in meinem offenen Brief Walsers "fatalen Weg" nannte. Ich schwinge jetzt auch keine Keule, sondern ich stelle fest, was uns angeht: Bis hierhin und nicht weiter. Ich war so angewidert von diesem Buch, dass ich nach der Lektüre nicht einmal mit dem Autor telefonieren konnte.

      SPIEGEL: Endet der "Tod eines Kritikers" mit dem - was die literarische Reputation betrifft - Tod eines Autors?

      Schirrmacher: Das glaube ich nicht. Er hat wichtige Bücher geschrieben und eine große Rolle in der Bundesrepublik gespielt. Darüber hinaus: keine Prognose.
      Avatar
      schrieb am 01.06.02 15:04:18
      Beitrag Nr. 113 ()
      danke für die Artikel.. ich les doch alles was ich darüber lesen kann :eek: hier noch eine interessante Betrachtung aus der heutigen NZZ

      Cui bono?

      Wie es bei Suhrkamp weitergeht

      Der Spuk muss aufhören, das Buch in die breite Öffentlichkeit. Damit ein jeder prüfen kann: Ist «Tod eines Kritikers», in seinen aggressiven Charakterzeichnungen, auch in den heiklen physiognomischen Skizzen, ein antisemitischer Roman? Antisemitische Intentionen beim Autor darf man getrost ausschliessen. Wer sie insinuiert, betreibt Rufmord. Bleibt die Analyse historisch objektiv belasteter Stilmittel am Material: dem geschriebenen Wort. Lieber heute als morgen sähe Martin Walser den Text in den Buchhandlungen. Aber das lässt die Herstellung nicht zu. Der ursprünglich für den 11. August zur Publikation vorgesehene Roman muss noch gesetzt, korrigiert, gedruckt und gebunden werden. Vor Ende Juni ist das selbst bei grösster Eile nicht zu schaffen.

      Könnte Suhrkamp nicht die Zwischenzeit für redaktionelle Eingriffe, für die Abmilderung manch böser Schilderung und verdächtiger Vokabeln benutzen? Wer so fragt, kennt Walser nicht. Kein Wort will er ändern. «Das bleibt so. Schluss und aus», sagt auch Verlagsleiter Günter Berg. Und dann widerspricht Berg dem hier und da erweckten Eindruck, Suhrkamp stehe womöglich nicht zu seinem Autor. Dass es zwischen Unseld und Walser manchmal schwierig ist und dass Walser mit diesem neuen und dem Roman davor am liebsten Gottfried Honnefelder in den Dumont-Verlag gefolgt wäre, ist kein Geheimnis. Aber das ändert nichts daran, dass Unseld Walser halten will. Er hat das Buch gelesen, den Verlagsvertrag gemacht. Treue zum Autor, notfalls unter Schmerzen, ist schönste Suhrkamp-Tradition.

      Wie die Kampagne gegen Walser eröffnet worden ist, verrät nicht gerade die feine Art. Am 8. Mai erhielt «FAZ»-Literaturchef Hubert Spiegel eine Rohfassung des Romans. Drei Wochen lang gab es keine Rückmeldung aus dem Frankfurter Feuilleton, die den Schlag hätte ahnen lassen, den Schirrmacher dann führte. Hubert Spiegel und Günter Berg haben in der Vergangenheit manchen Vorabdruck eines Suhrkamp-Buches gemeinsam massgeschneidert. Wenn Spiegel nun drei Wochen lang keine Bedenken über den angeblichen Walser`schen Antisemitismus äusserte - was heisst das dann? Die Nachricht, dass Walsers Buch in der «FAZ» nicht vorabgedruckt, dafür aber vom Herausgeber ablehnend kommentiert werden würde, erreichte Suhrkamps Verlagsleiter erst am Dienstagnachmittag: Da harrte Schirrmachers Artikel bereits der Drucklegung.

      Einige Kommentatoren in Deutschland sind sich nicht zu schade, das nun erregte Aufsehen als auflagensteigernde Marketingstrategie des Suhrkamp-Verlages zu interpretieren. Absurder geht es nicht. Hat man vergessen, dass Suhrkamp kein einzelnes Haus, sondern eine Verlagsgruppe ist, zu der auch der Jüdische Verlag gehört? Fehlt es an Phantasie, um sich vorzustellen, welche Stimmung, welche Verunsicherung in Frankfurts Lindenstrasse herrschen muss, wenn auch nur der Verdacht erweckt wird, der Antisemitismus bekomme dort ein Forum? - Die Marketingstrategie wäre denn wohl an anderer Stelle zu suchen, nicht im Hause Suhrkamp.

      Die Diskussion um Martin Walser trifft Suhrkamp zu einem Zeitpunkt, da sich die Zukunft des Unternehmens entscheidet. Wie man weiss, soll nach dem Ausscheiden Siegfried Unselds eine Stiftung den Suhrkamp-Verlag tragen. Die designierten Mitglieder des künftigen Beirats - Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Jürgen Habermas, Adolf Muschg und der Hirnforscher Wolf Singer - werden am heutigen Samstag in Frankfurt über ihre künftigen Pflichten unterrichtet; sie werden erfahren (und gegebenenfalls wird es beschlossen und vertraglich fixiert), welche Aufgaben und Möglichkeiten sie wahrnehmen können. Genauer: wahrnehmen dürfen.

      Denn die Macht liegt beim Stiftungsvorstand: bei Unselds Frau Ulla Berkewicz, ihrem Rechtsberater und einem Wirtschaftsanwalt. Es wäre interessant zu wissen, wie dieses Dreigestirn zu Martin Walser steht. Und dann freilich auch, wie wohl der illustre und für die programmatische Ausrichtung des Suhrkamp-Verlages bedeutsame Beirat über das skandalisierte Buch urteilt. Wird er es gutheissen, dass sich Günter Berg vor den Autor stellt und von einem «Affentheater» spricht? Wird er, was man annehmen sollte, dem Verlagsleiter den Rücken stärken? Oder werden heute die Karten neu gemischt? Dann bekäme die Walser-Schirrmacher-Debatte einen neuen, bislang unbeachteten Hintergrund, und man hätte zu fragen: Cui bono?

      Joachim Güntner
      Avatar
      schrieb am 01.06.02 15:12:51
      Beitrag Nr. 114 ()
      ich hab ein bisschen bedenken, so viele artikel zu posten, wer soll das alles lesen :laugh: mein liebster kleiner text heute im tages-anzeiger ist leider wieder nicht online verfügbar, darin wurde ausgeführt wie oft und wo RR schon in literatur `verarbeitet` wurde, u.a. bei HANDKE. gewiss mag das nur für literatur-angefressene wichtig sein, es rundet aber das bild ab :)

      hier noch ein anderer text aus dem tagesanzeiger, von der journalistin, die am ersten tag bereits als tatsache schrieb, der roman sei antisemitisch, offenbar hat sie sich jetzt informiert...

      Der Scoop ist da, das Ziel somit erreicht

      Man diskutiert über Walsers Manuskript, das vorerst nur als E-Mail kursiert. Der Vorgang selber löst Konsternation aus, Suhrkamp überlegt das weitere Vorgehen.
      Von Claudia Kühner


      Ist Martin Walsers neuer Roman antisemitisch? Die Hauptfigur Marcel Reich-Ranicki selber ist klar in seinem Urteil, wie er es gegenüber der NZZ geäussert hat: «Es ist wirklich ungeheuerlich», es handle sich um «einen antisemitischen Ausbruch, der ja wirklich offenkundig ist». Als Literaturkritiker befindet er: «Miserable Literatur» und «so schlecht hat Walser noch nicht geschrieben». Offiziell haben nur wenige Personen das Manuskript gesehen, inoffiziell kursiert es als E-Mail. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», FAZ, selber hat gestern nur Reaktionen zusammengefasst; Frank Schirrmacher als Verfasser der Absage hat sich Medien gegenüber bisher nicht weiter geäussert.

      Es steht die eine Frage im Vordergrund: Weshalb wendet sich Schirrmacher heute gegen Martin Walser, dem das Schüren antisemitischer Ressentiments nun schon seit Jahren vorgeworfen wird, dem er bisher aber immer zur Seite stand?

      Marcel Reich-Ranicki hatte sich in jenem Konflikt zurückhaltend geäussert, wie er überhaupt nicht vorschnell mit dem Vorwurf des Antisemitismus bei der Hand ist, was zu zeigen er in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit hatte. Als Literaturkritiker hat er sich aber schon seit langem sehr kritisch mit Walser auseinander gesetzt. So schreibt Thomas Steinfeld, heute Literaturchef der «Süddeutschen Zeitung» und zuvor im Feuilleton der FAZ tätig: «Heute fordert die FAZ dieselbe politische Korrektheit von Martin Walser, für deren Missachtung sie ihn gestern noch bewunderte.» Und: «Über Jahrzehnte hat das Feuilleton der FAZ mit und von Martin Walser gelebt . . .»

      Hört man sich in der «Branche» um, bei Journalisten und Verlegern, kommt immer wieder die eine Vermutung zum Ausdruck, wenn auch vorerst aus anonymem Mund: Bei diesem einmaligen Vorgang ging es der Zeitung und ihrem Herausgeber alleine um den Scoop. Es gab allerdings auch im Hause Suhrkamp offenkundig starke Gegenstimmen gegen die Publikation, sodass Walser gedroht habe, nach über 40 Jahren das Haus zu verlassen. Inzwischen gibt es im Hause Suhrkamp auch Überlegungen, ob man das Buch überhaupt zurückziehe.

      Gustav Seibt - auch er war bis vor kurzem noch Feuilletonredaktor der FAZ gewesen - rekapituliert in der «Süddeutschen Zeitung» von gestern nochmals die jahrzehntealte wechselhafte Beziehung zwischen Schriftsteller und Kritiker, eine Beziehung, «die kühlere Zuschauer an die Bizarrerie von sadomasochistischen Verhältnissen gemahnen kann».

      Doch im Verhältnis zwischen den beiden (aber nicht nur hier), hat die Tatsache, dass Reich-Ranicki Jude ist, immer wieder eine ziemlich komplizierte Rolle gespielt, die Seibt nochmals nachzeichnet. Das ging schon bis zu solch abstrusen Vergleichen, wie sie in einem Vorwurf Walsers laut wurden, der von Reich-Ranicki kritisierte Autor sei das Opfer, der Kritiker der Täter, und jeder Autor könne sagen: «Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude.» Und Karl Heinz Bohrer, der Reich-Ranickis Vorgänger als Literaturchef der FAZ gewesen war, hat vor zwei Jahren gesagt, Reich-Ranickis sei «die Rache des polnischen Juden an den deutschen Spiessern». Das allerdings kann auch ein Kompliment sein . . .
      Avatar
      schrieb am 02.06.02 13:32:38
      Beitrag Nr. 115 ()
      heute ist der 4. Tag der Berichterstattung über den Walser-Skandal :eek: in den beiden grossen Sonntagszeitungen in der Schweiz sind wieder ausführliche Artikel zu lesen.

      hier eine Rezension von jemandem, der das Manuskript gelesen hat:

      http://www.sonntagszeitung.ch/sz/szUnterRubrik.html?ArtId=19…

      Tod eines Kritikers» ist deftig und komisch

      «Tod eines Kritikers» dauert nur 153 Seiten. Walsers neuer Roman, den die Suhrkamp-Presseabteilung auf Anfrage elektronisch an die Redaktionen übermittelt, liest sich in wenigen Stunden. Und er ist, als Satire auf den Literaturbetrieb, erstaunlich unterhaltsam.
      Alles ist bereits auf der ersten Seite versammelt: ein Schriftsteller, der wegen Mordverdachts verhaftet wird, der Kritiker Ehrl-König, der in seiner TV-Sendung unsanft mit Autoren umspringt, sogar eine Zeitung namens «Frankfurter Allgemeine». Doch die Sache ist komplizierter. Denn erzählt wird aus der Perspektive eines Schreiberlings - spezialisiert auf Mystik, Kabbala und Alchemie -, der mit dem verhafteten Schriftsteller befreundet war. Gegen Ende wechselt die Perspektive, der Schreiberling war bloss eine Erfindung und das Ganze eine Fiktion in der Fiktion.
      Aber die Realität?! Die antisemitischen Stellen?! Die muss man, mit Verlaub, schon genau suchen und manchmal auch aus dem Zusammenhang reissen, um eine feuilletonistische Breitseite abfeuern zu können. Klar, Walser ist kein Meister der abwägenden Differenzierung. Er arbeitet mit argen Klischees und Phrasen, die durch die mehrschichtige Erzählperspektive abgefedert - und manchmal auch verwedelt - werden.
      Aber: Wie Walser diesen Ehrl-König samt seiner Show - Reich hin, Ranicki her - beschreibt, ist so deftig wie komisch. Und wie er den Literaturbetrieb einkreist, lädt zum Schmunzeln ein. Die Konstruktion ist dabei raffinierter, als es die hämischen Verrisse jetzt vermuten lassen. Sie erinnert ein wenig an den - im «Tod eines Kritikers» auch erwähnten - Amerikaner Philip Roth, der ja auch gerne mit Überzeichnung operiert.
      Das allein macht natürlich aus Walsers kleinem Roman kein Meisterwerk. Aber eine vergnügliche Lektüre für eine Nacht.

      Matthias Lerf

      weitere artikel: http://www.sonntagszeitung.ch/sz/szUnterRubrik.html?rubrikid…

      http://archiv.nzz.ch/books/nzzsonntag/0/$86RIV$T.html

      in diesem letzteren artikel steht folgendes:
      Und das heisst: Walser hat einen literarisch gänzlich missratenen, formal krausen und inhaltlich konfusen Roman geschrieben

      für Matthias Lerf im Text oben ist die `vergnügliche Lektüre` das Ganze eine Fiktion in der Fiktion.

      woraus man schliessen kann, dass Walser sich nicht nur in der Wortwahl dem Internet, ja dem WO-Board, annähert (ist doch nicht schlecht! :laugh: ) sondern auch in der Form.

      Amüsiert stelle ich auch fest, dass für die meisten Berichterstatter (Journalisten, Kritiker, Autoren) ganz besonders schlimm die Karikierung der Aussprache BRR`s ins Gewicht fällt, wobei sie genüsslich Beispiele liefern über die "Aussschschpeerrrrrache".

      Andreas Isenschmid in der "nzzsonntag" dazu:

      Es soll also nicht antisemitisch sein, einen jüdischen Kritiker im Roman in gebrochenem Deutsch reden zu lassen? Ihn «Keritiker», «Schschscheriftstellerrr» und «doitsche Literatür» sagen zu lassen? Ist das nicht die üble Tradition, in der Gustav Freitag und andere herabsetzend Juden karikiert haben? Die meisten deutschen Feuilletons bringen dieser Tage Hinweise wie diese. Aber in keinem ist vom merkwürdigen deutschen Nationalsport der Reich-Ranicki-Imitation die Rede. Kaum eine Party vergeht in diesem Land, ohne dass nicht jemand begänne, die Sprechweise Reich-Ranickis zu imitieren. Und dieser harmlos-dümmliche Partyspass soll nun, wenn Walser ihn in einer Satire praktiziert, aufs Mal antisemitisch sein?

      ich bemerke, dass Isenschmid nur fragt, wer weiss die Antwort?
      [/i]
      Avatar
      schrieb am 03.06.02 20:33:26
      Beitrag Nr. 116 ()
      Hab da mal ´ne Frage.

      Gesetz den Fall, RR liest den Roman von Walser und stirbt währenddessen bzw. kurz darauf!! Kann Walser dann des Mordes angeklagt werden??

      hell :D
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 11:04:30
      Beitrag Nr. 117 ()
      @SEP #72:

      "Hetze gegen einen Juden ist Antisemitismus. Was sonst ? "

      Meinst Du das ernst? Also darf man niemals gegen MRR "hetzen", weil er Jude ist? Ist er dadurch unangreifbar?

      Darf man Sharon einen Verbrecher nennen (was ich nicht mache und was ich für ziemlichen Blödsinn halte)? Ist man dann gleich Antisemit? Oder einfach nur blöd?
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 11:15:24
      Beitrag Nr. 118 ()
      Marcel Reich-Ranicki zu Gast bei Sandra Maischberger:

      http://www.n-tv.de/3017327.html
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 12:09:06
      Beitrag Nr. 119 ()
      Aus dem Spiegel-Interview des Herrn Schirrmachers:
      "Sehen Sie sich vor, Herr Ehrl-König. Ab heute Nacht null Uhr wird zurückgeschlagen." Diese Hitler-Variation hat Walser doch freiwillig hineingeschrieben, das
      zielt natürlich auf den Juden und nicht auf den Kritiker als solchen."

      Lieber Herr Schirrmacher, dieses Zitat Hitlers hat nichts mit Juden zu tun!
      Mit ähnlichen Worten hat Hitler den Überfall auf Polen verkündet.
      Wenn Sie die deutsche Geschichte nicht kennen dann schauen Sie doch
      im Lexikon nach oder leiden Sie an Judomanie?
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 15:14:27
      Beitrag Nr. 120 ()
      @Rainer 6767

      #117, meinst Du deine Frage ernst?

      Hetze erlaubt ?

      Und es gibt die Hetze gegen Juden,

      und dazu dann noch den - ja was denn ? - normalen Antisemitismus ? Den von Hetze freien Antisemitismus ?

      Hetze gegen Schwarze ist Rassismus.

      Darauf würdest Du einwenden, ob ichb ernsthaft glaube, daß man nie gegen Schwarze hetzen dürfe ?

      Ich bin stark verunsichert, Rainer.

      Nein, Du darfst, so verstehe ich das, nicht gegen jemanden hetzen.

      Nicht einmal gegen Juden, auch wenn dies dann nur Antisemitismus wäre.

      Wo liegt da mein Gedankenfehler ?


      SEP
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 16:22:00
      Beitrag Nr. 121 ()
      @Sep

      Es gibt eben zwei Arten von "Hetze":

      1. Hetze gegen eine Person.

      Beispiel :"Friedman ist ein arrogantes und eitles arschloch"
      Beispiel :"Reich-Ranicki ist ein machtgeiler Kritiker, der Literatenseelen zerstört".

      2. Hetze gegen einen Vertreter

      einer Rasse, Religionsgemeinschaft, etc. eben deshalb, weil er ein Vertreter dieser Rasse, Religionsgemeinschaft, etc. ist. Es geht nicht nur gegen die Person, sondern vor allem gegen die Rasse, Religionsgemeinschaft, etc., für die die Person nur ein Stellvertreter ist. Kritik an der Person ist in Kritik an einer Gruppenzugehörigkeit festgemacht.

      Beispiel : "Dieser fiese Jude Friedmann"
      Beispiel : "Diese schwarze Sau Mandela"

      Und jetzt das Entscheidende:

      Hetze im Sinne von 1 muß erlaubt sein. Dies ist kein Antisemitismus und kein Rassismus, nur weil die Person zufällig Gruppenzugehöriger einer Rasse oder Religionsgemeinschaft ist.

      Hetze im Sinne von 2 muß entschieden entgegengetreten werden.
      Problematisch sind die Mischfälle, in denen Hetze 2. Art durch Aussagen 1. Art getarnt werden.

      Viele Medien und Kommentatoren sind z.Z. bereit die Hetze 1.Art - insbesondere, wenn ein Jude Zielobjekt (nicht als Jude, sondern als Person, sonst wäre es ja Hetze 2. Art) ist, als Hetze 2. Art zu interpretieren.
      Das ist verständlich, aber trotzdem ein Fehler.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 16:30:26
      Beitrag Nr. 122 ()
      @SEP:

      Wenn Du in Deinem Satz "Hetze gegen einen Juden ist Antisemitismus" das "einen" weglassen würdest, könnte ich Dir zustimmen.

      Ich bin mir nicht sicher, ob Du das so meinst, wie ich es verstehe.

      Gibt es Hetze gegen einen Juden, die nicht antisemitisch motiviert ist? Ich meine, ja.
      Welche Motive Walser hatte, sei mal dahingestellt.

      Ein Autor hetzt in übelster Weise gegen einen Kritiker, der tatsächlich den Literaturbetrieb in Deutschland in gewissem Umfang dominiert und diese Machtstellung auch ausnutzt. Unter anderem zur persönlichen Selbstdarstellung.
      Ein kritiker, der oft gnadenlos ist in seinem Urteil über das kreative Werk seiner Mitmenschen. "Dises Buch ist Schund", oder "Ich habe es gelesen, es ist einfach nur Scheiße" (sinngemäße Zitate aus dem literarischen Quartett, aus meiner Erinnerung).

      Wenn nun diese Machtstellung und deren Ausnutzung angegriffen wird, hat das mit Antisemitismus nichts zu tun. Im Gegenteil: Wer das auf die Juden im allgemeinen bezieht, offenbart damit eigentlich nur seine eigenen antisemitischen Vorurteile ("die Juden beherrschen alles" ).
      Zumindest offenbart er aber eine Empfindlichkeit in dieser Richtung. Er stellt in seinem Kopf Zusammenhänge her, die bei dem Autor möglicherweise gar nicht da waren. Und damit zeigt er eigentlich nur, dass er die Klischees verinnerlicht hat. Dass er sie, ohne sich darüber im Klaren zu sein, sogar teilt.

      Ein vielleicht etwas hinkendes Beispiel: Darf man zu einem Juden sagen, dass er hässlich ist? Wer diese Frage verneint, zeigt damit m.E. nur, dass in seinem Kopf das Klischee des "hässlichen Juden" vorhanden ist. Ob er dieses Klischee teilt, ist eine ganz andere Frage. Aber vorhanden ist es.

      Verstehst Du, wie ich das meine? Ich bin erst dann völlig frei von Antisemitismus, wenn ich einem hässlichen Juden sagen kann, dass er hässlich ist, ohne dabei an das antisemitische Klischee auch nur zu denken. Dass man so etwas generell zu seinen Mitmenschen nicht sagt, ist allerdings eine Frage des allgemeinen Anstands.

      Von diesem Punkt allerdings sind wir noch weit entfernt. Natürlich entsteht beim Angriff auf einen machtgeilen Juden bei vielen sofort das Bild der machtbesessenen Juden insgesamt. Und das wäre dann in der Tat antisemitisch.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 17:00:01
      Beitrag Nr. 123 ()
      oh mein gott. was wird denn hier schon wieder für ein
      dünnschiss gelabert. am besten wir nehmen das recht auf
      hetze ins grundgesetz auf!
      :laugh::laugh::laugh::laugh::laugh::laugh::laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 17:13:11
      Beitrag Nr. 124 ()
      Wüßt ihr überhaupt, was Hetze ist?
      Über jemanden eine Meinung zu verbreiten, die ihn fertig machen
      soll, die ihn der Würde, des Einkommens, der Tätigkeit, ja
      vielleicht sogar des Lebens berauben soll.
      Wenn überhaupt, dann sehe ich Ansätze von Hetze in der
      Berichterstattung über Karsli, der wohl ein unüberlegter
      Hitzkopf sein mag, der zwei dumme Sätze gesagt hat, aber
      den man jetzt unbedingt fertig machen will. Dem man die
      politische Aktivität (immerhin ist das sein Job seit 9
      Jahren) verbieten will und vielleicht auch dadurch seines
      Einkommens berauben will. Bei allen anderen Akteuren ist
      das nur Politshow und Wahlkampf! Keiner von denen muss
      um den Job oder seine Zukunft fürchten.
      Dem Karsli hat man aber ein Etikett auf die Stirn geklebt
      von dem er sich nie mehr reinwaschen sollte. Die Unfairness
      sieht man schon daran, dass man ihn nur auf diese zwei Sätze
      verkürzt. Keine Zeitung hat bisher gebracht, was er für die
      Grünen in den 9 Jahren erreicht hat, wo er engagiert war,
      ob er Kinder hat, welche Ausbildung er hat usw. Er soll
      das unrasierte Gesicht eines Antisemiten darstellen, dem
      keine menschliche Eigenschaft zueigen ist.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 17:46:55
      Beitrag Nr. 125 ()
      ich muß gerade mein Motorrad putzen und habe da eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken, was ihr meint.

      Für mich stellte sich das bisher so dar.

      Ich hetze gegen eine Person. Unschön, macht man nicht. Aber, so soll es für dieses Beispiel sein.

      Solange ich nicht weiß, daß dieser Mensch Jude ist, hetze ich in der Grundform sozusagen.

      Weiß ich, daß er Jude ist, dann wird meine Hetze dadurch antisemitisch. Ich kann in Bezug auf einen Person, von der ich weiß, daß diese Person jüdisch ist, nur in der Form des antisemitischen Ausdrucks hetzen.

      Ja selbst, wenn ich nicht weiß, ob die mir gegenüberstehende Person wirklich Jude ist, ich dies nur vermute, weil mir beispielsweise die Nase " semitisch" vorkommt, dann ist das Antisemitismus. Weil die Art meines Vortrages, hier also die Hetze, davon durch mein Unterbewußtsein beeinflußt wird.

      Es kommt also darauf an, was der Hetzer von seinem gegenüber weiß, bzw. annimmt, um die Art der Hetze genauer zu fassen, und zu bezeichnen.

      Einem Schwarzen „Nigger“ entgegenzuhalten, ist rassistisch. Du telefonierst mit einem Schwarzen, Du weißt also nicht, daß er ein Schwarzer ist, und Du beliebst, aus einer lieben Gewohnheit heraus, alle Menschen mit Nigger anzusprechen, auch diesen Telefonpartner Nigger, dann ist das, auf die Person bezogen, nicht Rassistisch. Weil Du konkret nicht diesen Umstand wissen konntest, einen Schwarzen am Telefon zu haben.

      Dennoch bist Du wahrscheinlich dann ein Rassist. Und der Telefonpartner, der nicht wußte, daß Du seine Hautfarbe nicht kanntest, wird Dich für einen Rassisten halten, obwohl er dies zunächst irrtümlich annimmt. Letztlich wird er damit jedoch dennoch Recht haben.

      Es kommt, nach meinem Verständnis, also darauf an, aus welchem Erkenntniszustand heraus man zur Hetze greift.

      Würde Walser nicht wissen, daß MRR Jude ist, dann würde es sich wahrscheinlich nur um Hetze handeln.

      Solange Walser nicht, unbewußt , zu ohnehin antisemitischen Redensarten greift, aus Gewohnheit sozusagen.

      Er hat also gegenüber einem Menschen, von dem er dieses Davidstern- Merkmal nicht kennt, nur dann eine Chance, sich antisemitisch zu äußern, wenn dies ohnehin in seinem Sprachgebrauch liegt.

      Das war ja der Sinn des Davidsterns: den latent vorhandenen Antisemitismus zur Wirkung zu bringen. Hätte man dies unterlassen, dann wären die sich womöglich ganz artig auf der normalen hetzer- Ebene begegnet

      Es kommt also darauf an, was man von seinem Gegenüber weiß.

      Hetze gegen jemanden, von dem man nicht weiß, dieser sei Jude, die aber gewohnheitsmäßig mit antisemitischen Sentenzen durchsetzt sind, lassen also den Schluß zu, einen notorisch antisemitischen Gesprächspartner vor sich zu haben.

      Weiß man nun, daß das Gegenüber Jude ist, und greift zur Hetze, dann ist dies antisemitisch, weil die Hetze, gegen eine Person vorgetragen, von der man weiß, sie ist Jude, vom Behetzten als antisemitsich empfunden werden muß. Er kann nicht differenzieren, wo man ihm mit normaler „Hetze“ entgegentritt, und ab wo die Hetze sich auf zusätzliche Merkmale zu stützen vorgibt. Die Hetze sozusagen in berechtigte Hetze umkippt.

      Zumindest war dies ja im 3. Reich so, nicht wahr ? Und die Berechtigung leitete sich aus Gesetzen ab, war also auch noch rechtmäßig.

      Nun ist den Leuten, die antisemitisch reagieren, sehr oft nicht nur nicht bewußt, daß sie dies tun. Sie bestreiten dies sogar vehement. Endlose Beispiele aus diesem Board, aber auch aus unserem tagtäglichen Erleben.

      Wie treten die vor einen Juden, urteilen über einen Juden, sich dabei aber nicht darüber im Klaren befindend, daß sie sich antisemitisch fühlen, antisemitisch denken und vor allem verhalten.

      Es kommt dann zu diesen Witzen, daß man auf Tagungen wohlmeinend einen Juden mit Israel in Verbindung bringt, und ihn so vom Rednerpult anspricht.

      Und nicht etwa als Deutschen sieht.

      Die ganzen inneren Vorbehalte kommen hoch, verkleidet in Form von - wohlmeinend vorgetragener - Distanz. Niemals würde den Laudatoren in den Sinn kommen, sie hätten soeben ihre antisemitsiche Seele offengelegt.

      Antisemitismus ist eine Sache des Unterbewußtseins. Sie äußert sich deswegen vor allem dann, wenn das Unterbewußtsein die Gelegenheit erkennt, sich äußern zu dürfen, oder aber zwanghaft versucht, diese Äußerungen zu unterbinden.

      Walser spielt mit einer Menge unterschwelliger Bilder, die, für sich betrachtet, wahrscheinlich einfach nur "schlechter Stil", Hass sind. Beispielsweise wenn er den Kritiker Ander Ehrl- König mit Freisler vergleicht.

      Es gibt unzählige Vergleichsmöglichkeiten, um jemanden zu Charakterisieren. Einen MRR in dieser Weise zu charakterisieren, ohne zu wissen, daß er Jude ist, ist ein stilistisch bereits wirklich sehr scharfes, vielleicht geschmackloses Schwert.

      Einen Juden MRR in dieser Weise zu charakterisieren, ist mehr als dies. Freisler mit MRR zu vergleichen, ist als "normale Hetze" nicht mehr denkbar. Das geht nach dem Motto: Scharfrichter hier, Scharfrichter da. Ich höre schon die Vergleiche, daß beiden in die Hände gelegt war, Existenzen zu vernichten.

      Was für eine Beleidigung von Opfern dieses Freislers. Welch ein Bild.

      Das ist dazu auf der Linie zu behaupten, die Juden verhalten sich wie Nazis, oder aber, sie errichten in Israel ein neues Auschwitz für die Palästinenser.
      Du kannst in keinem Zusammenhang davon reden, dort oder anderswo würde ein neues Auschwitz errichtet. Und Nazis, so unscharf dieser Begriff ist, ist mit Verbrechen an Juden verknüpft. Man muß sich etwas anderes suchen.

      Freisler hat nun nur ganz wenige Juden geklippt, aber er ist doch wohl ein signifikanter Vertreter des 3. , des Nazi- Reiches.

      Den mit MRR zu vergleichen deutet wohl doch darauf hin, daß Walser, trotz aller Verdienste, die er hat, eben auch von dieser Krankheit angefallen wurde.

      Einem dereinst mit Polen verbundenen entgegenzuhalten, ab 00 Uhr wird zurückgeschlossen, das hätte wohl auch nicht sein müssen. Das richtet sich nun auch noch gegen seine polnische Verbindung.

      Anti- polnische Ressentiments haben bei uns ja auch eine gewisse Tradition. Nun sage nicht, die kommt daher, weil die unsere Autos klauen. Ich hatte einen verwandten aus der DDR, der mich im Westen besuchte, als es die DDR noch gab. Was der so abließ gegen das sozialistische Brudervolk der Polen war pure Hetze. Oder war es etwa eine zulässige Äußerung über slawisches Untermenschentum ?

      Es hätte nur noch gefehlt, Walser hätte das Warschauer Ghetto stilistisch verwurstet.

      Ich bleibe dennoch ein Walser- Fan, nur um das klarzustellen, und hoffe bald wieder zuhören zu können, wenn er auf Fragen seine überirdisch gut gedrechselten Antworten hervorarbeitet.

      Es kommt darauf an, was ich von meinem Gegenüber weiß, um mein Unterbewußtsein in die Position zu bringen, sich in der zur ihm Verfügung stehenden Weise auf mein hetzendes Verhalten draufzulegen.

      Soviel ganz spontan.


      SEP
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 18:09:46
      Beitrag Nr. 126 ()
      @SEP:

      Ich habe nach wie vor den Eindruck, dass Du übelste persönliche Beleidigungen und Geschmacklosigkeiten (z.B. den Freisler-Vergleich) mit Antisemitismus verwechselst.

      Willy Brandt hat Heiner Geissler einmal als schlimmsten Hetzer seit Goebbels bezeichnet. Wie soll man einen solchen Vergleich einordnen? Und was ändert die Tatsache, dass der Beleidigte ein Jude ist, an dieser Einschätzung?

      Walser wollte offensichtlich MRR persönlich verletzen. Das ist ihm gelungen. Aber in diesem Satz steckt doch auch der Kern der Sache: Er wollte MRR als Person verletzen. Als Kritiker. Nicht als Juden.

      Anders ausgedrückt: MRR ist durch den Freisler-Vergleich wahrscheinlich erheblich mehr verletzt als jemand, der nicht diese Vita hat. Um so geschmackloser ist der Vergleich. Aber wo ist da der Antisemitismus?

      Es macht eben einen erheblichen Unterschied aus, ob man sagt "Die Polen klauen Autos" oder auch "Die Juden beherrschen den Kultursektor", oder ob man sagt "MRR beherrscht die Literaturszene".

      Hast Du nicht das Fassbinder-Stück erwähnt? Dazu: Darf man einen gierigen jüdischen Spekulanten als gierigen Spekulanten bezeichnen? Ja , darf man. Darf man ihn als gierigen jüdischen Spekulanten bezeichnen? Nein, darf man nicht.

      ...und während ich diesen letzten Absatz schreibe, habe ich Dich nun endlich verstanden. Du hast Recht. Das Buch ist antisemitisch. Denn genau das hat Walser gemacht.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 18:26:11
      Beitrag Nr. 127 ()
      @leary:

      "MRR ist ein machtgeiler jüdischer Kritiker, der Literatenseelen zerstört".

      Hetze Nr. 1 oder Nr. 2?

      Ich tendiere (Danke an SEP für den Erkenntnisgewinn) inzwischen zu Nr. 2.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 18:30:40
      Beitrag Nr. 128 ()
      Rainer, Sep habt ihr das Buch schon gelesen? Kann man es
      irgendwo elektronisch runterladen? In einer Rezension der NZZ
      stand, dass die Stellen, die des Antisemitismus verdächtig
      sein könnten, mit der Lupe zu suchen sind. Wüßt ihr nun mehr
      als die? Und verwechselt ihr nicht den Erzähler oder eine
      Figur mit dem Autor? Dazu muss man eben das Buch kennen!
      Darf in der Literatur nie mehr eine Romanfigur antisemitische
      Züge haben und antisemitische Sätze sprechen? Es kommt doch
      auf die Handlung an! Ist der Roman-Antisemit gleichzeitig ein
      guter, anständiger Mensch, der glorifizierte Held des Romans
      dann wäre das verdächtig. Man muss also wissen, was der Roman-
      Antisemit verkörpern soll. Das kann man nicht wissen, wenn
      man die Handlung und den Zusammenhang nicht kennt. Fällt doch
      nicht auf die Simplifizierungsversuche durch Herausnahme der
      Zitate aus dem Zusammenhang rein.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 18:36:13
      Beitrag Nr. 129 ()
      Die neuest Entwicklung:

      Walser will ins Walser-Tal

      aus: faz.net von heute
      ----------------------------
      Jetzt will Walser nach Österreich umziehen


      4. Juni 2002 Der Schriftsteller Martin Walser erwägt einen Umzug nach Österreich. Grund: Er fühlt sich von der deutschen Kritik schlecht behandelt.

      Die Antisemitismus-Debatte um seinen noch unveröffentlichten Roman weckt in ihm den Wunsch, „mich außerhalb dieser Grenze zu begeben“, soll der am deutschen Bodensee-Ufer lebende Walser der österreichischen Illustrierten „News“ gestanden haben. „News“ zitiert den Dichter mit den Worten: „Ständig denke ich: Nichts wie weg. Entfernung würde helfen. Vorarlberg ist ja nicht weit und ein schönes Land. Meine Vorfahren sind erst 1720 aus dem Großen Walsertal hierher gezogen“.

      Mehr als die Kritik von Marcel Reich-Ranicki habe ihn sein bisheriger Freund Hellmuth Karasek mit dem Text „Selbstmord eines renommierten Schriftstellers“ getroffen. „Wir kennen einander seit 40 Jahren, er war Dramaturg in Stuttgart, ich habe dort Stücke herausgebracht“, sagte Walser der Wochenillustrierten. „Wenn man liest, was er jetzt geschrieben hat, glaubt man nicht, dass man dableiben kann“.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 22:39:15
      Beitrag Nr. 130 ()
      Ich glaube, wir müssen zunächst einmal definieren, was
      "Hetze" ist. Ich glaube, dann kommen wir weiter.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 22:59:04
      Beitrag Nr. 131 ()
      Achtung:

      23:25 RR im ZDF - wird sich zu Walser äußern.
      Avatar
      schrieb am 04.06.02 23:08:42
      Beitrag Nr. 132 ()
      Die von leary genannten Beispiele unter 1 sehe ich nicht als Hetze. Tut mir leid.

      Das können sehr wohl Tatsachenbehauptungen sein, zumindest zulässige persönliche Äußerungen, sofern sie auf einem Erlebnis beruhen.

      Ich kenne sehr viele Arschlöcher, und gelegentlich (leider viel zu selten) äußere ich das dann auch.

      Das ist keine Hetze.

      "Friedman ist ein mediengeiles Arschloch" entspricht vielleicht nicht den Anforderungen der gehobenen Etikette. Dennoch kann ich mir vorstellen, daß es Leute gibt, die aus ihrem persönlichen Umgang mit Friedman diesen Schluß gezogen haben.

      Können sie ihren Standpunkt belegen, dann ist das eine zulässige Meinungsäußerung.

      Friedman kann nichts dagegen haben.

      Äußert jemand: "dieser Friedman ist ein mediengeiles Arschloch", er gibt aber damit zum Ausdruck, daß er den Juden herabsetzen will, oder etwas, was er für jüdisch hält, in einer verächtlichen Weise charakterisieren möchte, dann ist das (für mich ) Antisemitismus.

      Das eine ist eine zulässige emotionale Äußerung, die Verärgerung ausdrückt, das andere erstreckt sich weit darüber hinaus.

      Es erstreckt sich in den Bereich, den ich als "Hetze" charakterisiere:

      abfällige, gelegentlich unwahre Äußerung,( die Begebenheit hat sich nicht so zugetragen) geeignet jemanden in ein falsches Licht zu setzen ( diffamierung, Mobbing) und an andere adressiert, um entweder eine bereits vorhandene Basis für derartige Äußerungen zu bedienen, oder aber herzustellen.

      Das ist meine Definition, ich schau heute Nacht mal, ob ich Zutreffenderes finden kann.

      Hetze ist für mich sehr eng an Rassismus, und eben auch an Antisemitismus, und die ganzen anderen, konkretisierten Formen und -ismen.

      Jedem steht es frei, sich negativ zu jedermann zu äußern, auch zu MRR beispielsweise. Nur ist es in diesem Falle vielleiocht etwas schwieriger, weil der Beruf eines Kritikers immer Leichen hinterläßt, und deren Unvermögen und ausbleibende Erfolge dann sehr einfach einem Kritiker angehängt werden können.

      Tatsächlich spielt es sich genau so tagtäglich überall auf der Welt ab.

      Überall Genies, die nur von mächtigen Kräften ( womöglich dann sehr gerne jüdischen) Kräften an ihrer Entfaltung gehindert wurden. Nicht nir in der Literatur ist dies so.

      Wir sind hier schließlich in einem Börsenforum.

      Wo dieser jüdische penner und Weltzerstörer Greenspan mich bei einer Goldspekulation in sein blutiges Messer hat laufen lassen, um sich und seinesgleichen die Taschen zu stopfen, mein vermögen umzuverteilen. Das perfide an dieser ratte war dann noch, daß er selber die Öffentlichkeit gewarnt hat, in Gold zu gehen, weil dies fallen müsse.

      Nur mal ein Strickmuster, außerhalb der Literatur.

      MRR wurde geliebt, weil er diese Sprache hat, weil er damit die Schadenfreude der menschen anspricht, die gerne dabeisind, wenn jemand fertiggemacht wird.

      Nun wendet sich dieser scheinheilige Fanclub gegen MRR und applaudiert, wie der nun rund gemacht wird. Wie das wording seiner einstmals geliebten und bejohlten Verrisse aus der versenkung geholt und genüßlich nachverdaut werden.

      Und schließlich: ist der doch auch noch Jude ! Typisch, dieses runtermachen. Das kann nur ein Jude.

      Ohne mich, Leute.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 00:50:15
      Beitrag Nr. 133 ()
      Kommentar von Günther Grass bei Biolek heute abend ARD zum Vorgehen Schirrmachers:

      "Ein unfairer Vorgang ersten Ranges"
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 01:39:58
      Beitrag Nr. 134 ()
      leary

      er hat noch mehr gesagt. Und heute abend war auch MRR im ZDF, auch der hat ne Menge gesagt.

      Ist das so wichtig, was andere sagen ?

      Ich mache mir selbst ein Bild.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 01:57:24
      Beitrag Nr. 135 ()
      Sep hat hier hervorragende Arbeit geleistet.

      Das Problem ist für mich so langsam umkreist.
      Es gibt also antisemitische Muster, die ganz typisch sind.

      Das von Möllemann verwendete Muster ist, daß die Juden selbst an ihrem Unglück schuld seien, und zwar in Form der Aussage, daß Sharon und Friedmann mehr für Antisemitismus gesorgt haben als viele andere.

      Das was Sep herausgearbeitet hat ist folgendes:
      Selbst wenn die Aussage an sich richtig wäre - die Tatsache daß sie in ein antisemitisches Muster fällt macht sie zum Tabu.
      Und wer sie trotzdem tätigt, begeht im gleichen Atemzug zwangsläufig antisemitische Äußerungen.
      - Und zwar unabhängig davon, ob er weiß daß es sich um ein Muster handelt oder nicht.

      Richtig?

      Wenn dem so sei möge sich Möllemann bei Friedmann entschuldigen und Walser bei MRR.
      Darüber hatte ich gestern noch anders gedacht.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 02:10:36
      Beitrag Nr. 136 ()
      @Rainer6767
      @Sep

      Ich denke auch, daß die von mir beschriebene Hetze 1 nicht unbedingt so bezeichnet werden sollte. Ich habe hier nur die Begrifflichkeiten von Sep aus #72 übernommen, damit alle ähnliche Begriffe verwenden und somit wissen, worüber wir sprechen.

      zur Erinnerung von Sep #72:
      Hetze gegen einen Juden ist Antisemitismus. Was sonst ? Oder gibt es dazu noch Judenhetze, die kein Antisemitismus ist ? Ich hetze gegen einen, der Jude ist, aber will es lediglich als stinknormale Hetze gegen ihn verstanden wissen und trenne säuberlich davon den Teil der Hetze ab, der antisemitisch wäre ?

      Der Einfachheit halber rede ich jedoch weiter von Hetze 1 und Hetze 2 im Sinne von #121.


      (von Rainer)
      @leary:
      "MRR ist ein machtgeiler jüdischer Kritiker, der Literatenseelen zerstört".
      Hetze Nr. 1 oder Nr. 2?
      Ich tendiere (Danke an SEP für den Erkenntnisgewinn) inzwischen zu Nr. 2.



      Zunächst stimme ich Deinen #122 und #126 voll zu, bis auf Deine letzten Sätze:
      Darf man einen gierigen jüdischen Spekulanten als gierigen Spekulanten bezeichnen? Ja , darf man. Darf man ihn als gierigen jüdischen Spekulanten bezeichnen? Nein, darf man nicht.
      ...und während ich diesen letzten Absatz schreibe, habe ich Dich nun endlich verstanden. Du hast Recht. Das Buch ist antisemitisch. Denn genau das hat Walser gemacht.



      Für mich ist klar, daß man letztlich nur durch die Absicht des Sprechers herausfinden kann, ob sich hinter einem solchen Satz eine antisemitische Einstellung im Sinne der Hetze 2 verbirgt.
      Durch Syntax-Analyse an sich ist dies, so behaupte ich, nie zweifelsfrei möglich. Denn das Wort jüdisch in dem Satz "Der gierige, jüdische Spekulant" kann einerseits als nichtnegativ gemeinte, neutrale Beschreibung seiner Religionszugehörigkeit gemeint sein, andererseits als Hetze im Sinne von 2 gebraucht werden.
      Jedoch gibt es Hinweise auf den intendierten Gebrauch:
      Wenn jemand wirklich nur Hetze 1 betreibt, ist es VÖLLIG unerheblich, ob die Zielperson Jude oder sonstwas ist. Er würde diesen Tatbestand deshalb auch in seinem Negativ-Aufzählungskatalog zu dieser Person nicht erwähnen. Wenn er ihn erwähnt, will er mit diesem Teil seiner Aussage nicht mehr ein von ihm als negativ empfundenes Persönlichkeitsmerkmal (z.B. machtgeil) kritisieren, sondern will die Person fernab von einer erlebbaren Charaktereigenschaft (uns somit fernab von etwas, was sich je widerlegen läßt - schlechtes Zeichen; Popper läßt auch hier grüßen) herabsetzen und als etwas KATEGORISCH von ihm selbst unterschiedenes, ihm selbst gegenüber minderwertigeres definieren.

      Er verläßt sozusagen den Diskurs unter wirklich Gleichberechtigten Subjekten und weist dem anderen eine Gruppengehörigkeit zu, die den anderen allein schon schlechter machen soll, als wenn er ihm diese Gruppenzugehörigkeit nicht zuwiese.

      Kein Mensch würde in Deutschland sagen : "Ein machtgeiler christlicher Kritiker". Das "christlicher" würde nicht als weiteres negatives Attribut in diesem (beabsichtigten) Herabsetzungssatz empfunden. Deshalb würde das Attribut bei der Intention, jemanden herabzusetzen, weggelassen.
      Setzt man an diese Stelle "jüdischer" ein, so soll dieses weitere Attribut offenbar die negative Grundaussage weiter verstärken. Deshalb wird das Attribut bei negativer Sprecher-Intention auch nicht weggelassen. Also Hetze 2.

      Dies wäre die böswillige Betrachtungsweise.

      Jedoch kann man doch genauso gut sagen, daß man im Allgemeinen die Alternative "christlicher" nur deshalb wegläßt, weil nun mal fast alle in Deutschland christlich sind und deshalb man dies nie mitspricht (es enthält nämlich keine Information im Sinne der Informationstheorie (überraschender Inhalt)).
      Will man eine Person in Deutschland beschreiben, ist es aber eine Information, daß er ein Jude ist, genauso wie es eine Information wäre, wenn man ihn als Indianer, Wirtschaftsprüfer, Buddhisten oder sonstwas beschreibt, was nicht (fast) alle Deustschen automatisch gemein haben.

      Wenn man sagt "ein machtgeiler buddhistischer Kritiker", so ist man ja auch nicht sofort antibuddhistisch. Man beschreibt einfach seine (überraschende) Religionszugehörigkeit näher, die zufällig in einem Satz mit einer hiervon unabhängigen negativen Charaktereigenschaft auftaucht.

      Liest sich jedoch für den Betrachter dieses "jüdischer" im Gegensatz zu dem "buddhistischer" automatisch "negativer", so existieren bei ihm selbst antisemitische Klischees.
      Nicht unbedingt beim Schreiber.

      Dies wäre die gutwillige Betrachtungsweise

      Deshalb ergänze ich Deine Sätze:
      Darf man einen gierigen jüdischen Spekulanten als gierigen Spekulanten bezeichnen? Ja , darf man. Darf man ihn als gierigen jüdischen Spekulanten bezeichnen? Nein, darf man nicht.

      Doch man darf, denn andernfalls müßtest Du IMMER die böswillige Betrachtungsweise unterstellen.
      Dies darf man aber nicht tun. Denn das ist selbst - wenn man es IMMER tut - eine böswillige Unterstellung.

      Aus der Sytax ist der Antisemitismus bei diesem Satz nicht ableitbar. Da man in den Kopf des Schreibers leider nicht gucken kann, muß man den Schreiber eben fragen, was sich an seiner Aussage ändert, wenn er "jüdisch" wegließe und was für ihn "jüdisch" bedeutet.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 02:22:59
      Beitrag Nr. 137 ()
      @Sep #134

      war als Information gedacht.
      Vielleicht interessiert es hier jemanden, was Grass gesagt hat?!

      Auch ich mache mir selbst ein Bild.
      Um sich ein Bild zu machen, schaden Informationen nicht.
      Dies war eine.
      Man kann sich auch dann selbst ein Bild machen, wenn man zusätzlich noch hört, was andere sagen.
      Deine Sätze hören sich so an, als widerspräche sich dies.
      Tut es aber nicht.
      Nichts für ungut
      leary99
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 02:53:27
      Beitrag Nr. 138 ()
      nein leary so war es nicht gemeint. Ich will da auch garnicht tiefer einsteigen. Nur soviel: MRR hatte im ZDF heiute abend die Walser- positiven Rezensionen erwähnt, allesamt in der Süddeutschen, insgesamt 3 Autoren. Er lobte sie als intelligent. Und deckte dann auf, daß diese 3 autoren vor Monaten zur Süddeutschen abgeworben wurden und dort womöglich nicht eine poitive Walser- Schau abliefern wollten, sondern eine negative Schirrmacher- Harke.#

      Dies griff Grass auf, indem er dies kurz erwähnte.

      Und da habe ich mich doch wieder geärgert, wie sehr man in diesem Lande in den details stecken muß, um nicht manipuliert zu werden. Auf solchen ereignisreichen Auseinandersetzungen werfen die ihre Erzeugnisse in den Markt, scheinbar ist es völlig gleich, welche meinung sie dazu vertreten, denn sie können diese Meinung nach minderen gesichtspunkten ausrichten wie beispielsweise den Wunsch, sich an Schirrmacher zu reiben.

      Das hat mich ein wenig verärgert. Das gin nicht gegen Grass, und auch nicht gegen Dich, sondern es ging darum, daß diese Artikel die "Meinung" dieser Autoren vorzugeben scheinen, tatsächlich ist es Fingerhakeln.

      Was unsere Thematik angeht. Ich will es jetzt nicht nochmals rauskopieren, aber ich glaube, Du hast einen Punkt von mir aufgenommen, der wesentlich ist.

      Eine noch so gehässige Äußerung gegen wen auch immer ist nur gehässig, solange der Äußernde nicht weiß, daß er sich über einen Juden äußert. Es ist also wichtig, daß die hetze konkret ist nicht nur in der Wortwahl, sondern auch in der kenntnis der person stattfindet.

      Hält diese Hetzer seine Worte, und unterstellt dabei nur, daß es sich bei seinem Opfer um einen Juden handelt, oder er weiß gar, daß es sich so verhält, dann verlassen wir das Feld der Hetze, es wird antisemitisch.

      Vielleicht wird dies klarer, wenn man zunächst nur die Unterstellung des Hetzers betrachtet, wonach sein gegenüber seinem Anschein nach jüdisch ist.

      Schon diese Betrachtung legt den Antisemitismus offen, denn eine derartige Betrachtung ist an und für sich, normalerweise also völlig irrelevant.

      jetzt hat der Drecjkskerl also eines solchen jüdischen Zinken, und schon ist in der Hetze das antisemitische Element enthalten.

      Wie sollte dann eine Hetze nicht antisemitisch sein, wenn es dem Hetzer definitiv bekannt ist, daß sein gegenüber jüdisch ist.

      Jedenfalls in dem augenblick, wo die eigenschaft " jüdisch" in der Hetze hinzugefügt wird, ist die sache für mich klar.

      Der Hetzer will herabsetzen. Das ist das Wesen der Hetze. Er will noch mehrt, aber das soll hier außen vor bleiben.

      Er will herabsetzen, und er fügt " jüdisch" hinzu.

      Wie kann man eine Hetze als nicht- antisemitsich einordnen, wenn der hetzer dazu die Eigenschaft " jüdisch" in seiner hetze verwendet ?

      Sozusagen das "objektive Element" in einer Hetze ?

      Diese Differenzierung wird zu weltfremd.
      Ich feile immer noch an der definition für Hetze, da liegt meiner Meinung nach der Schlüssel für die Erklärung.

      SEP

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 11:42:31
      Beitrag Nr. 139 ()
      ok, sep, dann liegt es an dem Wort "Hetze".
      Du schreibst:
      1.Der Hetzer will herabsetzen. Das ist das Wesen der Hetze.
      2. Wie kann man eine Hetze als nicht- antisemitsich einordnen, wenn der hetzer dazu die Eigenschaft " jüdisch" in seiner hetze verwendet ?


      Damit hast du dann natürlich recht. Das Problem ist, wenn man das Wort Hetze so benutzt, steht dann PER DEFINITIONEM fest, daß diese Äußerungen immer antisemitisch sind.
      Man ist nur keinen Schritt weiter, weil man dann eben immer die Absicht zu hetzen beim Sprecher schon voraussetzt.
      Die will ich aber doch gerade erst herausfinden.
      Dies bringt uns in der Diskussion somit nicht weiter.
      Es geht mir also nicht um das "objektive Element" einer "Hetze", sondern mein Anliegen hier ist, ein Abgrenzungskriterium von
      a) antisemitischen zu
      b) nicht antisemitischen Äußerungen
      zu finden.

      Für mich ist es völlig klar, daß eine bloße Beleidigung einer Person keine antisemitische Äußerung ist.
      Hieran ändert auch überhaupt nicht, wenn man weiß, daß die Zielperson Jude ist. Das Wissen darum allein kann die Beleidigung nicht antisemitisch machen.
      Ich brauche sogar für antisemitische Hetze hierüber gar nichts zu wissen. Ich muß als Zielobjekt nur einen Juden und zwar in seinem "Jüdischsein" meinen. Ob er dann wirklich Jude ist oder nicht, ändert an der antisemitischen Absicht nichts.
      Das Wissen darum, daß die Zielperson Jude ist, kann kein Abgrenzungskriterium von antisemitischen zu nicht antisemitischen Äußerungen sein.
      Daß auch die Verwendung oder Nichtverwendung von "jüdisch" in einem Satz nicht trennscharf sein kann, wird -denke ich - durch #136 klar.

      leary99
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 11:43:50
      Beitrag Nr. 140 ()
      Walser wird nun veröffentlicht.

      aus: faz.net von heute
      -----------------------
      Walser-Debatte
      Suhrkamp wird Walser-Roman drucken


      5. Juni 2002 Der Frankfurter Suhrkamp Verlag wird Martin Walsers umstrittenen Roman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichen. Dazu habe sich Verlagsleiter Günter Berg „trotz kontroverser Diskussionen und Bedenken“ im eigenen Haus entschlossen, teilte Suhrkamp am Mittwoch mit.

      Das Buch soll am 26. Juni erscheinen. Der Verlag halte auch nach den Antisemitismus-Vorwürfen gegen Walser an seiner Tradition fest, ein Forum für Debatten zu sein.

      „Die politische Konstellation, in welche Walsers Manuskript geraten war, hat seine erste Rezeption mit Vor-Urteilen belastet, die der Verlag, bei allem Respekt für das Gewicht der Einwände und ihre Motive, für überzogen hält“, heißt es in der Suhrkamp-Erklärung weiter. „Unter diesen Umständen tut der Verlag, was er seinem Autor und der Öffentlichkeit schuldig ist: Er publiziert den Roman in der von Martin Walser verantworteten Textform.“

      Reich-Ranicki: Bedauerliche Entscheidung, aber kein Skandal

      Marcel Reich-Ranicki, der in dem Roman karikiert wird, hatte dem Verlag dringend von einer Veröffentlichung abgeraten. Die Entscheidung Suhrkamps nannte der Literaturkritiker in einer ersten Stellungnahme „sehr bedauerlich“. Das Buch stehe im Widerspruch zur Suhrkamp-Tradition.

      „Ein Verlag mit dieser wunderbaren Tradition, der Verlag von Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor Adorno, Paul Celan und vielen anderen sollte ein solches ärgerliches und beschämendes Machwerk nicht bringen. Nur: Ein Skandal ist diese Entscheidung nicht. Denn das Buch muss unbedingt erscheinen.“ Er verstehe, dass der Verlag sehr genau habe abwägen müssen, sagte Reich-Ranicki.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 11:49:45
      Beitrag Nr. 141 ()
      Der Versuch einer exakten Definition der Hetze ist vollkommen lächerlich.
      Laut der hier bevorzugten Eingrenzung, soll also Hetze sein, wenn
      ein Mensch alleine dadurch seine Zugehörigkeit zu einer Nation, Gruppe etc.
      mit negativen Eigenschaften attributiert werden soll. Das kann aber immer
      so ausgelegt werden! Wenn man aus diesem Dilemma rauskommen will,
      dann darf eine Nation, Gruppe etc. nie mit einem negativen Attribut belegt
      werden oder man darf nie darauf aufmerksam gemacht werden, dass jemand
      dieser oder jener Nation etc. angehört.
      Das sind wirklich Oberschülerdiskussionen. Wollt ihr die Welt dadurch besser
      machen, dass man über ihre Bewohner (egal welcher Gruppe) nur Positives
      zu äußern erlaubt.
      Aus dem ursprünglichem Thema Walser/MRR verabschiede ich mich indessen.
      Leute, die den Walser seit 50 Jahren können (Grass z.B.) bescheinigen ihm, dass
      er noch nie etwas Antisemitisches gesagt hat. Das Buch kennt man nicht,
      also fehlt es an der Grundlage für eine weitere Erörterung derzeit. Es ist aber
      vom MRR und Grass angedeutet worden, dass sich hier vielmehr um einen
      Feuilleton -Krieg handelt zwischen dem Schirrrmacher und seinen Kontrahenten.
      Es ist nicht ausgeschlossen, dass Schirrrmacher hier als einziger an den wirklichen
      Tod von MRR denkt und sich für die nächste Papstwahl in Position bringen will.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 13:15:00
      Beitrag Nr. 142 ()
      leary

      was Du schreibst, kann ich alles nachvollziehen.

      Wir müssen uns aber, wenn wir uns dem Problem nähern wollen, dann auch mit dem beschäftigen, was „ Hetze“ ist.

      Das ist etwas anderes als beispielsweise „Beleidigung“, Du verwendest diesen Begriff in Deinem Beitrag, oder auch „ Äußerung“ .

      Wir haben hier ursprünglich davon gesprochen, was „Hetze“ meint.

      Du schreibst:

      >>>Ich brauche sogar für antisemitische Hetze hierüber gar nichts zu wissen. Ich muß als Zielobjekt nur einen Juden und zwar in seinem "Jüdischsein" meinen. Ob er dann wirklich Jude ist oder nicht, ändert an der antisemitischen Absicht nichts.<<<<

      Genau so sehe ich das auch, und genau dies war der Ausgangspunkt unseres Austausches, der damit abgehakt sein kann.

      Was „ Beleidigung“ angeht, da würde ich mich ebenfalls anschließen. Nur ist dies keine Hetze mehr. Hetze benutzt unzutreffende Äußerungen, unzutreffendem Kontext.

      Das kann bei Beleidigung, so sein, muß aber nicht

      Die Hetze kommt völlig ohne Mitwirkung des Opfers aus. Bei Beleidigung ist dies nicht immer so.

      Es kann sich also ein Jude von antisemitischer „Hetze“ beleidigt fühlen. Es ist aber auch möglich, daß ihn diese Beleidigung innerlich nicht erreicht. Er steht darüber.

      Man kann also einen Juden beleidigen, ohne daß dies Antisemitisch ist.

      Dein Text: >>>Für mich ist es völlig klar, daß eine bloße Beleidigung einer Person keine antisemitische Äußerung ist. Hieran ändert auch überhaupt nicht, wenn man weiß, daß die Zielperson Jude ist. Das Wissen darum allein kann die Beleidigung nicht antisemitisch machen.<<<<

      „Du Arschloch“ ist vielleicht die gängigste Beleidigung, die man hier heranziehen kann.
      Das kann man einem Juden sagen, und ihn damit beleidigen, ohne daß dies antisemitisch ist.

      Selbst die Äußerung: „Du jüdisches Arschloch“ ist zunächst einmal auch nur eine Beleidigung, aber noch keine Hetze. Ob es eine antisemitische Äußerung ? Was meinst Du ?

      Du verwendest noch den Begriff „ Äußerung“, das nun ist profan. Äußerungen, die ohne herabsetzende Komponente auskommen, keine Hetze beinhalten, keinen herabsetzenden jüdischen, oder herabsetzend gemeinten, damit antisemitischen Kontext herstellen, sind nicht angreifbar.

      Du schreibst:
      <<<<„Das Wissen darum, daß die Zielperson Jude ist, kann kein Abgrenzungskriterium von antisemitischen zu nicht antisemitischen Äußerungen sein“>>>.

      Nicht, wenn es um „ Äußerungen“ geht. „Äußerungen“ haben, solange es bei den Merkmalen von lediglich „ Äußerungen“ bleibt, nie eine antisemitische Komponente, auch dann nicht, wenn man weiß, daß die Zielperson „ Jude“ ist.

      Das ist auch niemals anders dargestellt worden. Bekommt die „ „Äußerung“ eine Tendenz, eine Richtung hin zur Hetze, dann ändert sich dies natürlich.

      „bloody jew“ ist womöglich schon eine Beleidigung, vielleicht sogar Hetze, (kommt darauf an, was dann folgt, und vor wem sie geäußert wurde,) ganz sicher nicht mehr lediglich eine „ Äußerung“, und sie ist antisemitisch. Selbst dann, wenn die Zielperson kein Jude sein sollte.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 14:21:21
      Beitrag Nr. 143 ()
      zurück zur Literatur

      von Arno Widmann

      "Tod eines Kritikers" ist eines der besten Bücher nicht nur von Martin Walser. Es ist nicht damit zu rechnen, dass diesen Sommer noch ein Witzigeres, Böseres und Schöneres erscheint. Jedenfalls nicht von einem deutschen Autor. Vergessen Sie Reich-Ranicki. Er kommt nicht vor. Der Mann heißt Andre Ehrl-König, kommt aus Frankreich und spricht kein jiddisch, sondern von "Literatür". Er hat eine Fernsehsendung, er liebt paradoxe Steigerungen und beherrscht den Literaturbetrieb durch die Kunst des Verrisses. Also doch Reich-Ranicki? Er war nicht im Ghetto, er ist kein Jude - nach seinem Tode wird überlegt, ob er es vielleicht gewesen sein könnte - , er trägt einen gelben Pullover und fährt einen dicken Wagen. Also nicht Reich-Ranicki.

      Vor allem aber nicht Reich-Ranicki, weil Walsers Andre Ehrl-König viel besser ist als die doch eher komische Figur, die Reich-Ranicki heute macht. Andre Ehrl-König betritt die Halle im Haus seines Verlegers und schon steht er im Zentrum. Seine Gesten sind raumgreifend groß. Sie erinnern an Thomas Manns Hauptmann-Karikatur. Ehrl-König hat einen Körper und er setzt ihn ein. Eine Szene in Ehrl-Königs Sendung beschreibt Walser so: "`Aber Tennis interessiert mich nicht,` Martha schnell: `Mich noch weniger`. Er noch schneller: `Mich am wenigsten`. Beide schlugen ihre Handflächen gegeneinander wie Fußballer, die gerade per Zusammenspiel ein Tor geschossen haben."

      Das ist eine typische Ehrl-König-Szene. Dieses Tempo bestimmt viele Seiten des Buches. Ich habe es gelesen zwischen neun Uhr abend und drei Uhr Nacht. Ich konnte nicht lassen davon. Der "Tod eines Kritikers" ist eine fulminante Satire - nicht auf eine Person, sondern auf einen Typus. Auf den, der Macht ausübt, um der Machtausübung willen. Ehrl-König ist nicht korrupt. Erkann nicht bestochen werden - nicht aus moralischen Gründen - sondern weil er immer der Herr bleiben muss, der, der bestimmt, der, der das letzte Wort hat.

      Noch wird das Buch allein von den Insidern des Literaturbetriebes gelesen. Die gieren nach "Zügen", nach etwas, das sie wiedererkennen. Sie wollen sich darüber erregen, dass Walser abzeichnet und gleichzeitig darüber, dass er es nicht genau - differenziert - genug macht. Es ist ein pornographischer Blick. Gegen den ist nichts zu sagen als dass er sich bis zur Lächerlichkeit verguckt.

      Martin Walser hat karikiert, was er kennt, also den Literaturbetrieb. Der Leser aber wird in Andre Ehrl-König und den Seinen die eigene Umgebung zur Kenntlichkeit entstellt wiedererkennen. Ehrl-König sagt immer wieder höchst amüsant dasselbe. Sein beschränktes Gestenrepertoire setzt er effizient ein. Er weiß Pointen zu setzen und er versteht sich auf das Wechselspiel von Verführung und Drohung. Wie andere Topmanager auch. Und auch Ehrl-Königs keinen Zweifel kennende Selbstgewissheit, seine restlos enthemmte Selbstverliebtheit, ist den meisten aus ganzen anderen Betrieben als aus denen der Literatur nur zu geläufig.

      Der Wunsch, diese Hohlfigur Ehrl-König zu töten, ist den meisten Menschen vertraut. Man hat solche Anfälle und in bestimmten Situationen, die mehr mit der Konjunkturlage als mit der Frequentierung des Ethikunterrichts zu tun haben, häufen sie sich. Aber nur in den seltensten Fällen kommt es zur Tat. Tritt sie ein, wird gerne die Phantasie für sie verantwortlich gemacht. Man ruft dann nach Phantasieverboten. Die meisten von uns haben freilich die umgekehrte Erfahrung gemacht. Die Phantasie setzt sich an die Stelle der Tat. Ein Phantast ist einer, der bestens ohne die Tat auskommt. Er braucht sie nicht mehr. Sie kann nie so schön sein, wie das, was er sich erdacht hat. Sie bleibt zurück hinter dem Schwung und der Eleganz, die allein die Phantasie ihr gibt.

      Schwung und Eleganz hat Walsers Erzählung von einer Tat, die nicht einmal in seiner Erzählung stattgefunden hat. Ehrl-König wird ja im "Tod eines Kritikers" nicht umgebracht. Er war nur ein paar Tage weg und das setzte die Phantasien von Öffentlichkeit, Betrieb und Polizei in Gang. Mitten im satirischen Brio von Walsers Erzählung sind Stellen einer altmodischen, beschwörend zarten Schönheit, die zur grobianischen Haupterzählung einen effektvollen Kontrast bilden. Zum Beispiel wenn er eine Tapete beschreibt: "Diese manirierten, eingebildeten Hirsche mit ihren etwas zu groß geratenen Geweihen. Und lassen sich von Schimpansen streicheln und belehren. Und Blumen, von denen jede aussieht, als sei sie die einzige Blume der Welt, und das wisse sie. Und Vögel, die einmal nicht selber singen, sondern zuhören. Aber wem! Schmetterlingen hören sie zu. Und die steigen auf aus einem goldenen Grund, der die Welt ist."

      Ein Buch zu schreiben, ist eine bewährte Technik, deutlich mehr Zuhörer zu haben als Diskutanten. Ein Autor ist vielleicht vor allem einer, der ungestört vom Gezwitscher der anderen - gewaltfrei - unwidersprochen sagen möchte, was und wie er will. Der Kritiker ist also schon darum sein natürlicher Feind. Aber die Sehnsucht danach, dass einem zugehört wird, ist keine Autorenmarotte.

      Im siebten Kapitel des Romans besucht der Erzähler Rainer Heiner Henkel und seine Schwester Ilse-Frauke von Ziethen. Eine hinreißende Passage. Die beiden sitzen auf dem Sofa wie zwei Vögel, "lange Hälse, schmalste Gesichter, ruckartige Kopfbewegungen, große Augen, seine Hände wie sich entfalten wollende Flügel. Sie anwesend mit der sanften Betulichkeit, die man bei Vogelweibchen beobachten kann, am meisten bei Enten."

      Diese Zeilen sind eingebettet in eine raffinierte Erörterung der Macht. Professor Rainer Heiner Henkel, ein langjähriger, ehemaliger Freund des Ehrl-König betrachtet diesen nämlich als sein Geschöpf. In jahrelangen, oft ganze Nächte ausfüllenden Gesprächen habe er diesen erst mit jenem Arsenal an Witzworten, an Kenntnissen und Gesten munitioniert, mit dem Ehrl-König heute alle seine Kontrahenten, darunter auch ihn, Rainer Heiner Henkel, vor jedem beliebigen Publikum lächerlich machen könnte. Der Mächtige hat sein Charisma billig erworben. Er ist ein Popanz, den ein anderer in die Kamera hält, einer, der keine Macht mehr hat über die von ihm aus allen möglichen Lumpen zusammengebastelte Vogelscheuche. Schöner sind Hoffart und Ohnmacht der Königsmacher wohl nie dargestellt worden als hier von Martin Walser. Seit Jahren wartet man auf einen Autor, der uns die Augen öffnet für die Komik der sich aufplusternden Macht, der mit dickem Pinsel ein kräftiges Bild der vom eigenen Selbst hingerissenen Verrücktheit ihrer Träger und dem erbärmlichen Zustand ihrer Zuträger malt. Jetzt haben wir ihn. Er heißt Martin Walser, und er ist 75 Jahre jung.

      http://www.perlentaucher.de/artikel/418.html
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 16:08:48
      Beitrag Nr. 144 ()
      @bigshorter

      Zurück zur Literatur. Wirklich ?


      Der von Dir reingestellte Artikel, dazu etwas zum Autor.


      Gutes aus Guben
      Die Zivilgesellschaft übertrifft sich momentan selbst. Erst die tolle, friedliche Demonstration am 9. November in Berlin, dann das salomonische Urteil im Prozess um die Hetzjagd in Guben. Zur Erinnerung: Ein zu Tode gehetzter Asylbewerber macht elf Angeklagte. Elf Angeklagte kriegen drei Haftstrafen (unter drei Jahren), sechs Bewährungsstrafen und zwei Verwarnungen. Der Leitende Redakteur der Berliner Zeitung, Arno Widmann, kommentierte das Urteil vorige Woche so: »Es ist gut, wenn ein Gericht der rechten Gewalt mit Geduld und dem Bemühen um Gerechtigkeit begegnet - denn Geduld ist die Tugend des Weisen und das Bemühen um Gerechtigkeit seine einzige Waffe.«
      Nun ist die Junk Word-Redaktion noch nie für übermäßig harte Urteile gegen Neonazis eingetreten. Denn auch in dieser Sache ist unser Vertrauen in den Staat eher gering. Andererseits fragen wir uns schon, welchen Philosophen Widmann gerade liest: Ist es Konfuzius? Lao-Tse? Oder Bhagwan Shree Rajneesh? Schwer zu sagen.
      Widmann jedenfalls findet prima, was in Guben passiert ist: »Es ist gut, wenn ein getötetes Opfer der rechten Gewalt nicht sinnlos gestorben ist (...) Gut ist es auch, dass ein von den Angeklagten nur verletztes, aber nicht getötetes Opfer in letzter Sekunde vor der Abschiebung bewahrt wird (...) Und gut ist es, dass die Verteidiger der Angeklagten - sofern sie nicht Revision einlegen - zufrieden sind mit dem Urteil«. Fazit: »Alles ist gut gegangen in Guben.« Oder noch schöner formuliert: »Lange schon hat man aus Guben nicht mehr so viel Gutes gehört wie gestern.«
      Da sieht man mal, was so eine Hetzjagd mit Todesfolge alles bewirken kann. Völlig gereinigt und geläutert geht die Zivilgesellschaft aus dem Gubenunglück hervor. Alles ist in bester Ordnung. Vor Freude weinende Neonazis, Richter und Asylbewerber liegen sich in den Armen. »Sogar dem dritten Opfer der elf Angeklagten geht es fast wieder gut, nachdem es Ende 1999 erneut - doch diesmal in Potsdam - von zwei Jugendlichen geschlagen worden war (gut sind auch seine Aussichten, bald seine psychologische Behandlung abzuschließen).« Zivilgesellschaft, nun freue dich!
      Und doch gibt es einen Wermutstropfen am Ende dieser Geschichte. »Dann aber dies«, schreibt Widmann: »Ein 19-Jähriger, der noch nie einen Ausländer, einen Juden oder einen Obdachlosen gehetzt oder getötet haben soll, wurde festgenommen, weil er vor dem jüdischen Friedhof eine Frau als ðJudensauÐ bezeichnet hatte. Warum die Festnahme? Der wahre Rechtsstaat übt sich in Geduld.«
      Nein, wir wissen wirklich nicht, welches Buch Arno Widmann gerade liest. Das »Handbuch des Journalismus« kann es jedenfalls nicht sein. Denn dort steht geschrieben: »Nachdenken überhaupt ziert den Redakteur, und zwischen Terminnot und Routine kommt das Denken häufig zu kurz.«

      stefan wirner


      http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2000/48/3…

      Nochmals das Textende:

      >>>Das Handbuch des Journalimus kann es jedenfalls nicht sein. Denn dort steht geschrieben: Nachdenken überhaupt ziert den Redakteur, und zwischen Terminnot und Routine kommt das Denken häufig zu kurz.>>>>

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 16:36:38
      Beitrag Nr. 145 ()
      @Sep
      Deine Argumentation hat so wenig Christliches. Ja die Kultur Europas ist auf christlichen Werten aufgebaut und für Christen sind Werte wie Buße, Wiedergutmachung, Versöhnung und Verzeihung etwas Selbstverständliches und eine zweite Chance bekommt sogar der schlimmste Verbrecher. Genau dies hat nämlich Jesus vorgemacht, er kümmerte sich um die Gefallenen und vom Wege Abgekommenen und übte sich in Geduld.
      Es wäre interessant zu wissen woher Deine Unverzeihbarkeit, Unversöhnlichkeit und Ungeduld mit Andersdenkenden und Fehlhandelnden eigentlich kommen.
      Und zum Thema selbst, nicht zur Vorgeschichte des Autors dieses Artikels, kannst vor dem 26.06 (Erscheinung des Buchs) auch nichts Erhellendes sagen. Wer weiß schon, ob Widmann hier nicht vollkommen recht hat. Das kann jetzt keiner von uns sagen.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 17:13:52
      Beitrag Nr. 146 ()
      Irgendwas verstehst Du wohl falsch, lieber HeiligerSchweinehund.

      Ich bin und bleibe wohl Bewunderer von Martin Walser, von seiner bedächtigen Art, seine Worte zu wägen.

      Daran wird dieser Roman nichts ändern können. Auch dadurch nicht, daß er mit antisemitischen Klischees spielt. Auch dadurch nicht, daß dieser Roman meine Grenze des guten Geschmacks übertreten hat.

      Jeder Mensch macht in einem langen Leben Dinge, die er vorher nicht für möglich, und die er hinterher für "entbehrlich" halten wird.

      Das gehört dazu.

      Ich bin auch ein enthusiastischer Konsument von MRRs literarischem Quartett gewesen, diese Sendung hat mich an Literatur teilweise erst herangeführt.

      Es ist die spezifische Art von MRR gewesen, von der dieses Quartett gelebt hat, von seiner Art des schnörkellosen Zerrisses, der fallbeilartigen Äußerungen. Es bediente dabei nicht nur die allgegenwärtige Schadenfreude, sondern bot Faszination durch Kenntnis, Präzision und Analogien, die angeboten wurden.

      Für viele war dies bereits "jüdisch" und damit fest in dem antisemitischen Gedankengebäude angesiedelt. Ohne daß dies offen ausgesprochen wurde. Man genoß es.

      Wenn jemand durch einen Verriß einem anderen Schaden zufügt, gibt es immer dankbare Zuhörer, oder Leser. Nur: Worin bestand der Schaden ?

      Und, weltweit lebt die Kulturkritik, nicht nur die Literaturkritik von dieser Attitüde. Es gibt nichts schöneres als am tage darauf Sportkritiken zu lesen, Theaterkritiken, und keine Sau würde davon Kenntnis nehmen, wenn es sich dabei nicht um Hinrichtungen handelt. Nur stehen die Hingerichteten dam nächsten Tage alle noch.

      Deswegen handelt dieses Buch auch von vordergründigen Hinrichtungen ( Mord) und von Hinrichtern, ( Freisler) von inszenierten Hinrichtungen. Und deswegen trägt es auch diesen Titel: Tod eines Kritikers. Nur läuft eben parallel zur literarischen Hinrichtung - die sicherheitshalber gar keine war - eben auch eine art Hinrichtung ab, die dem Titel des Buches eine doppeldeutige, ich meine, die wirkliche Bedeutung gibt. Das fertigmachen eines Kritikers. Mit antisemitischem Zungenschlag.

      Und dabei wird nicht etwa jiddisch lächerlich gemacht, wie eine Kritik hier suggerieren will, die von bigshorter eingestellt wurde. Von jiddisch ist nie die Rede. Es ist von Sprachanomalien die Rede. MRR spricht nicht jiddisch.
      So arbeiten also alle möglichen Kräfte daran, ein Zerrbild zu erzeugen, eben das eigene Bild, oder auch das, was man lediglich als eigenes Bild vermarkten möchte.

      Walser hat diesen Themenkreis nun angesprochen, dies aber nicht nur in offensichtlich verletzender Weise abgeliefert, sondern auch über die Verletzung von Geboten der menschlichen Solidarität hinaus in unerlaubten, nämlich antisemitischen Bildern gearbeitet. Auch wenn er dies Literatur nennt, auch wenn dies tatsächlich ja Literatur ist, er hat den falschen Scheinwerferknopf bedient.

      Mein Mitgefühl gehört also MRR, den ich nach wie vor als außerordentlich dominante Figur des deutschen Literaturbetriebes sehr schätze.

      Es geht hier um Sachfragen und nicht darum, ob Menschen nicht das Recht zu irren zusteht. denn selbst wenn es ihnen nicht zustünde, sie würden daraus keine Lehre ziehen können.

      Das steht ihnen zu, und ich bin weit davon entfernt, hier zu behaupten, ich würde mich in meiner Analyse nicht irren.

      Dies alles, das war Dein Eingangspunkt, hat für meine Begriffe nichts mit Christentum zu tun, ich wäre da auch sehr vorsichtig, aus der vorhandenen christlichen Intention auf die christliche Realität schließen zu wollen.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 17:27:22
      Beitrag Nr. 147 ()
      :cry: du hast recht sep, ALLES ist politik, deshalb ist dieser thread ja auch in diesem forum.
      ich hab in diesem thread gelesen, dass gesagt wird, die `positiven` rezensionen seien darin begründet, dass die betr. autoren diese sozusagen als irgendeine art rache auf die FAZ so schrieben...
      am sonntag hab ich aber auch eine rezension aus einer schweizer zeitung von Matthias Lerf gepostet, der schlussatz daraus: "das allein macht natürlich aus Walsers kleinem Roman kein Meisterwerk. Aber eine vergnügliche Lektüre für eine Nacht."


      der text von von Arno Widmann zeigt einfach, wie man das buch von walser AUCH lesen könnte. welche brille der autor dazu trug, weiss ich nicht.

      in eure `political correctness` diskussion will ich mich nicht einschalten. es ist wohl nicht auszumerzen, dass gewisse leute die mitmenschen klassieren nach nation, rasse, alter, geschlecht etc. Ob nun walser das gemacht hat, oder ob er zeigt, dass das gemacht wird, können wir nicht beurteilen.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 17:40:55
      Beitrag Nr. 148 ()
      @bigshorter

      >>>>ich hab in diesem thread gelesen, dass gesagt wird, die `positiven` rezensionen seien darin begründet, dass die betr. autoren diese sozusagen als irgendeine art rache auf die FAZ so schrieben... <<<

      Hintergrund war, daß es 3 Rezensionen in der Süddeutschen gab, die allesamt Roman positiv kommentierten.

      Diese 3 rezensionen stammen aus der Feder von ehemaligen FAZ- Leuten, die vor etwa einem Jahr komplett von der FAZ zur SZ wechselten. Es gab da einigen Knatsch.

      Und nun nehmen die Stellung an der Seite von Walser. Das ist ja in Ordnung.

      Nur hat sowohl Grass, als auch MRR darauf hingewiesen, daß es sich hierbei womöglich nicht um Äußerungen pro Walser, oder pro MRR, sondern um Anti Schirrmacher handelt, sozusagen eine späte Rache an der FAZ.

      Das nur zur Ergänzung.

      Die Rezension aus der NZZ, die du reingestellt hattest, habe ich gelesen.


      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 17:52:32
      Beitrag Nr. 149 ()
      @Sep #142
      damit stimme ich überein
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 17:57:53
      Beitrag Nr. 150 ()
      hast recht sep, es könnte "sozusagen eine späte Rache an der FAZ." sein...

      ... nur, der offene brief von schirrmacher könnte auch der versuch der rückeroberung der definitionsmacht sein, die nach einer zeitungsmeldung in der letzten zeit mehr und mehr von der `süddeutschen` ausgeübt wurde.

      DANN wäre der offene brief der FAZ die eröffnung einer schlammschlacht gegen walser.

      ... und man begreift, dass es keine wahrheit gibt, keine objektivität, je länger je weniger gibt es das, je mehr medien, umso mehr spiegelung und verzerrung.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 18:07:14
      Beitrag Nr. 151 ()
      @Sep #148
      Nur hat sowohl Grass, als auch MRR darauf hingewiesen, daß es sich hierbei womöglich nicht um Äußerungen pro Walser, oder pro MRR, sondern um Anti Schirrmacher handelt, sozusagen eine späte Rache an der FAZ.

      Ich finde, das kann man feststellen, ist aber eigentlich vollkommen egal. Denn selbst wenn eine Äußerung "aus Rache" gemacht wurde, kann man immer noch fragen:
      Ist die Äußerung inhaltlich zutreffend oder ist sie nicht zutreffend?

      Das ist ein Punkt, den man MRR und anderen Kommentatoren vorwerfen kann. MRR sagt zwar, die Artikel seien "intelligent" geschrieben, wirft dann aber das Nebelbomben-Argument des Feuilleton-Kriegs zwischen FAZ und Süddeutscher, anstatt den Inhalt der Kritik zu widerlegen. Wenn die Leute von der Süddeutschen als einige wenige den Roman Walsers gegen den Antisemitismus-Vorwurf verteidigen und man selbst den Vorwurf des antisemitischen Romans aufrechterhalten will, muß man gefälligst die Argumente der Süddeutschen widerlegen und nicht anfangen das Thema zu wechseln und über Zeitungs-Politiken zu reden.

      Mich schert als Außenstehender der (womöglich politische) GRUND, wieso Kritik geübt wird, überhaupt nicht. Mich interessiert, ob sie inhaltlich gerechtfertigt ist.
      Dazu sagt komischerweise keiner was.
      Aber genau hieran scheidet sich das Schicksal Martin Walsers.
      Es sollte zumindest.
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 20:05:47
      Beitrag Nr. 152 ()
      leary, Du hast Recht,

      die Tatsasche, daß sich 3 ehemalige FAZ- Redakteure zu Wort melden, muß nicht eine plumpe Retourkutsche sein, obwohl eine derartige 3- faltigkeit schon zu denken gibt.

      es kann aber sehr wohl auch möglich sein, daß Schirrmacher hier seine Definitionsmacht für die FAZ wiedergewinnen wollte, und deshalb diesen Roman in dieser Weise zerriß.

      Ich sage nicht, daß dies nun meine Lieblingsversion wird.

      Immerhin richtet Schirrmacher sein Blatt damit eindeutig aus.

      Im übrigen: das ist kein antisemitischer Roman, sondern ein Roman, der mit antisemitischen Bildern spielt. So hatte ich die bisherige Kritik verstanden.

      Und dies war ja nicht der Hauptvorwurf, den man gegen den Text des Vorabdruckes vorbrachte.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 05.06.02 22:10:33
      Beitrag Nr. 153 ()
      Walsers Skandalon

      Nicht antisemitisch, aber brillant, boshaft und hemmungslos


      Da die Jahre unsere Eigentümlichkeiten, die guten wie die unangenehmen, zu steigern scheinen, fallen auch die Ehe-Zwistigkeiten älterer Paare immer herber und heftiger aus. Zumal dann, wenn beide Partner so überreich mit dem Talent zu raumgreifender Tirade gesegnet sind, wie es bei Marcel Reich-Ranicki (meinem Duz-Freund) und Martin Walser (gleichfalls meinem Duz-Freund) der Fall ist. Damals, bei Ehebeginn, als die beiden einander in sehr viel jugendlicherer Weise verfolgten, schrieb Martin Walser in seinem ?Brief an einen ganz jungen Autor? über den Kritiker Marcel Reich-Ranicki: ?. ..natürlich reitet auch er gern laut und prächtig über den Markt wie König Drosselbart (der Ahnherr aller Kritiker) und zerdeppert dir deine Keramik, aber ohne den Oberton einer spröden, fast preussischen Güte kann er einfach nicht schimpfen. Eine nordöstliche Mutter ist er; in den Westen gekommen, um mit glänzenden Augen seinen Tadel so lange vorzutragen, bis sich eine Familie von solchen, die nur von ihm getadelt werden wollen, um ihn versammelt.?

      So 1962. Später einmal waren dann einige wenige Literaten, auch Ranicki und Walser, zum damaligen Bundespräsidenten geladen. Feines Literaturgespräch. Walser kam in Fahrt. Lachend zu Carstens gewandt rief Ranicki: ?Glauben Sie ihm kein Wort!? ? und der sehr höfliche Präsident wusste nicht recht, wie er sich nun verhalten sollte.

      Mittlerweile erschienen immer mehr Walser-Bücher und immer folgenreichere Ranicki-Kritiken. Überdies: Walsers Kritik-Empfindlichkeit hat etwas Schutzloses, fast Pathologisches ? Ranickis Urteile wiederum vibrieren von temperamentvollen Übertreibungen. Der kann, nacheinander, zwei Walser- Texte enorm gegensätzlich (Meister-Werk. Oder: nicht druckreif, Katastrophe) beurteilen, auch wenn sie sich, wie damals Böll verwundert befand, eigentlich gar nicht so himmelweit von einander unterscheiden ... Die schrecklich vergrößernde und vergröbernde Funktion des Fernsehens, seine Autoren-Glück wie Verderben bewirkende öffentliche Macht, im Fall von Büchern also das ?Literarische Quartett?, dergleichen steigerte die Folgen kritischer Meinungen erheblich. Manche Autoren regte das auf. Freilich fragten die sich fast nie, ob nicht jene ?Öffentlichkeit?, die sich derart gängeln lässt, eigentlich Schuld trage an solchen Über-Größen. Im geistigen Leben ist keiner ?Papst?. Er wird vielmehr von anderen, die das anscheinend nötig haben, dazu gemacht .. .

      Das war die Vorgeschichte. Sie trieb den Martin Walser zu einem literarischen Vergeltungsakt. Gesten, Haltungen, Eitelkeiten, Schwächen, Wünsche wohl bekannter Figuren mischte er rücksichtslos zum Wort-Ballett. Zum Literatur-Krimi. Sein Roman ?Tod eines Kritikers? versucht dabei keineswegs die Grenzen des Sagbaren zu erweitern, Weltliteratur zu sein zwischen Raskolnikow und Doktor Faustus. Dieser einstweilen letzte Walser-Titel hat eher zu tun mit Entsprechendem von Remarque, von Klaus Mann, von Evelyn Waugh, von J. M. Simmel.

      Frank Schirrmacher mag stolz darauf sein, in der FAZ einen ?Scoop? gelandet, eine Debatte losgetreten zu haben über den der Öffentlichkeit noch gar nicht zugänglichen Text und über Walsers dort lauerndes Repertoire antisemitischer Klischees. Kein infolge dieser Vorankündigung Erschrockener kann den Walser-Text noch halbwegs unbefangen zur Kenntnis nehmen. Wer Walsers Buch nun liest, ist unaustilgbar konditioniert zu selektiver Wahrnehmung. Stellt nicht ?Herabsetzungslust? etwas typisch Jüdisches dar? Enthält die schriftlich festgehaltene mimetische Nachahmung einer höchst charakteristischen Sprech- Weise zwischen Meiningerei und Aufgeblasenheit ? wenn jemand, beispielsweise, nicht ?Schwager? sagt, sondern ?Sche-wager?, nicht ?spricht?, sondern ?spericht? ?, enthält solche Nachahmung eindeutig antisemitische Untertöne, wie sie nicht statthaft sind und nach Auschwitz schon gar nicht? So liest man jetzt den Walser.

      Den Vorwurf, er hätte mit der Vorab-Kritik eines noch nicht veröffentlichten Buches ?Anstandsregeln der Presse verletzt?, kontert Schirrmacher mit moralischem Notstand: ?Elementare Anstandsregeln sind durch das Buch verletzt worden.? Auf diese Weise reagieren Herrschende oft. Falls sie zu befinden glauben, jemand habe die Regeln verletzt, ermächtigen sie sich, auch zu verletzen ... Klingt nach Selbst-Justiz.

      Seit 45 Jahren befreundet mit Reich-Ranicki wie mit Walser, hatte ich Angst, das Buch in die Hand zu nehmen. Walsers letzte Sachen waren mir ohnehin manchmal etwas maßlos vorgekommen. Hatte er sich hier aus Wut, aus Lust am Schäumen hinreißen lassen zu Unentschuldbarem, ?Anwiderndem?? Und dann liest man, und dann ist alles ganz anders. Und dann fragt man sich im Hinblick auf die Riesen-Entrüstung: ?Ja, sind die denn alle verrückt??

      Beginnt man den Roman beklommen, abwehrbereit, dann atmet man schon nach wenigen Seiten auf: da ist wieder jener beschwingte, persönliche, bildungs-vergnügte, herzliche Walser-Sound, der gerade in ganz frühen Texten dieses Autors mit Charme und Witz amüsierte. Ein liebenswerter, etwas sektiererischer Forscher, der Ich-Erzähler, erfährt hier, sein Freund sei unter Mordverdacht im Gefängnis. Habe einen berühmten Kritiker umgebracht. Folgendermaßen erläutert der Text den Ich-Erzähler und den Mörder: ?Er, immer mitten im schrillen Schreibgeschehen, vom nichts auslassenden Roman bis zum atemlosen Statement, ich immer im funkelndsten Abseits der Welt. Mystik, Kabbala, Alchemie.? Warum will der Mystik-Forscher nun seinem gar nicht so schrecklich nahen Freund helfen? ?Aber ich wusste doch, dass Hans Lach es nicht getan hatte. So etwas weiß man, wenn man einen Menschen einmal mit dem Gefühl wahrgenommen hat.? Lauter typische, wunderschöne Walser-Sätze. Der Erzähler fährt nach München und fragt ? als intelligenter, zurückhaltend einfühlsamer Privatdetektiv ? die dort dominierende Literatur-Schickeria, wie es sich denn zugetragen habe, als Lach den Chef einer populären Fernseh- Literaturveranstaltung aus der Welt schaffte, so dass nur dessen blutgetränkter Cashmere-Pullover übrig blieb.

      Kein schlechter Plot. Am Ende zieht sich der Mystik-Forscher Landolf zurück, um alles Gehörte (oder ihm auf Tonbändern zugänglich Gewordene) aufzuschreiben. Darum ist der letzte Satz des Buches, wo dieser Entschluss auf Seite 153 mitgeteilt wird, zugleich der erste auf Seite 8. Lauter Literaten also, Verleger, Verrückte, Gattinnen, Autoren. Walser fügt deren Antworten und Ansichten zusammen zum durchaus schadenfrohen Schwächen-Ballett, Eitelkeiten- Karussell. Er bringt enorm viel Kunsterfahrung, erst recht Kultur-Betriebs-Erfahrung in die Sache, wenn er Versatz-Stücke des Literaten-Treibens aufmischt. Niemand ist exakt wiederzuerkennen ? aber viele konkrete Einzelheiten lassen sich sehr wohl auf lebende Figuren beziehen. Wie reagieren empfindliche Kritisierte? ?Kein Mensch kann dir, wenn du gedemütigt wirst, noch nahe sein. Keiner kann es dir da noch recht machen. Es gibt nur die Verfehlung, sonst nichts. Allenfalls noch die Mehroderwenigerverfehlung.? Ein neurotisches Verhältnis zur Kritik. Der Kritisierte empfindet sich als besiegt. ?Besiegt, das heißt: davon erholst du dich nicht mehr.?

      Nun braucht aber eine solche Komödien-Welt ein Opfer, so wie in Wagners ?Meistersingern?, die übrigens Reich-Ranicki bewundernd liebt, der Beckmesser ein Opfer war, wobei gehässige Untertöne die Kritiker-Figur lächerlich machen sollen ? welche wiederum bei Aufführungen meist mehr Applaus erntet als alle positiven Helden.

      Was Walser über Verleger samt Gattinnen vorbringt ? ?Auf den Fotografien stand sie immer so neben ihrem Mann, als stimme sie ihm zu. Nicht ganz ohne freundliche Herablassung.? ?, was er unvergleichlich witzig über das Archiv in Marbach sagt ? ?Marbach ist für relative Unsterblichkeit eine gute Adresse.? ?, wie er die Aufwallungen verliebter Damen oder mit klirrendem Übermut die Stupidität des Fernsehens fixiert ? alles das wird man dem Autor nicht übel, sondern vergnügt abnehmen. Dabei ahnt er: ?Wenn du ein bisschen herausgehst aus dir, bist du sofort unmöglich.?

      Doch durfte er über jenen Reich-Ranicki, unter dem er litt und von dessen temperamentvoller Kritik er sich zu befreien sucht, beispielsweise sagen lassen: ?Ehrl-König war die Operetten-Version des jüdisch-christlichen Abendlandes?? Einmal äußert jemand (der verrückt ist und sich am Ende umbringen wird) etwa: ?Ehrl-Königs überhaupt nicht zu bestreitende Genialität ist seine Unbeeindruckbarkeit. Daraus sprießt unwillkürlich seine Verneinungskraft. Und die wird unwillkürlich für Urteilskraft gehalten. Zum Glück werde ich nie zu tun haben mit ihm.? Spricht eine solche Äußerung für Antisemitismus? Nein ? höchstens für wilden, vielleicht sogar mordlustigen Hass.

      Zugegeben: es mag verdammt kränkend, ja die Ehre verletzend sein, wenn es über jemanden heißt, er habe aus Ästhetik eine Moral gemacht: ?Die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral. Was mich nicht unterhält, ist schlecht...Einen, der ein schlechtes Buch schreibt, muß man niedermachen. Müllbeseitigung. Gegen Botho Strauß hat er so eröffnet: Wer berühmt ist, kann jeden Dreck publizieren. Sein Publikum wieherte. Da die Todesstrafe abgeschafft ist, brauchen die sowas.? Viel exakter Hohn gegen das ?Literarische Quartett? ging in dieses Buch ein. Wie selbstverliebt, mit welchen Zitaten oder Maschen dessen Gastgeber die willigen Zuschauer beeindrucke. Ich bin da nicht Walsers exzentrischer Meinung. Als Gast nahm ich mehrmals am ?Literarischen Quartett? teil. Es ging durchaus um Texte und Argumente. Man musste gut vorbereitet sein.

      Doch ob Walser nun einem Kritiker-Typus, der vieles von Reich-Ranicki hat (aber auch manches ganz andere), gerecht oder schadenfroh ungerecht gegenübersteht: man kann immer nur blinde oder überscharfsichtige Wut aus manchen Worten herauslesen. Doch keinerlei Antisemitismus. Es sei denn ? die Walser-Gegner selbst betrachten gewisse intellektuelle, egomanische, negativ- kritische Haltungen als etwas typisch Jüdisches. In der zweiten Hälfte des Textes entgleiten Walser manchmal gewisse Passagen ins Rauschhafte. Die Tiraden eines wortmächtigen Geisteskranken wirken entbehrlich. Typischer Walser-Überfluss, Überschuss.

      Walser rechnet, alles in allem, heftig und hassvoll mit einem Kritiker ab, den er für eine bloße literarische Show-Figur hält. Man darf dieses Pamphlet, zumal als Betroffener, kritisieren. Aber nicht aus dem Verlag verstoßen. Die Zeit solcher Säuberungen ist doch vorbei.

      JOACHIM

      KAISER


      Quelle: http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel639.php
      Avatar
      schrieb am 06.06.02 11:43:01
      Beitrag Nr. 154 ()
      Tagesthemen von gestern:
      Von Minute 11:00 bis 16:20 ein Bericht.(link s.u.)
      Der Kommentar vom NDR zeigt, daß die Süddeutsche nicht allein ist mit ihrer Meinung.


      http://www.tagesthemen.de/styles/container/video/style_video…
      Avatar
      schrieb am 06.06.02 13:03:04
      Beitrag Nr. 155 ()
      hier ein interview mit einem historiker über das thema allgemein, ich poste nicht den ganzen text, link!

      «Der Antisemitismus funktioniert immer»
      Israel kritisieren ist etwas anderes, als Juden pauschal zu verunglimpfen. Das müssen beide Seiten erkennen, sagt der Experte.
      Mit Georg Kreis sprachen Kordula Doerfler und Claudia Kühner

      Derzeit werden heftige Debatten um den deutschen FDP-Politiker Jürgen Möllemann, den Schriftsteller Martin Walser und den Nahostkonflikt geführt. In allen drei Debatten wird der Vorwurf von Antisemitismus erhoben.


      http://www.tagesanzeiger.ch/ta/taZeitungRubrikArtikel?ArtId=…


      dann noch aus der nzz:

      Der Vorwurf als Argument
      Die mediale Debattengier bedroht die Gesprächskultur

      Noch nicht einmal vier Wochen ist es her, dass Hubert Spiegel am 10. Mai in der «FAZ» Martin Walser vor einer «öffentlichen Vorverurteilung» in Schutz nahm. In der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit» nämlich zerpflückte deren Herausgeber Michael Naumann eine Rede Martin Walsers, die dieser noch gar nicht gehalten hatte. «Vor dem Ereignis», so kommentierte Hubert Spiegel in der «FAZ» den Vorfall, «wurde der Öffentlichkeit bereits die Interpretation desselben präsentiert.» Es vergehen keine drei Wochen, und der Spiess wird umgedreht: In einem offenen Brief zerzaust Frank Schirrmacher in der «FAZ» einen noch nicht erschienenen Roman Martin Walsers und bezichtigt den Schriftsteller des Antisemitismus.

      Nun stellt sich die Frage, ob Frank Schirrmacher eine andere Wahl gehabt hat: Er hätte den ihm zum Vorabdruck angebotenen Roman im Stillen zurückschicken können, freilich mit dem Risiko, sich danach gegen Anschuldigungen Martin Walsers verteidigen zu müssen, die Ablehnung sei auf Druck von Marcel Reich-Ranicki erfolgt; ein Vorwurf, der umso hartnäckiger haften geblieben wäre, je energischer man ihn dementiert hätte. So entschied sich Schirrmacher zum publizistischen Erstschlag. Doch nicht mit einem gemässigten Schreiben, zwar entschieden im Ton, aber ohne den rabiaten anklägerischen Gestus. Er zog vielmehr die Attacke vor und äusserte den vernichtendsten Vorwurf, den man jemandem in Deutschland machen kann.

      Ging es Frank Schirrmacher um die Sache? - und was wäre diese? Ob Martin Walsers Roman «Tod eines Kritikers» antisemitisch sei? Man müsste meinen, wer Walsers Text ablehnt und zugleich Sätze wie die folgenden (ebenfalls als Vorabdruck und ebenfalls aus dem Hause Suhrkamp) publizieren lässt, setze keine allzu hohen moralischen Massstäbe.

      Unterdrückt, kleingehalten, dummgemacht, am Fortschritt gehindert, zum Rückschritt gezwungen, stehen die muslimischen Völker des Ostens heute weit unter dem Bildungsniveau derer des Westens. Bauchmenschen, Glaubenstiere, hysterisch und fanatisiert, zurückgeworfen auf Hirtengesetze und Viehhändlergebote, im gerechten Bewusstsein, dass ihnen Unrecht geschieht, doch ohne das intellektuelle Rüstzeug, im Rahmen der Vernunft, die doch der morgenländischen Weisheit erster und letzter Ratschluss ist, dagegen zu kämpfen. (Ulla Berkewicz in der «FAZ» vom 11. Mai 2002)

      Wollte Schirrmacher mit seinem offenen Brief vielleicht klarstellen, wer die Debattenhoheit im deutschen Feuilleton innehat? Und packte er zugleich die Gelegenheit beim Schopf, sich effektvoll und nachdrücklich von Martin Walser zu distanzieren? Das allerdings wäre dem Herausgeber der «FAZ» nur allzu glänzend gelungen. Aber musste er zu diesem Zweck Martin Walsers Buch unter den Pauschalverdacht des Antisemitismus stellen? Befördert er damit nicht im gleichen Mass die Trivialisierung des Vorwurfs, wie Martin Walser umgekehrt die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen banalisiert, wenn er meint, Schirrmachers Methode erinnere ihn an Goebbels? Hier tritt die Beschuldigung an die Stelle des Arguments.

      Das Fatale solcher gegenseitiger Bezichtigungen liegt vielleicht nicht einmal in der gezielten Diffamierung der Person, sondern in der inflationären Entwertung des schwerwiegenden Vorwurfs: Wenn jeder Beliebige als Goebbels beschimpft werden kann, wird es bald einmal nicht mehr so schlimm sein, Goebbels nachzueifern; und wenn leichtfertig und gewissermassen aus taktischen Überlegungen bald dieser und bald jener des Antisemitismus verdächtigt wird, kann es nicht lange mehr gehen, und unser Unterscheidungsvermögen in Fragen des Antisemitismus wird auf Dauer beschädigt sein. Es erginge uns dann wie in Äsops Fabel dem Knaben, der einmal zu oft ohne Anlass vor dem Wolf gewarnt hatte. Als der Wolf kam, war niemand mehr da, die Hilferufe des Hirten ernst zu nehmen. Wenn aber zugleich noch nicht einmal darüber Einigkeit besteht, ob nun «Tod eines Kritikers» antisemitisch sei oder nicht, so wird - dies der wohl bedenklichste Nebeneffekt dieser Diskussion - plötzlich zur Verhandlungssache, was denn nun gerade noch nicht bzw. bereits Antisemitismus sei.

      Anderseits tut man gut daran, Martin Walsers Roman in einen etwas grösseren Zusammenhang zu stellen. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises im Jahr 1998 in der Frankfurter Paulskirche hat sich Martin Walser nicht nur manche Zweideutigkeiten zuschulden kommen lassen auf einem Gebiet, das nun ganz und gar keine Ambiguitäten duldet. Es fiel in der Ansprache auch ein Satz, der auf den ersten Blick und im Vergleich zu manch anderem recht harmlos scheint, dessen Implikationen aber vielleicht erst retrospektiv und im Licht späterer Äusserungen Walsers zu verstehen sind: «Aber in welchen Verdacht», so heisst es da, «gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk.» An dem Satz irritiert diese vorsorgliche Empörung über mögliche Einwände gegen eine letztlich doch nicht mehr umstrittene Aussage.

      Noch einmal wiederholt sich ein ähnliches Szenario in Walsers bereits eingangs erwähnter Rede zum 8. Mai, die er vor vier Wochen auf Einladung von Bundeskanzler Gerhard Schröder in Berlin gehalten hatte. Walser entwirft hier eine Ereigniskette vom Ersten Weltkrieg über den Versailler Friedensvertrag zur Machtergreifung Hitlers und suggeriert eine fast zwangsläufige Entwicklung: «Das wichtigste Glied in der historischen Kette bleibt: ohne Versailles kein Hitler.»

      Dann fällt abermals einer dieser ominösen Sätze: «Versailles ist sicher nicht die einzige Ursache für 1933, aber dass Versailles auch eine der Ursachen ist für Hitlers Erfolg, darf man wohl sagen.» Das Zweideutige in diesem Nachsatz wird nicht unbeabsichtigt sein. Man soll wohl verstehen, dies lasse sich widerspruchsfrei festhalten, wie auch, dies werde man doch noch sagen dürfen. Und wieder begleitet diese zweite Lesart der fast bedrohliche Unterton einer vorauseilenden Entrüstung über den Einspruch, der gegen eine solche gezwungen lineare Geschichtsauffassung erhoben werden könnte.

      Auch in diesem Kontext kann der Roman «Tod eines Kritikers» gelesen werden. Das Ceterum censeo dieses Romans, dieses Was-man-wohl- noch-sagen-dürfe, wird man leicht in der masslosen Diffamierung der Person von Marcel Reich- Ranicki erkennen können. Nicht den Tod wünscht Walser seinem Widersacher, wie das Frank Schirrmacher behauptet, er will ihn bloss beschimpfen dürfen, ohne in den Verdacht zu geraten, mit seinen Tiraden auch den Juden treffen zu wollen.

      Dreifach äussert sich also der Wunsch nach einer Normalisierung: zunächst im Verlangen, ein Volk wie jedes andere zu sein; danach im Versuch, das Inkommensurable von Auschwitz mit einer historischen Ereigniskette zu rationalisieren; schliesslich im Angriff auf eine Person, ohne deren ganz besondere Verletzlichkeit in Rechnung stellen zu müssen. Freilich lebt in dem Bedürfnis nach einer so verstandenen Normalität der Ausnahmezustand fort, für dessen Beseitigung sich Walser stark macht. Und gerade ein solches Ansinnen nach dem Bruch des Tabus liefert den kräftigsten Grund, weshalb es beizubehalten ist.

      Wirklich beunruhigend an der ganzen Affäre erscheint indessen weniger das Buch selbst (oder Frank Schirrmachers Ablehnung) als vielmehr die hüben und drüben zutage getretene Verrohung der Gesprächskultur. Nun liesse sich Martin Walsers Roman auch als vorweggenommene Persiflage des von diesem ausgelösten Konflikts lesen; er hat aber wohl nur eine - leider - mimetisch genaue Mitschrift der derzeitigen Selbstinszenierungsrituale der deutschsprachigen Feuilletons abgeliefert, die mit Vorliebe möglichst effektvoll die Ereignisse selber hervorbringen, über die sie sich dann für ein paar Tage echauffieren können. Martin Walser ist weder ein subtiler Analytiker dieser Verhältnisse noch deren Opfer, sondern ein manchmal stiller, manchmal lautstarker Teilhaber.

      Roman Bucheli

      http://www.nzz.ch/2002/06/06/fe/page-article87BL2.html
      Avatar
      schrieb am 08.06.02 15:59:44
      Beitrag Nr. 156 ()
      Auch Bodo Kirchhoff hat einen Roman geschrieben, in dem ein Kritiker ermordet wird, einer der RR sehr ähnlich sieht. Vielleicht sehen wir hier die Entwicklung eines neuen literarírschen Motivs.
      Ich rechne damit, daß in etwa einem halben Jahr ein Buch erscheint, in dem ein Moderator ermordet wird. Der hat einen Politiker beleidigt, der sich nun rächt. Der Moderator hat schwarze, eingeölte Haare und sieht aus, als käme er gerade von einer Sonnenbank. Naja, ihr wißt schon ...


      aus faz.net von heute
      ------------------------------
      Kritikermord als literarisches Sujet: Auch Bodo Kirchhoff schreibt „Schundroman“


      7. Juni 2002 Tod eines Kritikers, die Zweite: Kurz nach Martin Walsers umstrittenem Suhrkamp-Roman wird in der Frankfurter Verlagsanstalt Bodo Kirchhoffs Buch „Schundroman“ erscheinen, in dem ein „Großkritiker“ ums Leben kommt. Nach Angaben des Verlags ist mit der Nebenfigur „Louis Freytag“ wie in Walsers Buch „Tod eines Kritikers“ Marcel Reich-Ranicki gemeint.

      Während André Ehrl-König, der Kritiker in Walsers Buch, nicht wirklich stirbt, fällt Freytag im Trubel der Frankfurter Buchmesse aus Versehen einem Killer zum Opfer. In der Öffentlichkeit wird jedoch gezielter Mord vermutet. Verdächtigt werden zwei Schriftsteller, die „unschwer als Martin Walser und Günter Grass zu erkennen sind“, wie das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ am Freitag berichtete.

      Das unabhängige Trittbrett

      Im Zuge der Debatte um Walsers angeblich antisemitischen Roman zieht die Frankfurter Verlagsanstalt den Erscheinungstermin von September auf den 8. Juli vor. Walsers Buch soll am 26. Juni herauskommen. Mit dem fast gleichzeitigen Erscheinen solle der Eindruck vermieden werden, die Verlagsanstalt habe sich an die Walser-Diskussion anhängen wollen, hieß es am Freitag. Das Manuskript habe bereits im Februar vorgelegen.
      Laut Verleger Joachim Unseld, Sohn von Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld, ist Kirchhoffs Roman keine Abrechnung und „insgesamt entspannter“ als Walsers „Tod eines Kritikers“. Auch „Schundroman“ sei eine Kritik am Literatur- und Medienbetrieb.

      Dem „Börsenblatt“ zufolge schließt der Frankfurter Autor Kirchhoff („Parlando“) nicht aus, dass auch sein Buch „von Leuten, die es nicht gelesen haben“ ähnlichen Verdächtigungen ausgesetzt sein könne wie Walsers Roman. In der Verlagsvorschau wird Kirchhoffs neues Buch als Gangster- und Liebesroman angekündigt.
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 17:25:07
      Beitrag Nr. 157 ()
      es ist nicht so, dass mich das thema nicht mehr interessierte, bloss:
      es wurde wohl schon alles geschrieben, was es dazu zu melden gibt :)

      hier noch ein interview mit walser aus der weltwoche:

      http://www.weltwoche.ch/ressort_bericht.asp?asset_id=2430&ca…

      in der ZEIT gibt es eine ganze serie von artikeln, ich finde alles lesenswert.

      jetzt warte ich auf das buch!
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 21:02:52
      Beitrag Nr. 158 ()
      hier ein interview mit kirchhoff, hängt direkt mit walser zusammen

      Der unerträgliche Wahnsinn des Literaturbetriebs
      Wie man ein Buch zu einer heißen Ware macht - Ein Gespräch mit Bodo Kirchhoff über den Literaturbetrieb der Gegenwart und seinen "Schundroman"

      Bodo Kirchhoff

      DIE WELT: Wie Martin Walsers "Tod eines Kritikers" handelt Ihr "Schundroman" vom Literaturbetrieb der Gegenwart. Wieso dieses Thema?

      Bodo Kirchhoff: Während der letzten Buchmesse gab es über meinen Roman "Parlando" einen sehr schönen Beitrag in dem ZDF-Kulturmagazin "aspekte". Unmittelbar nach dem Beitrag Schnitt - und man sah das Geschlechtsteil der französischen Autorin Catherine Millet. Ihre erotische Autobiographie wurde vorgestellt. Mit diesem Kontrast war für mich der kritische Punkt erreicht: Ich wollte den Wahnsinn unseres gegenwärtigen Literaturbetriebs nicht mehr ertragen, sondern zum Gegenstand eines Romans machen.

      DIE WELT: In Ihrem Roman wird der Großkritiker Louis Freytag, hinter dem sich leicht entschlüsselbar Marcel Reich-Ranicki verbirgt, ermordet.

      Kirchhoff: Freytag wird nicht ermordet und schon gar nicht in seiner Eigenschaft als Kritiker. Er ist ein Zufallsopfer - ein verliebter Auftragskiller möchte Verwirrung stiften und gibt einem ihm unbekannten älteren Herren eins auf die Nase. Leider zu fest - ein Zufall, nur will natürlich niemand daran glauben, vor allem deshalb, weil das Unglück zu Beginn der Frankfurter Buchmesse geschieht. Einer Messe, bei der es im übrigen einen neuen Skandalautor zu bewundern gibt: einen gewissen Ollenbeck, der mit der Tat offenbar in Verbindung steht.

      DIE WELT: Ist der Großkritiker in Ihrem Roman ein Jude?

      Kirchhoff: Er ist nicht ausdrücklich ein Jude. In dem Roman wird darüber kein Wort verloren. Aber da es für die Figur des "bedeutendsten Kritikers" nur ein einziges Vorbild geben kann, ist er natürlich automatisch auch Jude. In dem Augenblick, in dem ihn der Schlag trifft, schaut er in die Zeitung und sieht dort groß sein eigenes Bild. Diese Szene verweist auf den Kern des Problems: Dieser Kritiker ist in erster Linie eine schillernde Medienfigur, eine Rolle, die seine anderen Eigenschaften in den Schatten stellt. Bei der ganzen aktuellen Diskussion wird dieser Punkt viel zu wenig berücksichtigt: Wer auf allen Medienhochzeiten tanzt, kann nicht zugleich eine unbefleckte moralische Instanz sein. Auch die Möllemann/Friedmann-Debatte ließe sich entschärfen, wenn man in diesem Punkt genauer trennen würde zwischen Friedmanns Tätigkeit für den Zentralrat der Juden in Deutschland und seinem Job als ein in die Form verliebter Scheinaufklärer, dessen Sendungen immer nur zwei Ergebnisse haben: Bestanden oder nichtbestanden.

      DIE WELT: Weshalb war es Ihnen so wichtig, nach dem Skandal um Walsers Buch den Erscheinungstermin Ihres Romans um 2 Monate vorzuziehen?

      Kirchhoff: Das letzte Jahr hat mich gelehrt, dass sich der Zeitraum, in dem ein Buch eine heiße Ware ist, auf zwei bis drei Wochen verkürzt hat. Danach interessieren sich nur noch die so genannten Liebhaber für das Buch und später, wenn man Glück hat, die Literaturgeschichte. Ich habe mit dem Roman "Parlando", an dem ich acht Jahre gearbeitet habe, eine einschneidende Erfahrung hinter mir: Selbst die besten Kritiken und hervorragende Präsentationen in allen Literatursendungen können verpuffen. Was Leser heute offenbar brauchen, ist eine unmissverständliche, fast ultimative Aufforderung, ein Buch jetzt oder nie zu lesen. Wäre mein "Schundroman" wie geplant im September erschienen, wäre mir unterstellt worden, mein Buch hänge sich an den Walser-Skandal dran, und die eigentliche Gangster-Liebesgeschichte, um die es mir ging, hätte wahrscheinlich niemand mehr wahrgenommen. In der ARD-Sendung "Kulturreport" wurde ich bereits, ohne dass irgendwelche nähreren Informationen vorlagen, als Trittbrettfahrer bezeichnet (wann hätte ich denn diese 320 Seiten schreiben sollen?), und es ist genau dieses "Öl ins Feuer gießen", dem ich zu begegnen suche. Dadurch dass ich das Buch vorgezogen habe, besteht Hoffnung, dass beide Romane im Vergleich gelesen werden.

      DIE WELT: "Tötet Helmut Kohl" war ein Slogan des Theaterwirrkopfs Schlingensief. Halten Sie es für statthaft, die Ermordung einer realen Person literarisch auszumalen?

      Kirchhoff: Grundsätzlich ist für mich in der Literatur alles erlaubt. Es kommt darauf an, wie man es macht. Ich habe mein Buch auch deshalb "Schundroman" genannt, weil ich in einer Weise vom Schund oder von der Medienbanalität erzähle, die hoffentlich alles andere als Schund ist. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Ich würde in einem Buch auch jederzeit eine Tötungsfantasie aufgreifen, wenn ich sie denn hätte oder in meiner Umgebung massiv erlebte. Zurzeit erzähle ich gerade in einem anderen Buch, wie ich mit meinem Sohn eines der berüchtigten Killer-Videospiele mache. Ich verfolge dabei, wie ich selbst in das Video-Szenario hineingezogen werde, bei dem es nebenbei gesagt darum geht, lauter Nazifiguren zu töten. Was aber nicht weniger auf den Spieler abfärbt, als wären es andere Schurken.

      Mit Bodo Kirchhoff sprach Uwe Wittstock.
      Avatar
      schrieb am 10.06.02 22:45:53
      Beitrag Nr. 159 ()
      "In der ARD-Sendung "Kulturreport" wurde ich bereits, ohne dass irgendwelche nähreren Informationen vorlagen, als Trittbrettfahrer bezeichnet (wann hätte ich denn diese 320 Seiten schreiben sollen?), und es ist genau dieses "Öl ins Feuer gießen", dem ich zu begegnen suche. Dadurch dass ich das Buch vorgezogen habe, besteht Hoffnung, dass beide Romane im Vergleich gelesen werden."

      Ich habe diese Szene gestern abend gesehen und fand das sehr schlecht von den Kulturreportern.
      Avatar
      schrieb am 11.06.02 23:21:01
      Beitrag Nr. 160 ()
      Nun hat sich auch Grass zur Walserdebatte geäußert. Er gibt die Schuld an dem Streit den Feuilletons von FAZ und SZ.

      aus Spiegel online von heute
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      Grass empört sich über Feuilletonkrieg

      Nach Ansicht des Schriftstellers Günter Grass geht es in der Debatte um Martin Walsers "Tod eines Kritikers" längst nicht mehr um einen Roman, sondern um einen Feuilletonstreit zwischen "FAZ" und "SZ". Der Literaturnobelpreisträger kündigte zudem erneut seine Wahlkampfhilfe für die Bundesregierung an und warnte vor "berlusconihaften" Verhältnissen.

      Rom - Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat sich erneut empört über die Debatte um das neue Buch von Martin Walser geäußert. "Was dort in Frankfurt passiert, ist einfach unglaublich", sagte Grass am Dienstag bei einer Pressekonferenz im Goethe-Haus in Rom.
      Nicht mehr das Walser-Buch als solches sei ein Event, sondern das, was die Starkritiker sagten, kritisierte Grass: "Es wird über das Sekundäre aus primärer Sicht gesprochen." Wer das Lebenswerk Walsers kenne, käme nie auf die Idee, von antisemitischen Ideen zu sprechen, sagte er und bekräftigte noch einmal seine Rückendeckung für den in die Kritik geratenen Walser. Im Grunde sei alles ein Feuilletonstreit zwischen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ("FAZ") und der "Süddeutschen Zeitung" ("SZ"). Der Literaturnobelpreisträger sprach von der Engstirnigkeit einiger Kritiker und verwies auf die Kurzgeschichte "1962" aus seinem Buch "Mein Jahrhundert". Diese Geschichte habe er im jüdischen Dialekt vorgelesen, um so dem Zuhörer einen Eindruck von der jüdischen Hauptperson zu vermitteln. "Deswegen bin ich aber noch lange kein Antisemit", sagte Grass.

      Der 74-jährige Schriftsteller erklärte zudem, er plane im Bundestagswahlkampf einige Veranstaltungen zu Gunsten der rot-grünen Koalition. "Ich werde helfen zu verhindern, dass es in Deutschland "berlusconihafte" Verhältnisse geben wird. Mediale Macht mit einem politischen Amt zu verbinden, zerstört automatisch die Demokratie", sagte Grass.

      Außerdem sprach sich Grass gegen Stoiber aus, der ja bekanntlich "ein großer Freund des rechtsextremistischen Österreichers Haider" sei und dem italienischen Staatsoberhaupt Silvio Berlusconi bei dessen Wahlkampagne unterstützt habe. "Ich kann nicht verstehen, wie die Italiener Silvio Berlusconi wählen konnten, nachdem sie doch schon Erfahrungen mit mittelmäßigen Schauspielern als Staatsoberhäupter gesammelt haben", erklärte Grass. "Ich hoffe, dass in Deutschland im September nicht dasselbe passiert."
      Avatar
      schrieb am 13.06.02 16:24:29
      Beitrag Nr. 161 ()
      ftd.de, Do, 13.6.2002, 13:36
      Walsers ´Tod eines Kritikers´ im Internet aufgetaucht

      Knapp zwei Wochen vor Erscheinen von Martin Walsers umstrittenem Roman "Tod eines Kritikers" ist der vollständige Text im Internet aufgetaucht. Der Verlag zeigte sich wenig erfreut.

      Das Manuskript ist als rund 400 Kilobyte große Datei auf dem Server einer US-Internetfirma abgelegt, zu dem eine im Netz kursierende Adresse führt. Der Text umfasst nicht nur den eigentlichen Roman, sondern auch sonst übliche Zusätze wie einen Copyright-Vermerk des Frankfurter Suhrkamp Verlages oder Angaben zur Auflage. Auch die Widmung des Autors ist dort zu lesen.

      Suhrkamp hat die Veröffentlichung nach eigenen Angaben nicht genehmigt. "Der Verlag behält sich selbstverständlich rechtliche Schritte vor", sagte Verlagssprecherin Heide Grasnick der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag. Zu Einzelheiten wollte sie sich zunächst nicht äußern. Sie kündigte für den Nachmittag eine schriftliche Stellungnahme an.

      Erscheinungstermin vorgezogen

      "Tod eines Kritikers" soll am 26. Juni als Buch auf den Markt kommen. Der Verlag hatte den zunächst für August geplanten Erscheinungstermin vorgezogen, nachdem um das Manuskript eine breite öffentliche Debatte entbrannt war. Der Autor Walser sah sich zum Teil heftiger Kritik ausgesetzt, darunter auch dem Vorwurf des Antisemitismus. Vorlage für die Hauptfigur des Romans ist der jüdische Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Ausgelöst wurde die Debatte durch die Entscheidung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Manuskript nicht vorab zu veröffentlichen. Zur Begründung hatte das Blatt, das zahlreiche Walser-Romane vorab publiziert hatte, mitgeteilt, "Tod eines Kritikers" enthalte ein "Repertoire antisemitischer Klischees".

      Im Verlauf der Debatte ließ Suhrkamp den Text vorab einigen Medien zukommen. Dies geschah in einigen Fällen elektronisch, in dem der Text als Anhang einer E-Mail verschickt wurde.

      © 2002 Reuters Limited. Nutzerbeschränkungen
      Avatar
      schrieb am 13.06.02 19:42:25
      Beitrag Nr. 162 ()
      Wer den Text sucht, geht am besten über Kaazaa oder ein anderes P2P-Programm. Dort über "Document" einfach "Walser" in die Suchmaske eingeben und schon kommts als PDF-File.
      Avatar
      schrieb am 14.06.02 09:52:58
      Beitrag Nr. 163 ()
      Es mußte natürlich kazaa heißen. Ich bitte um Entschuldigung.

      Den direkten Link stelle ich auch mal rein:

      http://mitglied.lycos.de/pannenserver/walser-kritiker.pdf
      Avatar
      schrieb am 14.06.02 10:48:52
      Beitrag Nr. 164 ()
      Danke.

      Ist aber ziemlich illegal, nicht?
      Avatar
      schrieb am 14.06.02 19:52:27
      Beitrag Nr. 165 ()
      Hier noch ein interessanter Artikel über die Verbreitung von Walsers Roman im Internet.

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      La règle du jeu

      Marcus Hammerschmitt 14.06.2002 Heise Telepolis

      Literarisches Online-Gaming beim Suhrkamp Verlag

      Künstliche Erregung in Frankfurt: Nachdem man etlichen Journalisten per Email den Volltext von Martin Walsers "Tod eines Kritikers" zukommen ließ, wundert man sich nun über die Verbreitung des Machwerks im Internet ( Das inszenierte Nichts). Mittlerweile gibt es auch Kopien auf deutschen Servern.

      In den Jahren 1995/96 grenzte die Onlinestrategie des angesehensten deutschen Verlages ans Bizarre: Das extrem spartanisch gestaltete Online-Angebot wurde von einem Praktikanten verwaltet und war regelmäßig in den späten Abendstunden schon nicht mehr erreichbar, weil der betreffende Server offenbar vom Netz genommen wurde. Updates fanden in einem, gelinde gesagt, diskontinuierlichen Rhythmus statt, die Email-Erreichbarkeit der Mitarbeiter war keineswegs gesichert.

      Das hat sich gründlich geändert. Nicht nur ist heute die Website www.suhrkamp.de ein Muster an Funktionalität und schlichter Ästhetik. Wie der Skandal um das neueste Buch von Martin Walser zeigt, ist man bei Suhrkamp heute durchaus in der Lage, die Macht der neuen Medien im eigenen Sinn einzusetzen. Eine kurze Chronik:



      Schritt 1: Walsers Roman, gespickt mit Ressentiments und zweideutig-eindeutigen Anspielungen antisemitischer Prägung, wird den großen deutschen Zeitungen zum Vorabdruck angeboten. Das Feuilleton reagiert wie im Roman selbst vorausgesagt, der Skandal ist da.
      Schritt 2: Angeblich, um Walser vom Verdacht des Antisemitismus zu befreien, wird das Manuskript an weitere Journalisten verteilt, unter anderem per Email.
      Schritt 3: Umgehend taucht der Text im Web auf.
      Schritt 4: Bei Suhrkamp bricht Empörung über die Indiskretion aus.




      Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Nonchalance dabei das Internet gehandhabt wird. Wer heutzutage bei einem Skandal dieser Größenordnung darauf pocht, das Skandalon selbst habe geheim zu bleiben, nachdem er es per Email in alle Richtungen hinausgeblasen hat, muss sich Fragen nach seiner Glaubwürdigkeit gefallen lassen. Wie glaubwürdig wäre der Zorn der Justitiziare, hätte man das gedruckte Manuskript in den Vorgärten von 30 Frankfurter Kulturjournalisten hinterlegt, zusammen mit einem großen Schild "Hier der neue Walser"? Genauso glaubwürdig wie die Verblüffung Walsers über die öffentlichen Reaktionen auf seinen Text. Besonders komisch ist in diesem Zusammenhang die Strapazierung des Begriffes "Urheberrecht", denn inwieweit der Verlag durch seine hemdsärmeligen Verteilaktionen das Urheberrecht seines eigenen Autors selbst gebrochen hat, steht noch dahin.

      Offenbar hat man in Frankfurt die Spielregeln des Netzes begriffen. Und zu diesen Spielregeln gehört es auch, einerseits den "umstrittenen" Walser nach allen Regeln der Kunst zu befiedeln, und andererseits in vorsichtigen Worten per Presseerklärung Distanz zu den Eskapaden des Autors anzumelden, damit die Stammleserschaft nicht verprellt wird.

      Fazit: Die Zeiten ändern sich, auch beim Suhrkamp Verlag. Mit dem Generationenwechsel, der das Ende der Ära Unseld markiert, ist auch in der Frankfurter Lindenstraße die Gewissheit eingezogen, dass im Medienzeitalter Aufmerksamkeit das kostbarste Gut überhaupt ist.
      Avatar
      schrieb am 14.06.02 20:21:00
      Beitrag Nr. 166 ()
      Erfreulich für mich festzustellen wie euch die gedankenpolizei bis in die letzte hirnwindung
      erfasst hat.Auf einmal seit ihr euch mehrheitlich
      durch gedankenkegeln einig,Walser hätte antisemitisches geschrieben ,weil MRR jude ist.MRR kann gnadenlos verreissen,mit tollen humor gegen andere und wird beim kleinsten gegenwind ein armseliges scheisserle ,der sich vorher nie auf das judentum berufen hat.Es hat mir immer spass gemacht sein literarisches quartett anzuschauen,nur was ist eine kritik aufgrund seiner eigenen empfindlichkeit in zukunft noch wert?.Jede äusserung von ihm könnt ihr bis in die letzte hirnwindung in zukunft genauso goutieren .
      Viel spass dabei.:laugh:
      Avatar
      schrieb am 14.06.02 20:41:31
      Beitrag Nr. 167 ()
      @oktopodius
      Erfreulich für mich festzustellen wie euch die gedankenpolizei bis in die letzte hirnwindung
      erfasst hat.Auf einmal seit ihr euch mehrheitlich
      durch gedankenkegeln einig,Walser hätte antisemitisches geschrieben..


      mir scheint, Du hast diesen Thread nicht allzu gründlich gelesen.
      Du scheinst den Inhalt einiger hier zu Infozwecken geposteter Zeitungsartikel für die mehrheitliche Meinung der Teilnehmer in diesem Thread zu halten.
      Das ist eine Fehlwahrnehmung.
      leary99
      Avatar
      schrieb am 15.06.02 13:35:55
      Beitrag Nr. 168 ()
      @oktopodius was ist deine kritik wert, wenn du den thread nicht gelesen hast? :laugh:

      in #157 verwies ich auf die artikelserie in der ZEIT. dort hatte mir ein artikel schwer zu schaffen gemacht, der von assheuer http://www.zeit.de/2002/24/Kultur/200224_walser-motiv.html

      jetzt ist in der neuen NZZ ein text abgedruckt

      Kultur im Kampf
      Das «Andere» der Walser-Reich-Ranicki-Debatte

      der den hintergrund und die falschen schlüsse beleuchtet. hier nur ein kurzer auszug daraus:
      (WARNUNG, MAN SOLLTE LESEN KÖNNEN, SONST MACHT DAS GANZE KEINEN SINN! dies gilt für oktopodius u.ä.)

      http://www.nzz.ch/2002/06/15/fe/page-article880P2.html
      "...- So weit indessen reicht die Macht dieser Verdächtigung, dass Assheuer auch noch ein kleines Gedicht aus Walsers Hand, das auf derselben Seite unserer Beilage «Literatur und Kunst» zu finden war, für seinen «Nachweis» zitiert. Walser habe es absichtsvoll seinem Essay «beigegeben». Ach Tücke und Unsinn; es war von der Redaktion aus dem Stehsatz mancher Walser-Poesie ausgewählt worden. Warum? Weil es zeilengenau in den Umbruch passte . . . "
      Avatar
      schrieb am 16.06.02 22:59:43
      Beitrag Nr. 169 ()
      So, geschafft.

      Ich habe das Buch gelesen. Über`s Wochenende, unterbrochen durch die Achtelfinalspiele. Und unterbrochen durch den Schlaf, der mich immer wieder übermannt hat.

      Ein dermaßen schlechtes, langweiliges Buch ist mir noch nicht untergekommen. Geradezu kafkaesk in seinen Wirrungen. Als ob es von einem Geisteskranken geschrieben worden wäre, der keine zusammenhängenden Gedanken fassen kann.
      Antisemitismus konnte ich tatsächlich nicht entdecken.

      Dass MRR jedoch vor Wut kocht, wenn er dieses Buch liest, ist klar. Er wird dort völlig lächerlich gemacht. Und dabei werden keineswegs antisemitische Ressentiments bedient. Die kann dort nur entdecken, wer sie auf Biegen und Brechen sehen will.

      Die in der FAZ gebrachten Zitate aus dem Buch sind tatsächlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen.

      Ich wollte mir das Buch kaufen, was ich nun nicht mehr tun muss. Gott sei Dank. Für so ein schlechtes Buch auch noch Geld ausgeben?
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 03:13:33
      Beitrag Nr. 170 ()
      Auch ich habe das Buch inzwischen gelesen.
      Ich sehe das Buch nicht ganz so schlecht, wie Rainer6767.
      Zwar ist es inhaltlich sehr dünn; neben der "Abrechnung" mit MRR bleibt der Rest uninteressant und eher wirres Beiwerk.
      Aber die Abrechnung ist treffend.
      In zweierlei Hinsicht.

      MRR`s Art, über Literatur zu reden wird auf Treffendste auseinandergenommen. Seine Effekthascherei, seine Tricks, mit denen er ausschließlich darauf abzielt, daß Publikum zum Lachen zu bringen, seine sehr begründungsarme Urteilsweise wie auch seine gesamte Gestik, Mimik, etc. sind unverkennbar in Ehrl-König dargestellt worden.
      Nicht zuletzt seine Unsitte, als Unterscheidungskriterium für gute/schlechte Literatur ein völlig auf ihn fixiertes und von allen Objektivierungsbemühungen entferntes Kriterium anzulegen : Gut ist, was MICH (MRR) unterhält.

      Treffend auf eine zweite Weise eben deshalb, weil immerhin Ehrl-König so gut dargestellt ist, daß es MRR (wahrscheinlich bis ins Mark) persönlich treffen muß.

      Der Roman erzeugt aus zwei Gründen eine etwas niedergeschlagene Stimmung:
      1) Weil das lustige Bild des literarischen Knieselkoppes, den man gerne im Fernsehen sieht, Risse bekommt und MRR diskreditiert wird, teilweise auch auf eine Art, die man als unangenehm empfindet.
      2) weil man eine Vorstellung davon bekommt, wieviele Autoren MRR mit seinen oft pauschalen schwarz/weiß-Kritiken selbst persönlich "verletzt" hat und wie es aus deren Schriftsteller-Innenperspektive ausgesehen haben muß.

      Hier wechselt man einmal auf die Seite der vielen, über die oft genüßlich hergezogen wurde. Und wenn man ehrlich ist, war es zum großen Teil der Verriß und die genaue Art wie dies praktiziert wurde, was die Leute beim literarischen Quartett sehen wollten. Verrisse von MRR waren im Quartett schon immer kleine Ereignisse. Über diesen "Ereignissen" hat man die "Opfer" in ihrem persönlichen Leid vergessen. Das Buch bringt diese ins Bewußtsein.
      MRR hat in seinem Leben literarisch viel ausgeteilt.
      Jetzt muß er es auch einmal verkraften, einmal die Zielscheibe eines literarischen Schlages zu sein.

      Sehr enttäuscht bin ich eigentlich nur von einem: von Frank Schirrmacher.
      Wenn man sich nach Lektüre des Buches noch einmal die von Schirrmacher angeführten Stellen durchliest und das, was Schirrmacher daraus macht, sieht man, daß er damit alle vernünftigen Interpretationsmöglichkeiten überschreitet (seine Kritik des Wortes "darunter" setzt dem Ganzen die Krone auf). Mit den von Schirrmacher gebrachten Zitaten diesen vermeintlich antisemitischen "Skandal" zu erzeugen und Walser in die Schuhe zu schieben, das ist einfach maßlos überzogen und inhaltlich nicht zu erklären, sondern nur durch Politik oder persönliche Beweggründe.
      Denn MRR wird eben nicht als Jude angegriffen.
      Sondern als Person auseinandergenommen.
      Das mögen viele unschön finden (ich fand es während des Lesens auch nicht immer geschmackvoll), einem Walser muß dies zu tun jedoch erlaubt sein.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 08:32:35
      Beitrag Nr. 171 ()
      @Rainer

      ich habe Dir den thread „Arafat zahlt, Europa...“ hochgestellt, da sind die erbetenen links drin.

      Zum MRR, ich habe das Buch inzwischen auch lesen können.

      Wir sollten nicht vergessen, was die Aufgabe eines Kritikers ist. Und wir dürfen nicht vergessen, daß Deutschland auf der einen Seite eine Konsens- Gesellschaft ist, auf der anderen Seite aber die Menschen eben auch von Schadenfreude getrieben werden.

      Die Aufgabe von MRR war es, Literatur zu kritisieren. Er hat dies so gemacht, daß er Literatur „ zerfetzt“ hat. Wenn er sie für schlecht hielt. Kritik in einer auf Konsens bedachten Gesellschaft ist immer in der Nähe von Krawall. Jeder kann dies in seiner unmittelbaren Umgebung jederzeit nachprüfen.

      Literatur- Kritik, wenn es ein gesellschaftliches Ereignis werden soll, muß also diesen Konsens aufgeben, es muß in Putz enden.

      Seien wir ehrlich. Die Art und Weise, wie über Leute des öffentlichen Lebens hergezogen wird, ist im Konsens nicht möglich. Schaut Euch mal am Montag die Sportkritiken an. Ebenso verhält es sich mit Theater- Kritiken, Schauspielen, Filmen etc.

      An Literatur hätte kaum jemand Interesse, wenn es dort nicht ebenfalls deftig zugehen würde. Und MRR hat für den deutschen Literatur- Betrieb unendlich viel an Aufmerksamkeit erreicht.

      Sein Maßstab war sein eigener Geschmack, sein eigenes Empfinden. Wie sollte es auch anders sein.

      Dennoch darf gesagt werden, daß er wirklich nur seinem eigenen Literatur- Verständnis verpflichtet war, und keinem Klüngel nachlief, keiner politischen Ausrichtung, keinen gesellschaftlichen Strömungen nach dem Mund redete.

      Es ging immer nur um Literatur.

      Mehr ist von einem Kritiker nicht zu verlangen. Wem diese Kritiken nicht gefallen, der konnte sich bedienen aus der Gruppe der Kritiker, die woanders gedruckt wurden, publizierten. Karasek, vom Spiegel beispielsweise.

      Das literarische Quartett, welches die enorme Publizität für Literatur ermöglichte, war eben ein Quartett, besetzt mit 3 Stamm-Spielern und einem jeweils zugeladenen. Daß MRR dabei das Schwergewicht war durch seine Art des Auftritts, aber wohl auch durch seine profunden Literatur- Kenntnisse, das ist unbestritten.

      Wäre es nicht so gewesen, wer wollte bestreiten, daß es dann dieses literarische Quartett nicht mit diesem Erfolg gegeben hätte. Wahrscheinlich hätte es überhaupt nicht gegeben.

      MRR hat viele Schriftsteller gefördert. Das heißt nicht, daß er sie dafür hat loben müssen. Auch diejenigen, die von ihm verrissen wurden, haben von ihm profitiert. Auch deren Auflagen schossen in die Höhe.

      Schlimm war es nur für den, wer von MRR überhaupt nicht besprochen wurde.

      Ich habe am Wochenende von Avi Primor einen nachdenkenswerten Satz gehört.

      MRR hatte ja auch den Günther Grass zerhäckselt. Und es ist zu schweren Zerwürfnissen gekommen im Spiegel, zwischen Grass und Reich Ranicki.

      Aber diese Zerwürfnisse sind völlig ohne Anlehnung an die Herkunft von MRR ausgekommen. Weder die polnische, noch die jüdische Karte wurden gespielt.

      Das kann man von diesem Buch nun wirklich nicht behaupten.

      Allerdings werden die Bezüglichkeiten hier so plaziert, daß sie als „kleinlich“ auf den Leser zurückfallen, sollte er daran Anstoß nehmen.

      So versteckt man sich dann halt hinter dem Gefühl, daß das Werk irgendwie mißraten ist.

      Als Anhang nochmals, was Schirrmacher geschrieben hatte. Ich habe in dem Buch alles wiedergefunden, und ich kann das alles nachvollziehen.

      Es ist kein antisemitsiches Buch, sondern eines, das mit antisemitischen Klischees spielt. Das wird Schirrmacher wohl meinen dürfen. Und mehr hat er nicht gesagt.

      Walser hat mit diesem Buch eine Kerbe des schlechten Geschmacks, der ungestüm wirkenden eigenen Betroffenheit in unser Holz geschlagen, aber das darf er natürlich, das wird vielleicht dereinst den eigentlichen Wert des Buches ausmachen.

      Ein Schriftsteller, der alles erreicht hat, was in dieser Gesellschaft erreichbar ist, der alle Ehrungen eingesammelt hat, der allen wirtschaftlichen Erfolg auf sich vereinen konnte, letztlich an sich scheitert, indem er seine ungestillte Liebessehnsucht dem Verschmähenden mit aller Kraft und handwerklichen Kunst in die Seele brennt.

      Ich hoffe, daß Walser sich erholt, obwohl ich spüre, daß so etwas nicht zu überwinden ist. Es ist ein Bestandteil, ein Zug der eigenen Persönlichkeit. Insoweit stimmt der Abschluß von Schirrmacher nicht. Walser kann sich nicht befreien. Er wird sich nicht befreit fühlen. Er hat auch sich eine Niederlage beigefügt, die freilich nicht vermeidbar war.

      SEP



      >>>>>>>>>>>

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2002, Nr. 122 / Seite 49
      Lieber Martin Walser, Ihr Buch werden wir nicht drucken

      Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z.

      Lieber Herr Walser,

      Ihr neuer Roman wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Nur ein kleiner Zirkel von Eingeweihten kannte bisher den Inhalt. Mittlerweile kenne auch ich ihn. Nicht weil Rechercheure die Panzerschränke im Suhrkamp-Haus geknackt hätten. Sie selbst haben uns, unspektakulär genug, die Fahnen gegeben. Sie wünschen, daß Ihr neuer Roman, "Tod eines Kritikers", in dieser Zeitung vorabgedruckt wird. Sie legen Wert darauf, daß er hier und gerade hier erscheint.

      Ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Roman nicht in dieser Zeitung erscheinen wird. Die Kritiker mögen entscheiden, wie gut oder wie schlecht dieses Buch unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ist. "Auch ein schlechter Walser ist ein Ereignis", sagte einmal ein bekannter Redakteur.

      Ihr Roman ist eine Exekution. Eine Abrechnung - lassen wir das Versteckspiel mit den fiktiven Namen gleich von Anfang an beiseite! - mit Marcel Reich-Ranicki. Es geht um die Ermordung des Starkritikers. Ein Schriftsteller wird als Täter verdächtigt. Ein anderer, der Erzähler, recherchiert. Später erfährt man, daß beide ein und diesselbe Person sind. Am Ende die Aufklärung: Der Kritiker ist nicht tot, er hat nur tot gespielt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen. Dazwischen eine Art Gesamtanalyse des Starkritikers, des literarischen Lebens unter Aufbietung halbverschlüsselter Figuren wie Joachim Kaiser und Siegfried Unseld. In Wahrheit aber: die Beschreibung eines Verhängnisses, das sich in André Ehrl-König alias Marcel Reich-Ranicki über die Literatur in Deutschland legt.

      Ehe Sie, lieber Herr Walser, mit den Begriffen Fiktion, Rollenprosa, Perspektivwechsel antworten - ich bin durchaus im Bilde. Ich bin imstande, das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden. Man hat mich unterrichtet, wie oft und wo überall in der modernen Literatur Kritiker gemordet werden.

      Doch die Burgtore des Normativen, der literarischen Tradition und Technik stehen Ihnen als Zuflucht nicht offen. Denn das alles wären ja nur Kategorien für ein "schlechtes" oder "gutes" Buch. Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses. Und ich weiß nicht, was ich befremdlicher finden soll: die Zwanghaftigkeit, mit der Sie Ihr Thema durchführen, oder den Versuch, den sogenannten Tabubruch als Travestie und Komödie zu tarnen. Nicht wahr, Sie haben das "Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent" nur wörtlich genommen?

      Werden Sie mir glauben, daß ich umgekehrt nun beginne, Sie wörtlich zu nehmen? Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie. Daß der Mord keiner ist, macht die wonnevolle Spekulation unangreifbar. "Habe allerdings keinen, der für mich tötet", sagt der Erzähler beispielsweise einmal. Und mehr als einmal fällt der Satz: "Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." Sie haben sich eine Art mechanisches Theater aufgebaut, in dem es möglich ist, den Mord auszukosten, ohne ihn zu begehen. Doch es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker, wie es etwa bei Tom Stoppard geschieht. Es geht um den Mord an einem Juden.

      Die Signale sind unübersehbar, und sie sind unheimlich. "Das Thema war jetzt", heißt es, "daß Hans Lach einen Juden getötet hatte." Das kommt so nebenbei, aber es ist Ihr Thema, es ist das Thema dieses Buches. Sie denken sich die Sache so richtig durch. Was würde das große Nachrichtenmagazin schreiben? "Wolfgang Leder erklärte scharf und genau, daß es von nichts als Antisemitismus zeuge, wenn die Ermordung eines Juden, wenn er denn einer gewesen sei, moralisch schlimmer geahndet werde als die Ermordung eines Nichtjuden. Philosemiten seien eben, wie bekannt, Antisemiten, die die Juden liebten." Wie kamen Sie auf die Idee, Ihren Verdächtigen dadurch besonders verdächtig zu machen, daß der in höchster Wut dem Starkritiker in Hitler-Sprache droht, "ab 0.00 Uhr wird zurückgeschlagen", worauf der Kritiker tatsächlich wie vom Erdboden verschwindet. Welch ein Spaß, wenn man erfährt, daß diese Kriegserklärung an den Kritiker von einem Unschuldigen stammt! Natürlich kann Ihr Kritikerpapst nicht richtig Deutsch. Ihr Reich-Ranicki sagt nicht "deutsch" sondern "doitsch", nicht Literatur, sondern "Literatür", und er hat einen kapitalen Messiaskomplex: "Aber in einer Hinsicht sei jeder, der sich im keritischen Dienst verzehre, in der Nachfolge des Nazareners: der habe gelitten für die Sünden der Menschheit, der Keritiker leidet unter den Sünden der Schschscheriftstellerrr." Sie, lieber Martin Walser, wissen, was Sie hier tun. Und wer es literarhistorisch nicht weiß, lese die Parodien des Juden Karl Kraus auf den Juden Alfred Kerr.

      Die "Herabsetzungslust", die "Verneinungskraft", das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar, und wenn "André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust", dann ist Ihr "darunter" besonders hervorhebenswert, als wäre die große Mehrheit der europäischen Juden eben nicht Opfer gewesen. Das sind so Kleinigkeiten, die mich stutzig machen und hinter denen ich schließlich zu meiner eigenen Überraschung Methode vermute. Gut, Ihr Kritiker hat einen Sprachfehler, und er trainiert sogar seine sprachliche Eigenheit. Und dann, weil Sie glauben, Sie seien nun salviert, schreiben Sie diesen Satz, den man im Schriftbild vor sich sehen muß, um die Verballhornung des Jiddischen heraushören zu können: "Denken Sie nur an den Ehrl-König-Sound, wenn er über doitsche Scheriftsteller spericht und über die Sperache, die sie schereiben und wie scherecklich es ist, sein Leben geweiht zu haben einer Literatür, die zu mehr als noinzig Perozent langeweilig ist" und so weiter und so weiter.

      Aber das alles ist nichts gegen den Clou dieses Buches. Mord, Mordkommission, das alles spielt hier immer mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis. Doch der Kritiker ist nicht tot. Seine Frau, die kettenrauchend, kaum deutsch, sondern französisch sprechend, unter ihm leidet, weiß es die ganze Zeit. Warum? Sie sagt es, ein Champagnerglas in der Hand: "Umgebracht zu werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König."

      Es ist dieser Satz, der mich vollends sprachlos macht. Er ist Ihnen so wichtig, daß er zweimal in dem Roman vorkommt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß Marcel Reich-Ranicki der einzige Überlebende seiner Familie ist, halte ich den Satz, der das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft macht, für ungeheuerlich.

      Ich habe, lieber Herr Walser, in meiner Laudatio in der Paulskirche eine Summe ihres Werkes und Wirkens gezogen. Ebenso klar sage ich, daß ich fatal finde, was Sie jetzt zu tun im Begriff sind. Als Adolf Hitler seine Kriegserklärung gegen Polen formulierte, die Sie in Ihrem Roman so irrwitzig parodieren, war dies auch eine Kriegserklärung an den damals in Polen lebenden Marcel Reich und seine Familie. Nicht viele europäische Juden haben diesen Satz von Adolf Hitler überlebt. "Darunter", um Sie zu zitieren, noch weniger das Warschauer Ghetto. Und noch mal viel, viel weniger haben den Aufstand im Warschauer Ghetto überlebt. Und noch viel weniger konnten dann in einem Kellerloch in Polen überdauern. Und von all denen, die das überlebt haben, gibt es nur noch einen Bruchteil eines Bruchteils, der heute noch lebt. Zwei davon, lebend also wider jede Wahrscheinlichkeit, sind der heute zweiundachtzigjährige Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila. Verstehen Sie, daß wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, daß dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, daß wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?

      Ich muß diese Absage öffentlich machen. Sie haben bereits vorauseilend die Vermutung geäußert, eine Absage wäre nur auf den undurchschaubaren Einfluß Marcel Reich-Ranickis zurückzuführen. Doch die reale Hauptfigur Ihres Romans weiß nichts von diesen Vorgängen. Es gibt keine Verschwörung.

      Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage. Mit bestem Gruß

      FRANK SCHIRRMACHER


      >>>>>>>>>>>>
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 10:22:17
      Beitrag Nr. 172 ()
      Da gibt`s einen wunderschönen Kommentar in der aktuellen "Die Zeit" - Ausgabe vom 13. Juni 2002, S. 33:

      Die Melodie des Wahns ergreift
      die intellektuelle Debatte

      Das Spektakelgeschrei, das um Walsers Roman-Tod eines Kritikers erhoben wurde, beginnt eine Wirkung zu entfalten, hinter der das ursprüngliche Erschrecken über antisemitische Pointen verschwindet. Wer immer einen Groll in dieser Republik hegt, sich gekränkt oder von Machtverlust bedroht fühlt, will jetzt seine Stimme erheben. Es ist wie auf einer Säuglingsstation, wo ein Baby zu brüllen beginnt und alle anderen einfallen. Schon hat der Schriftsteller Bodo Kirchhoff im Spiegel geklagt, dass sein neuer Roman, der ebenfalls den Mord an einem Starkritiker zum Thema hat, vom Walser-Rummel beschädigt sei, noch ehe er erscheinen konnte. Obwohl er doch unabhängig von Walser auf die gleiche Idee gekommen war!

      In der Süddeutschen Zeitung wiederum beklagte sich Jürgen Habermas. Seine Ermahnung zur Zivilisierung des Diskurses verband der Philosoph mit einem düsteren Gefuchtel über allerlei Tabubrecher, deren Identität er nicht nannte. Es waren offenbar alle gemeint, die dem Philosophen jemals in die Quere gekommen waren. Aber das Publikum musste nicht lange rätseln. Auch die nicht Genannten haben sich gemeint gefühlt. Der Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer hat mit einer wütenden Attacke in der Frankfurter Allgemeinen reagiert, ebenfalls alles einschließend, was ihn an Habermas im Besonderen und an ideologischen Ressentiments im Allgemeinen schon immer verbitterte.

      Habermas wiederum antwortete in der FAZ mit einem Brief, in dem er bestreitet - nun, was auch immer. Die Welt ist voller Wunden, wie Marcel Reich-Ranicki früher gern zu sagen pflegte. Der Gute! Er, das eigentliche Opfer, hat solche Verteidigung nicht verdient. Die berechtigte Frage, wie man mit ihm und seinem Leben umgehen dürfe, hat sich in Windeseile in die Frage verwandelt, wie andere meinen, dass mit ihnen umgegangen werde oder früher schon umgegangen wurde. Das ist die Wirkung der Enthemmung, die mit Walsers Roman begann und von seinen Kritikern mit einem maximalisierten Antisemitismusverdacht fortgesetzt wurde. Dieser Verdacht hat die Qualität einer Bedrohung, die offenbar einen überall latenten Wahn weckt. Es ist die Szene aus Bram Stokers Dracula-Roman, wo just in dem Moment, da sich der transsylvanische Graf mit seinem Sarg nach Westen einschifft, die Patienten in einem Londoner Irrenhaus zu toben beginnen, Fliegen fressen und von der Ankunft des Herrn faseln.

      So beginnen sich nun in der intellektuellen Republik die Erniedrigten und Beleidigten zu sammeln (auch wenn ihr Leiden nur schwer erkennbar ist). Das ist die weniger lustige Pointe der Debatte: Im Zuge all der raffinierten Antisemitismus-Sucherei ist vollkommen vergessen worden, dass Antisemitismus keine fragile Erscheinung ist, die sich nur unter dem Elektronenmikroskop beobachten lässt, sondem ein höchst robustes Phänomen, dem im 20. Jahrhundert Millionen und Abermillionen zum Opfer gefallen sind. Man sollte seine Diagnose nicht mit Rechthaberei in eigener Sache verwechseln.

      Jens Jessen
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 10:44:00
      Beitrag Nr. 173 ()
      @Sep_

      Welche antisemitischen Klischees hast Du in dem Buch entdeckt? Hast Du es komplett gelesen?
      Ehrl-König ist, anders als MRR, kein so "direkter" Überlebender des Holocaust. Der Holocaust wird praktisch gar nicht thematisiert.

      Die Sache mit der jüdischen Herkunft kommt in dem Buch nur einmal vor: Als geschildert wird, wie nach der angeblichen Ermordung in der Öffentlichkeit eben das "Jude-sein" des Kritikers zum Thema gemacht wird. Und die Schilderungen Walsers sind hier durchaus distanziert. Und wohl nicht ganz unzutreffend. Würde MRR ermordet werden, wäre seine Herkunft wohl (leider) tatsächlich ein Thema.

      Die polnische Karte wird überhaupt nicht gespielt, da Ehrl-König französische Vorfahren hat. Oder habe ich das falsch verstanden? Deswegen ja auch "Literatür" (so spricht MRR nicht).

      Und dass es nicht zu Ehrl-König passt, ermordet zu werden, hat m.E. nicht das Geringste mit seiner Herkunft zu tun. Sondern mit der Art, wie er jetzt lebt. Ein Star kann doch nicht ermordet werden.
      Man muss den Bezug zur Vergangenheit von MRR schon unbedingt herstellen wollen. Er ist keineswegs zwingend. Nicht einmal naheliegend.

      Deine Verteidigung MRR`s in allen Ehren. Aber da geht es, zu Recht, um die Frage, ob Walsers Zerrbild berechtigt ist oder nicht. Wieder geht es nicht um Antisemitismus.

      Es stört mich persönlich sehr, dass mit der Debatte um dieses Buch Möllemann zum Teil Recht gegeben wird.

      @leary:
      Gut ist, was mich unterhält (MRR).
      So sehe ich das allerdings auch. Ein Buch muss unterhaltsam oder informativ sein, am Besten beides, damit ich es mit Genuss lese. Walser hat hier komplett versagt. Ich musste mich oft regelrecht überwinden, weiter zu lesen. Vor allem die "Tonbänder" aus der Klinik waren eine Zumutung für mich. Aber das ist Geschmackssache. Ich mag auch Kafka nicht.
      Das mit Schirrmacher sehe ich so wie Du. Das ist böswilligste Interpretation.
      Dass MRR dieses Buch nicht mit Humor nehmen kann, verstehe ich nun allerdings. Das Bild des Kritikers ist schon sehr übel.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 11:42:51
      Beitrag Nr. 174 ()
      @Rainer6767
      Gut ist, was mich unterhält (MRR).
      So sehe ich das allerdings auch.


      Dazu ein kurzes Zitat aus walsers Buch von Seite 47:
      "Wenn einem etwas nicht gefällt, ist es schlecht, sagte sie. Davon hat er gelebt. Was ihm nicht
      gefiel, war schlecht. Und dafür hat ihn die Chorknabenherde seiner Feuilletons verhimmelt. Seit
      dem muß man nichts mehr beweisen, nur noch sagen schlecht oder gut. Das hat er geschafft."

      Für mich ist ein Kritiker dazu da, die gedanklichen Zwischenschritte auf dem langen Weg vom subjektivem Gefallen hin zur Erklärung einer objektiven Güte verbal zu füllen. Er muß sein ästhetisches Empfinden so explizieren, daß es "objektiv" wird.
      Begründen, warum es nicht nur ihm gefällt, sondern auch anderen gefallen wird.
      Das macht er nicht.
      Er beweist seinen guten Geschmack nicht.
      Das aber muß ein Kritiker tun.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 12:14:48
      Beitrag Nr. 175 ()
      @leary:

      Ich bin ja kein Kritiker. Deswegen ist mein subjektives Urteil auch nicht maßgebend. Vor allem zerstört es keine Existenzen, wenn ich ein Buch nicht gut finde.

      Tatsächlich sollte ein Kritiker wohl so agieren wie von Dir beschrieben. Der Leser hingegen wird wohl immer so agieren wie ich. Mir kommt es doch nicht auf eine objektive Güte an. Und wen kümmert`s schon, wenn ich ein Buch schlecht finde.

      Was man MRR vielleicht zugute halten könnte: Der Unterhaltungswert kommt bei den meisten Kritikern zu kurz. Warst Du schon mal im Kino in einem Film, den die Kritiker einmütig gelobt haben? Das ist im Normalfall die Garantie für ätzende Langeweile.

      Sei`s drum. Antisemitische Klischees konnte ich jedenfalls, wie Du auch, in diesem Buch nicht finden. Möglicherweise fehlt mir da eine spezifische Sensibilität und ich übersehe Andeutungen, die der "geübte" Antisemit sofort erkennt. Glaube ich aber nicht.

      Hast Du das Buch am Wochenende "verschlungen", oder ging es Dir ähnlich wie mir, d.h. musstest Du Dich auch zum Teil überwinden, es zu Ende zu lesen?
      Mir ging das bisher nur einmal so: Bei den "Satanischen Versen", die ich auch unbedingt lesen wollte, um mir ein eigenes Bild zu machen. Das war schon mehr Arbeit als Vergnügen. Da sind ja Geschäftsberichte spannender.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 12:37:58
      Beitrag Nr. 176 ()
      Juden, Holocaust, Textpassagen aus dem Buch. Darf man da von antisemitischen Klischees reden, Rainer ?


      S 4. Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.
      Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu
      ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust.

      S 45. Hans Lach ist der gequälte Christ, der sich helfen kann zuerst nur mit Delirium, dann mit der Tat. Ehrl-König war die Operettenversion des jüdisch-christlichen Abendlandes,

      S 95 Das Thema war jetzt, daß Hans Lach einen Juden getötet hatte. André Ehrl-König und Rainer Heiner Henkel hatten zwar Ehrl-Königs Herkunft nie als jüdische herausgestellt, aber jetzt wurde der jüdische Bankier König aus Nancy herbeschworen, und es wurde mehr als vermutet, ......

      S 96. Wolfgang Leder warf sich im DAS-Magazin diesem Spezialschwall entgegen, erklärte scharf und genau, daß es von nichts als Antisemitismus zeuge, wenn die Ermordung eines Juden, wenn er denn einer gewesen sei, moralisch schlimmer geahndet werde als die Ermordung eines Nichtjuden. Philosemiten seien eben, wie bekannt, Antisemiten, die die Juden liebten. Jetzt mußten die Feuilletons sich mit Leder auseinandersetzen und ihm scharf und genau erklären, daß in Deutschland die Ermordung eines Juden doch wohl ein Faktum ganz anderer Art sei als in jedem anderen Land der Welt.

      Dann Leder: Wenn Ehrl-König ermordet worden wäre, weil er Jude gewesen sei, hätten die anderen Recht. Aber es sei ja noch nicht einmal sicher, ob Ehrl-König Jude gewesen sei. Er, Leder, wisse an Ehrl-König nichts so sehr zu schätzen wie dessen Zurückhaltung in der Herkunftsfrage.

      S 96 inzwischen mehr als hundertjährige Mutter, die ehemalige Sängerin Claire Koss auch aus einer jüdischen Familie stamme. In wenigen Tagen war aus Vermutbarem Tatsache geworden. Rainer Heiner Henkel, plötzlich wieder im Mittelpunkt des Interesses, sagte jeden Abend in einer anderen Talkshow, daß Wasserfall ein vom Maler-Großonkel angenommener Name gewesen sei, weil der eben fast nichts als Wasserfälle gemalt hatte. Das sage aber nichts aus über die Herkunft Ehrl-Königs. Er, Rainer Heiner Henkel, werde sich allerdings nicht beteiligen an der Herkunftsdebatte. Die erinnere ihn peinlich an andere Zeiten. Egal, zur Schmähung oder zum Preis, er finde Herkunftsdebatten fies und obsolet. Trotzdem ging das weiter: Hans Lach hatte seine Tat in der Tatnacht in der PILGRIM-Villa in einem an Hitler erinnernden Jargon angekündigt.

      Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 13:11:22
      Beitrag Nr. 177 ()
      @SEP_

      S.4.: Walser schildert den Abscheu und teilt ihn offensichtlich.

      S.45: "jüdisch-Christlich", hier liegt aber die Betonung auf dem Abendland. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich mit "Antisaturnisch" nicht besonders viel anfangen kann. Bezieht sich offensichtlich auf den Glanz des Ehrl-König, der so völlig im Gegensatz zum Schmutz des Saturn steht (und des Hans Lach). Nicht der Gegensatz Christ-Jude, sondern der Konflikt mit dem jüdisch-christlichen Abendland.

      S.95 + 96: Wie bereits von mir beschrieben. Walser beschreibt, dass die Ermordung des Kritikers in der Öffentlichkeit eben auch unter diesem Aspekt diskutiert wird. Völlig zu Unrecht??
      Und das Zitat von "Leder" ist doch wohl richtig. Es ist ja geradezu eine Vorwegnahme dieser Diskussion. Hier war Walser geradezu prophetisch.

      Walser macht m.E. sehr deutlich, dass er die Herkunftsdebatten als lächerlich empfindet. Darf er sie überhaupt nicht beschreiben?

      Das "Null Uhr" Zitat steht doch nicht isoliert. Es wird doch als Hitler-Jargon beschrieben. Walser macht es sich doch nicht zu eigen.

      Schade, dass wir nicht persönlich diskutieren können. So vieles ist dazu zu sagen, nur ein Bruchteil lässt sich schreiben. Daher immer in Gefahr, missverstanden zu werden.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 14:14:05
      Beitrag Nr. 178 ()
      Rainer, ich versteh Dich. Ich glaube auch nicht, daß wir da auseinanderliegen könnten.

      Die Texte sind übrigens Original- Textauszüge, ich habe sie nicht verändert.

      Walser kann sich als Schriftsteller natürlich immer aus der Affäre ziehen, indem er seine figuren etwas sagen läßt.

      Es ist auch nicht tragisch, oder zu beanstanden, was er seine Figuren in diesem Falle sagen läßt.

      Das Problem ist der Kontext. Die Abrechnung. Gut: die literarische Abrechnung.

      Da kommt schon sehr viel hoch in diesem Walser, und da spielt er auch mit atisemitischen Klischees.

      Alles, was zu lesen war, ist zumutbar. Keine Frage. Ist aber auch eine Zumutung für MRR. Auch klar. Es ist sicherlich ein Buch, welches die Sicht auf MRR abrunden, verändern, ergänzen sollte.

      Sonst hätte es so nicht geschrieben werden müssen.

      Deswegen trägt es seinen Titel zu Recht. Tod eines Kritikers.

      Und da ist Doppeldeutigkeit drin. Sag mir nicht, Walser hätte dies nicht gesehen. Der Titel beschreibt eben den Tod, oder Nicht- Tod der fiktiven MRR.

      Das Bucxh ist aber gedacht als Beitrag zur Beendigung der Karriere des MRR. Das ist der eigentliche Sinn des Buches, das ist gemeint mit " Tod eines Kritikers.

      Auch hier ist nicht der physisch eintretende Tod gemeint. Wie auch im Buch der Walser sich immer darauf zurückziehen kann, daß es doch garkeinen Tod in seinem Buch gäbe.

      Es ist doppeldeutig, und mit Zwischenböden versehen. So besehen wird die Sicht auf die Erwähnung der jüdischen Komponenten eben nicht nur beiläufig, oder lediglich beschreibend, sondern ebenfalls doppelzüngig. Es kommt nicht als Abtisemitismus daher, sondern es spielt damit, es deutet an. gerade so, daß man ausrufen kann. Hab dich nicht so. Es ist halt ein sehr gekonntes Spiel. Ein Spiel. mit antisemitischen Klischees.

      Das darf man. Auch in diesem Zusammenhang. Die Leute tun immer so, als ob der Antisemitismus verboten wäre. Wie denn. Antisemitische Äußerungen können derart sein, daß sie verboten sind. In die Herzen der Leute kann man nicht hineinsehen.

      Und damit kann man spielen. So besehen hätte Walser sehr viel mehr sagen können. Aber er hat es, aus Vorsicht unterlassen. Er hat etwas damit gespielt.

      Der gesamte Kontext ist wichtig.

      Das Buch von Walser ist schlecht. Aber das sagt noch nichts darüber aus, ob es nicht kunstvoll ist. Die Verschachtelungen des Autors, der Haupt- Handelnden, die Handlungen selber, das Denuntiatorische, davon abgezogen die Fakten, die Fiktionen, die Art des Todes, dann der eigentlich gemeinte Tod, das ist sehr gekonnt verwebt.

      Leider steht Walser jetzt mit beschlabberten Hosen da. Er hat gegen den Wind gepinkelt.

      Und wieder sind die Juden schuld.

      An der Börse nennt man das eine win-win Situation.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 15:56:40
      Beitrag Nr. 179 ()
      #178 Sep ,sicherlich trennen uns verstehungswelten und so ich dich richtig verstehe ist Walsers doppelzüngigkeit im buch, durch unterlassen ,das eigentlich besonders Perfide daran.
      "Er hätte viel mehr sagen können,hat es aber aus vorsicht unterlassen".Das ist sehr gekonnt verwebt von Dir sozusagen,
      liest du doch nicht ausgedrücktes als "tatsächlich" für dich vorhandenes.
      Sind ermutigende aussichten für Deutsche Schriftsteller, schlage vor Antisemitische Bücher für Sep in Zukunft durch unterlassen des kleinstenn hinweises zu schreiben,immerhin ist wenigstens Dir gelungen in Walsers Herz zu blicken.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 16:35:17
      Beitrag Nr. 180 ()
      @ Okto,

      Du hast mich natürlich nicht richtig verstanden. Wie auch.
      Ich habe überhaupt nichts gegen das Buch, außer das ich es nicht für besonders erbaulich halte.

      Ich habe nur darauf hingewiesen, daß ein Schriftsteller mit seinen Möglichkeiten arbeitet. Das ist doch auch in Ordnung, nicht wahr ?

      Und daß ein Teil dieser kunstvollen Art, sich mit Sachen auseinanderzusetzen, darin besteht, was Schirrmacher " das Spielen mit antisemitischen Klischees" nannte.

      Ich habe dieses " Spielen" versucht deutlich zu machen, an der doppelten Doppeldeutigkeit des Buchtitels.

      Wenn Du mal zwischendurch Dein Gebiß aus meinem Hosenboden entfernen würdest, dann hättest Du das auch verstanden.

      Ich befürchte - und das ist alles, was ich befürchte - daß dieses Buch nicht besonders gelungen ist. Vielleicht, weil Walser seine Mission nicht in einem offenen Schlagabtausch zu plazieren suchte, sondern eine mehr literarische, kunstvolle, und damit eben auch interpretationsbedürftige, in diesem Falle - diurch die verwendeten Stilmittel - zwangsweise am Scheitern entlang balanzierende Schilderung wählte.

      Interpretationen über mehrere Ecken bergen immer die Gefahr, mißverstanden zu werden. Und das Ergebnis habe ich in meinen Schlußzeilen untergebracht. Es ist für alle was dabei:

      Walser ist beschädigt.

      Und die Juden sind dann daran Schuld.

      Mir tut es um Walser leid, daß er hier sich hat gehen lassen. Ich hoffe, daß er das überwindet, und seinen Frieden, auch mit sich, machen kann.

      Was Du über mich schreibst, tangiert mich nicht, es ist nicht meine Welt.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 17:21:41
      Beitrag Nr. 181 ()
      @Sep
      ...dieses Buch nicht besonders gelungen ist. Vielleicht, weil Walser seine Mission nicht in einem offenen Schlagabtausch zu plazieren suchte, sondern eine mehr literarische, kunstvolle (...)Schilderung wählte.

      offener Schlagabtausch?
      wie hätte Walser denn dies Deiner Meinung nach anders machen sollen??
      MRR war es doch, der sich nie auf einen offenen Schlagabtausch einlassen mußte, oder?
      Schließlich waren die, die er im Quartett "niedergemäht" hat, aufgrund Abwesenheit und späterer mangelnder Medienaufmerksamkeit und -präsenz nie in der Lage, sich effektiv dagegen wehren zu können.

      Das Buch besteht doch gerade in der Kritik darin, daß es durch MRR`s Art, Kritik zu betreiben, eben nicht mehr zu einem offenen und ehrlichen, weil inhaltlichen Schlagabtausch gekommen ist.

      Walser geht gegen diese Inhaltslosigkeit an.
      In dieser Kritik ist er m.E. MRR "überlegen".
      Daß er persönlich beleidigt, läßt ihn auf gleiche Stufe oder darunter sacken.
      Die Heftigkeit dieses Walser`schen Schlages erkläre ich mir eben durch die Asymetrie des öffentlich gefochtenen Kampfes.
      Wie ein erster Befreiungsschlag eines Jugendlichen nach einer lange empfundenen Unterdrückung durch die Erwachsenenwelt.
      Das macht das Buch aber eben auch so pubertär. Versteht man den Walser`schen Gefühlszustand, nimmt man ihm das Buch nicht so übel.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 18:30:07
      Beitrag Nr. 182 ()
      das ist ja sehr spannend, was ihr (die ihr das buch bereits gelesen habt) da schreibt! da es auch rezensionen in zeitungen zu lesen gab, in denen das buch "besser" bewertet wurde, wird es wohl wie immer geschmackssache sein.

      interessant finde ich euren hinweis auf "ein buch muss gefallen". gerade gestern habe ich im radio diesen satz einer bildhauerin gehört: "kunst ist, was gefällt".
      ich bin nicht dieser meinung, aber ich sehe ein, wenn man ein erfolgreicher künstler sein will (autor oder wasauchimmer), dann MUSS das werk gefallen. man kann aber auch etwas schaffen, das nicht gefällt, und dennoch kunst resp. literatur ist. manchmal geschieht das, wenn künstler ihrer zeit voraus sind.

      die satanischen verse z.b. konnte ich nicht fertig lesen :eek:

      wie ich bereits am anfang dieses threads schrieb, hat MRR das buch `malina` "das werk einer schwerkranken frau" genannt ... als ich ganz am anfang der "walser-debatte" von ranicki las, dass er "tod eines kritikers" schlecht geschrieben fand, da fragte ich mich, ob walser das absichtlich gemacht hat, um MRR zusätzlich zu beleidigen: ein schlechtes buch über MRR geschrieben. wenn er wirklich, wie in manchen rezensionen steht, die medien spiegeln will, dann wäre eine schöne sprache wie perlen vor die säue werfen.
      Avatar
      schrieb am 17.06.02 18:36:32
      Beitrag Nr. 183 ()
      leary99 Du sagst am Ende ein paar Sachen, die sind fürchterlich richtig. Ich fange mit dem Ende deines Beitrages an:#

      „Wie ein erster Befreiungsschlag eines Jugendlichen nach einer lange empfundenen Unterdrückung durch die Erwachsenenwelt.
      Das macht das Buch aber eben auch so pubertär. Versteht man den Walser`schen Gefühlszustand, nimmt man ihm das Buch nicht so übel.“

      Genau so sehe ich das. Es zeigt einen sehr frühen Walser. Aber genau darüber werde ich hier nicht spekulieren. Dieser gesamte Komplex des Antisemitismus hat ja Verästelungen in die Art des Heranwachsens.

      Ich bin bereits kritisiert worden, daß ich zu psychologische Ansätze wähle..

      Jetzt zum Dissens. Du zitierst mich:

      >>>>
      ...dieses Buch nicht besonders gelungen ist. Vielleicht, weil Walser seine Mission nicht in einem offenen Schlagabtausch zu plazieren suchte, sondern eine mehr literarische, kunstvolle (...)Schilderung wählte.

      darauf Du:

      “offener Schlagabtausch?
      wie hätte Walser denn dies Deiner Meinung nach anders machen sollen??
      MRR war es doch, der sich nie auf einen offenen Schlagabtausch einlassen mußte, oder?
      Schließlich waren die, die er im Quartett "niedergemäht" hat, aufgrund Abwesenheit und späterer mangelnder Medienaufmerksamkeit und -präsenz nie in der Lage, sich effektiv dagegen wehren zu können.“

      <<<<<<<

      Das stimmt so nicht. MRR hatte vor einigen Jahren den Grass völlig fertiggemacht in einer Spiegel- Rezension. Und natürlich hat Grass darauf reagiert. Er war sehr betroffen. Es gab Leserzuschriften, Stellungnahmen, Presseecho, wie das bei einer coverstory des Spiegel eben so üblich ist.

      Was Grass nicht gemacht hat in seinen folgenden Auseinandersetzungen: er hat nie den privaten Hintergrund von MRR in die Scheinwerfer gezerrt, eben auch nicht den Hintergrund, welcher Walser seit seiner Paulskirchen- Rede angreifbar macht.

      Ich will nicht sagen, Walser hätte dies so tun müssen. Wer bin ich denn ? Ich habe nur gesagt, daß man dies auch anders hätte machen können. Und nun, nachdem Du fragst, wie dies denn hätte geschehen können: In der Art, wie Grass dies gemacht hatte.

      Allerdings, es wäre nicht der „Tod eines Kritikers“ dabei herausgekommen.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 18.06.02 01:20:34
      Beitrag Nr. 184 ()
      Suhrkamp erzürnt die deutschsprachigen Blogger
      Mann, mann, mann... da hat sich irgendeine Pappnase bei Suhrkamp aber ein dickes Ei gelegt. Nachdem der bekannte und geschätze Schockwellenreiter einen Link auf den ins Netz gewanderten, offiziell aber bisher unveröffentlichten, neuen Roman von Martin Walser gesetzt hatte, wurde ihm eine harsche Abmahnung zugestellt.

      Dass sich Suhrkamp auf so plumpe Weise der zweifelhaften deutschen Rechtssprechung bedient, zeugt von völliger Unkenntnis der Praxis und des Selbstverständnisses der erstarkenden Bloggerszene. Das freizügige verlinken im Netz befindlicher Inhalte gilt hier als ein Grundelement der verschieden Ausdrucksformen und Weblogformate.

      Dieses "Wespennest"schreib- und publizierfreudiger Individuen auf so dummdreiste Weise aufzumischen könnte sich als sehr, sehr unkluger Schritt für den Verlag erweisen. Es sollte mich wundern, wenn Suhrkamp nicht den einen oder andern Stachel der Blogger schmerzhaft zu spüren bekommen wird ...
      Avatar
      schrieb am 18.06.02 01:27:19
      Beitrag Nr. 185 ()
      Zur Information:

      Der Link funktioniert nicht mehr.

      Über Kazaa gehts nach wie vor.
      Avatar
      schrieb am 18.06.02 09:44:27
      Beitrag Nr. 186 ()
      aha! habe bereits gestern gelesen, dass im netz ein boykottaufruf gegen suhrkamp lanciert wurde..

      http://www.literaturcafe.de/

      dass die meisten verlage noch immer keine ahnung vom internet haben, das überrascht wohl niemanden `g` - wie sollen sie auch verstehen, dass sich jetzt jeder selbst `verlegt`?
      Avatar
      schrieb am 18.06.02 09:59:52
      Beitrag Nr. 187 ()
      @bigshorter:

      Da liegt ein Missverständnis vor. Kunst muss nicht gefallen.
      Aber sie muss mir gefallen, damit ich Geld für sie ausgebe. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.
      Ich würde dem Bildhauer, der ein hässliches Objekt schafft, nie vorwerfen, es sei keine Kunst. Ich würde das Objekt aber auch nicht kaufen.

      Die "Satanischen Verse" hätte ich nie und nimmer bis zum Ende gelesen, wenn damals nicht die Fatwa verhängt worden wäre. Gekauft hätte ich sie mir aber in jedem Fall. Schon aus Protest gegen die Fatwa.
      Avatar
      schrieb am 18.06.02 10:51:46
      Beitrag Nr. 188 ()
      schon gut rainer :laugh: der satz fiel mir nur auf, weil ich tags zuvor darüber nachgedacht hatte. und je länger ich darüber nachdenke, finde ich, dass man kunst nicht definieren kann.
      wenn die bildhauerin sagt: "kunst ist, was gefällt" - dann frage ich mich: ist alles, was gefällt = kunst? oder ist es keine kunst, wenn es nicht gefällt? blablabla lassen wir das, sorry.

      danke für den hinweis betr. kazaa, ich entdecke eine neue welt :laugh: ob ich jetzt walsers buch noch kaufen werde? vor allem, nachdem ich gestern meinen eigenen verlag gegründet habe?? http://www.bridge-the-gap.ch
      Avatar
      schrieb am 18.06.02 12:07:03
      Beitrag Nr. 189 ()
      Die Vorab- Aufmischung kommt an ihre Grenzen, dank Internet.

      Stimmt es eigentlich, daß Walser, 3 Monate soll es her sein, in einem Bunte-Interview einen Skandal angekündigt hat ?

      Die FAZ hat wohl darauf hingewiesen, daß es nicht klar ist, von wem sie das Manuskript zugesandt bekommen haben.

      Ich verdächtige wirklich niemanden, und es ist mir an den meisten gelegen, vor allem an Walser, aber auch an MRR.

      Ich halte sowohl einen Versuch der FAZ für denkbar, die Definitionsmacht zurückzuerhalten, angesichts der en Block Abwanderung einiger Journalisten zur Süddeutschen, als auch den umgekehrten Fall, was sich darin zeigen könnte, daß die Süddeutsche nebeneinander 3 gutmeinende Rezensionen von Walser veröffentlichte, genau von den Leuten, die vorher bei der FAZ in den Sack hauten,

      Wie auch immer: die aufgescheuchten Germanen haben sich, zum Teil wenigstens, im Internet bedient, um sich das ihnen vor die Nase gehängte Bild flugs selber machen zu können.

      Das finde ich eigentlich nicht schlecht. Pffffffff.

      SEP
      Avatar
      schrieb am 27.06.02 14:50:34
      Beitrag Nr. 190 ()
      Nun liegt die gedruckte Version des Buches vor und die Oberlehrer der Nation können sich nochmals richtig entrüsten. Ja, es ist ein antisemitisches Buch, so Reetsma.
      Bekanntlich (!) sei das Bild vom "geilen Juden" ein antisemtisches Stereotyp (?), das nun Walser verwende. Eine Frage hätte ich da aber schon noch: Ist MRR geil?

      aus Spiegel online von heute
      ---------------------------------------

      "Antisemitischer Affektsturm"

      Mit der Veröffentlichung des Romans "Tod eines Kritikers" gerät die Debatte um den vermeintlichen Antisemitismus Martin Walsers erneut in Schwung. Sowohl der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma als auch die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger kommen zu eindeutigen Erkenntnissen.


      Frankfurt/Main - Am gestrigen Mittwoch war es so weit: Martin Walsers Skandalroman "Tod eines Kritikers" wurde in einer Auflage von 50.000 Exemplaren endlich veröffentlicht und war, glaubt man den Angaben des Suhrkamp Verlags, fast sofort vergriffen. In den Feuilletons herrschte am Tag der Veröffentlichung Ruhe und Frieden, man hatte sich ja in den vergangenen Wochen schon reichlich über Walser und seine "Mordphantasie" ("FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher) echauffiert. Aber noch nicht genug, wie es scheint. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ("FAZ"), die den Vorabdruck des Romans mit einem spektakulären offenen Brief Schirrmachers an Walser ablehnte, veröffentlichte am Donnerstag noch einmal ein langes Stück zum Thema "Tod eines Kritikers".
      Der Hamburger Sozial- und Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat sich des umstrittenen Buches angenommen und es erneut auf etwaige antisemitische Tendenzen überprüft. Wie so viele Kritiker vor ihm kommt auch Reemtsma zu dem Schluss, dass es sich bei Walsers Werk zunächst um "literarische Barbarei" handele. Walsers Ansatz, die - wenn auch fiktionalisierte - Person Marcel Reich-Ranickis, der die Verfolgung durch die Nazis mit Glück überlebt hat, "zum Gegenstand einer literarischen Mordphantasie zu machen", sei eine "soziale Rohheit, die das Werk, in dem das geschieht, von vornherein disqualifiziert", so Reemtsma.

      "Das Bild vom geilen Juden"

      Laut Reemtsma vermischen sich in Walsers Roman "zwei Dinge", zum einen die persönliche Abrechnung des Autors mit dem Kritiker Reich-Ranicki, zum anderen die antisemitischen Ressentiments und Klischees, die Walser benutzt, um seine Romanfigur André Ehrl-König zu charakterisieren - alles auf Kosten der literarischen Qualität: "Das Grundanliegen Martin Walsers, Marcel Reich-Ranicki in absurder und bizarrer Gestalt mit höchstem Beleidigungswert in seinem Roman auftreten zu lassen, macht alle Bemühungen um eine annähernd komplexe Erzählstruktur zunichte", schreibt Reemtsma.

      Vor dem persönlich-diffamierenden Hauptanliegen Walsers treten laut Reemtsma alle anderen Elemente des Romans zurück und machen einem geradezu offen liegendem Antisemitismus Platz. Der Literaturkritiker werde von Walser nicht nur mit vielerlei Attributen (Sprache, schwarzer Hut, Plateausohlen) zum "Popanz" charakterisiert, die in den Fundus der jüdischen Karikatur-Klischees gehören, es gehe in "Tod eines Kritikers" auch nicht, wie Walser sagt, um die "Macht im Literaturbetrieb": "Tatsächlich zeigt es die obszönen Phantasien eines Autors über einen mächtigen Literaturkritiker. Dieser (...) ist, wie Marcel Reich-Ranicki, Jude", schreibt Reemtsma. "Bekanntlich gehört zum Kernbestand antisemitischer Stereotype das Bild vom geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist - besonders im Kulturbetrieb".

      Die persönliche Verletzung durch Reich-Ranicki gerate dem Kritik-empfindlichen Walser "zur Zerstörung der deutschen Literatur durch den mächtigen jüdischen Schädling, die Phantasien laufen Amok". Das sei, so Reemtsma, kein untypisches Muster: "Der Antisemitismus ist als Weltdeutungsmuster latent vorhanden; die Rage, in die einer gerät, wird zum antisemitischen Affektsturm." Martin Walsers Roman sei "die Folge einer durch Autosuggestion entstandenen Verstörung". Walser auf Grund dieser Erkenntnis einen Antisemiten zu nennen, wagt Reemtsma nicht, "aber er ist jemand, der ein antisemitisches Buch geschrieben hat", schreibt er.

      "Übles Buch"

      Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, eine langjährige Freundin Walsers, vertritt in ihrem offenen Brief, den die "Frankfurter Rundschau" am Donnerstag abdruckte, dieselbe Meinung. Klüger, selbst Jüdin, fühlt sich von Walsers Darstellung des Literaturkritikers "als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt, beleidigt." Die 1931 geborene Professorin akzeptiert zwar Walsers Rolle als Satiriker, der sich in seinem Roman der Karikatur bedient, bezichtigt ihn ob der Symbole, die er erschafft, jedoch als verantwortungslos: "Wenn er einen widerlichen Kritiker als Juden zeichnet, dann darf man wohl fragen, ob er damit so etwas wie die zerstörende Macht der Juden im deutschen zeitgenössischen Geistesleben meint", schreibt Klüger und bezeichnet "Tod eines Kritikers als "übles Buch".

      Die offenbar gewollte Vermeidung der nur in Andeutungen vorkommenden jüdischen Thematik mache Walsers Werk so verwerflich. "Der Judenmord, wie er in Deinem Buche steht, war immer nur eine Phantasie in den Köpfen Deiner fiktiven Schriftsteller, selbstredend Nichtjuden, die der jüdische Kritiker geschädigt hatte", schreibt sie. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, "die sich nun einmal nicht ausklammern lässt", sei die "komische Wiederkehr des nur scheinbar ermordeten Juden noch schlimmer als ein handfester Krimi mit Leiche", so Klüger.

      In seiner Unterschwelligkeit folge Walsers Darstellung des Literaturkritikers "einem geradezu klassischen Muster der Diskriminierung", schreibt Klüger weiter und zieht Parallelen zwischen Walsers Roman und Wilhelm Raabes Werk "Der Hungerpastor" von 1864, einem Klassiker der als antisemitisch geltenden Literatur. In der deutschen Gesellschaft beobachtet Klüger zudem einen Rückfall in den "guten alten Risches von 1910", die "gemäßigte Judenverachtung weiter Bevölkerungsschichten aller Klassen, mit der sich (scheinbar) leben ließe." Daran sei Walser nicht unbeteiligt. Er habe 1998 in seiner Friedenspreisrede "über eine Moralkeule gejammert, mit der Ungenannte Dich und andere Deutsche bedrohen", schreibt Klüger. Doch nun sei ihm die "heraufbeschworene Keule" in die eigenen Hände gerutscht.
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      schrieb am 27.06.02 15:56:44
      Beitrag Nr. 191 ()
      hier der Original-Artikel aus der FAZ von Jan Philipp Reemtsma:

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.2002, Nr. 146 / Seite 47


      Ein antisemitischer Affektsturm

      Wenn das Denken entgleist, führt der Haß die Feder: Über Martin Walsers umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" / Von Jan Philipp Reemtsma

      In der öffentlichen Diskussion um Martin Walsers neuen Roman "Tod eines Kritikers" haben sich zwei Dinge vermischt, die es auseinanderzuhalten gilt. Einmal ist der Roman eine Phantasie über einen prominenten Literaturkritiker, der Züge - freilich karikaturhaft verzerrt - Marcel Reich-Ranickis trägt. Dieser, so heißt es im Roman, sei ermordet worden, und zwar von einem zuvor im Zuge einer Fernsehsendung verrissenen Autor. Er ist dann doch nicht ermordet worden. Marcel Reich-Ranicki und seine Frau haben das Warschauer Getto und anschließend in einem Versteck überlebt, wie, das hat er selbst in seiner Autobiographie geschildert. Einen Menschen, der einen Mordversuch überlebt hat - man kann hinzufügen: nicht nur durch Mut und Geschick, sondern auch mit sehr viel Glück -, zum Gegenstand einer veröffentlichten Mordphantasie zu machen, ist eine soziale Roheit, die das Werk, in dem das geschieht, von vornherein disqualifiziert, es mag ansonsten beschaffen sein, wie es will. Darum konnte man, auch ohne es zu lesen, allein aufgrund der Informationen, die der Autor selbst gab, zu dem Urteil kommen, dies Buch sei eine literarische Barbarei.

      Auf den Vorwurf Frank Schirrmachers, der "Tod eines Kritikers" sei antisemitisch, hat Martin Walser empört geantwortet, wenn Schirrmacher dieses und jenes Attribut, das er, Walser, seiner "André Ehrl-König" genannten Zentralfigur mitgegeben habe, für typisch jüdisch halte, sei doch wohl er, Schirrmacher, der Antisemit. Wie kann ein - seine Essays beweisen es doch - im Denken nicht ungeübter Autor etwas so offensichtlich Unsinniges von sich geben? Folgte man Walser, wäre jeder, der eine "Stürmer"-Karikatur als antisemitisch identifiziert, selber ein Antisemit, weil er unterstellte, daß alle Juden krumme Nasen hätten. Wo das Denken so entgleist, sind, das lehrt die Lebenserfahrung, starke Emotionen am Werk, und man wird die Hypothese wagen können, daß sie auch im Buch ihren Ausdruck gefunden haben.

      Aber bevor diese Hypothese überprüft werden soll, muß etwas Technisches geklärt werden. Walser hat klar gesagt, daß Reich-Ranicki Material zur Figur des Ehrl-König gegeben habe, aber die Figur sei darauf nicht reduzierbar - auch Joachim Kaiser hat das betont. Die Frage ist also: Verhält sich Ehrl-König zu Reich-Ranicki wie sich Thomas Manns Figur Naphta zu Georg Lukács verhält? Es ist richtig, daß Thomas Mann nicht nur in diesem Fall das Spiel mit Ähnlichkeiten exzessiv gespielt hat, auch zuweilen über das Maß des mitmenschlich Vertretbaren hinaus, aber der Unterschied ist eklatant. Er besteht nicht nur darin, daß der "Zauberberg" ein großes Kunstwerk ist und der "Tod eines Kritikers" nicht. Wer immer den "Zauberberg" liest und nicht weiß, daß Naphta physiognomische Züge von Georg Lukács trägt, dem fehlt nichts bei der Lektüre, und auch für den, der es weiß, tritt diese, tatsächlich nicht sonderlich wichtige, Information schnell in den Hintergrund. Das liegt daran, daß Naphta eine in sich stimmige und geschlossene Figur ist und daß alles, was an ihm sonderbar oder befremdlich auf den Leser wirken mag, zur Steigerung einer bedeutungsvollen Individualität dient.

      Wer den "Tod eines Kritikers" liest, ohne die öffentliche Figur Reich-Ranickis zu kennen (und also seine Karikatur wiederzuerkennen), wird an der Figur Ehrl-Königs nichts weiter sehen können als einen zusammengeflickten Popanz jenseits aller Plausibilität. Für Naphta ist charakteristisch, daß sich, was immer zu seiner physischen wie intellektuellen Physiognomie als Material gedient haben mag, beim Lesen verliert und vom Text absorbiert wird. Für Ehrl-König ist charakteristisch, daß man diese Figur überhaupt nur dann versteht, wenn man einen zum Popanz gewordenen Reich-Ranicki stets vor Augen hat. Darum wirken alle übertriebenen, karikatur- oder farcenhaften Elemente und Attribute der Figur, als wären sie dem realen Reich-Ranicki zugehörig oder angehängt. Zugehörig wie der Hinweis, seine Sprache sei leicht parodierbar, und die Parodie der Sprache im Text selbst. Natürlich sagt Reich-Ranicki nicht "Literatür" und trägt auch keine gelben Pullover, aber wenn Walser seinen Ehrl-König so sprechen läßt und ihm einen gelben Pulli umhängt oder ihm am Ende das für ihn selbst, den Verfasser, charakteristische Kleidungsstück, einen "gewaltigen schwarzen Hut", aufsetzt, so wirkt das nicht wie ein Abweichen vom Vor-Bild, sondern wie ein ungeniertes Zurschaustellen der Freude darüber, diesen Popanz geschaffen zu haben und mit ihm anstellen zu können, was er will. Literatür, gelber Pulli, schwarzer Hut, Plateausohlen - und anderes mehr.

      Die Figur des Ehrl-König lebt nicht aus sich und nicht aus der ästhetischen Stimmigkeit der Komposition, sondern nur aus ihrem Beleidigungs- und Skandalwert. Allerdings sieht man dem Buch "Tod eines Kritikers" an, daß es mehr wollte, daß es eine gewisse Komplexität intendierte. Ein Kritiker verschwindet, aus den zurückgebliebenen Spuren - ein gelber Pullover und Blut - schließt man auf einen Mord. Ein Autor gerät unter Verdacht, sein Freund, der Verfasser des Buches, will dessen Unschuld beweisen und befragt diejenigen, die Ehrl-König und Hans Lach vor der vermeintlichen Tat gesehen haben, und allerlei andere, die die Person des Kritikers gut kennen, nach dessen Persönlichkeit. Am Ende stellt sich heraus, daß der Verfasser des Buches der verdächtigte Schriftsteller (mit dem seltsam imperativischen Namen Hans Lach) selber ist, der nun ein Buch über den Vorgang schreibt und dazu eine Art Außenperspektive einnimmt.

      Das Buch dreht sich um den Kritiker Ehrl-König, und er soll von allen Seiten beleuchtet werden, geschildert von denen, die ihn hassen, die ihn verachten, die ihn verehren. Das funktioniert nur nicht. Es funktioniert nicht, weil die Befragten mehr oder weniger alle dasselbe sagen und von ähnlichen Affekten getragen werden, nämlich denen des Autors. Das Grundanliegen Martin Walsers, Marcel Reich-Ranicki in absurder und bizarrer Gestalt mit höchstem Beleidigungswert in seinem Roman auftreten zu lassen, macht alle Bemühungen um eine annähernd komplexe Erzählstruktur zunichte. Es ist so, als umtanzten die Nebenfiguren den Popanz und behängten ihn unter den anfeuernden Rufen des Autors mit immer neuen, immer häßlicheren Versatzstücken. Welcher Art die sind, wird zu überprüfen sein.

      Walsers Versagen, jene Komplexität zu schaffen, die er sichtlich intendiert hatte, hat etwas Irritierendes. Walser schreibt wie übermannt. Als verfüge er nicht über seinen Text, sondern als führen ihm plötzlich kaum mehr kontrollierte Affekte in die Feder und führten sie ihm. Der Leser ist Zeuge eines Kontrollverlustes, der - siehe oben - sich auch außerhalb des Textes fortsetzt. Folge dieses Kontrollverlusts ist die Unfähigkeit, die intendierte literarische Form zu schaffen. Materiellen Ausdruck verschafft sich diese Aufgeregtheit in der eigenartigen Obszönität des Buches, genauer gesagt (da es ja Obszönität von literarischem Rang gibt): in der stupenden Schmierigkeit der Walserschen Phantasien.

      Es hilft nichts, hier muß aufgezählt werden. Ehrl-König wird vorgeführt, wie er auf penetrante Weise an einer jungen Schriftstellerin herumfingert. Sie heißt Cosima von Syrgenstein - die Namen wären ein Kapitel für sich - und wird natürlich des fan tutte wegen Cosi genannt. Später wird er mit ihr auf ein Schloß fahren und dort die Zeit, in der man ihn für ermordet hält, verbringen. Der Fernsehauftritt Ehrl-Königs wird geschildert "vom tröpfelnden Anfang bis zum prasselnden Ende", bis zum "Höhepunkt" respektive "Orgasmus", dem sich das Publikum "entgegenklatsche", "das sei ja auch jedes Mal die Tendenz der Ehrl-König-Selbstdarstellung. Er sinke dann zurück in seinen . . . Sessel", in dem er danach "kraftlos" und "fast erlöschend" spricht. Dieser Ehrl-König wird uns als ejakulierender Penis vorgeführt, bereits zu Beginn, und zwar von einem seiner Bewunderer, und wenn das dann später wie folgt daherkommt, dann kann der Verfasser sich nicht damit herausreden, das sei doch der Tonbandmitschnitt des Gesprächs zweier Betrunkener, der Schriftsteller Lach und Streiff, und als Rollenprosa zu relativieren. Denn in diesem Roman spricht immer nur eine Stimme: "Hans Lach: Seit dem Chaplindiktator hat noch keiner mehr so vor laufender Kamera rumgerudert und rumgebrüllt. Eine unbekannte Stimme: Jetzt reicht`s dann. Wieder Hans Lach: Man müsste mit den Kameraleuten reden, dass sie ihm einmal mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren, dass endlich mal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum ... Scheißschaum, gellte Bernd Streiff, das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der deutschen Literatür aufgeilt." Worauf die "unbekannte Stimme" sagt: "Ich geh` jetzt."

      Ich glaube nicht, daß das "Ich geh` jetzt" ein Trick ist, etwas wie eine eingebaute Scheindistanzierung. Es wirkt zu authentisch, so als redeten in einem Kopf mehrere Stimmen, und die Stimme, die die Selbstkontrolle repräsentiert, verabschiedet sich, und der Autor wundert sich in der Maske der ersten Person Singular über sich selbst. Wie heißt es im Buch: "Erzähler und Erzählter sind eins." Und: "Schriftsteller sind ununterbrochen (und ununterbrechbar) damit beschäftigt, ihr Alibi zu notieren. Diesmal fällt das Alibi aus." Der "Tod eines Kritikers" spricht sich deutlich aus, deutlicher sicherlich, als dem Verfasser lieb wäre, gewönne er Distanz zu seinem Buch und die Fassung wieder, die der Text verloren hat.

      So aber sind es die Leser, die mit zunehmender Fassungslosigkeit aus solchen Passagen in die Phantasie geraten, die Hans Lach über die Zukunft der Literaturkritik verfaßt: "Die E-O-Kultur war da. Wie bitte, fragte sie. Ejakulation und Orgasmus." In dieser Kultur "wurden die Kritiker wichtiger als die Schreibenden". Die wichtigsten Kritiker sind die "Großen Vier", ein literarisches Quartett, dessen Teilnehmer der "Aal", der "Affe", die "Auster" und "Klitornostra" heißen und einen Preis verleihen, der "PRICK" heißt (englischer Slang-Ausdruck für Penis). - Und so geht es bei den Autoren und den Kritikern zu: "Auch Onanieren kam vor. Aber nur der erste, der vor laufender Kamera lesend onanierte und ejakulierte, bekam den Publikumspreis. Dann auch die erste Autorin, die das öffentlich hinkriegte. Der Affe ließ sich von dem onanierenden Autor fast hinreißen, selber Hand an sich zu legen. Oder tat doch so. Ebenso Klitornostra, als eine Autorin sich selber bediente." Ohnehin sind die vier nackt. "Der Aal" - der "unübertreffbare Meister" im Preisen und Verreißen - "ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war Wirkung der Literatur. So oder so."

      Bei der Charakterisierung der Zentralfigur Ehrl-König geht es ohnehin vor allem um Penisfunktionen und -fehlfunktionen. So redet seine Frau über ihn: "Seine unbremsbare Ejakulation. Also, er ist die Nullbefriedigung schlechthin." Ehrl-König und einen seiner Exfreunde vereint eine folie à deux, die Behauptung, der jeweils andere verlasse den Raum, wenn von Prostata-Problemen die Rede sei. Seine sexuellen Vorlieben werden wie folgt geschildert: "Es hat sich nie um Frauen gehandelt, immer um Mädels. Oder auch um Mädelchen. Mädel oder Mädelchen, da hat er immer scharf unterschieden. Am liebsten waren ihm natürlich Mädelchen, aber wenn`s keine gab, nahm er auch Mädels. Frauen findet er langweilig. Unzumutbar. Besonders deutsche. Weibliches plus Schicksal, zum Davonlaufen! Aber schicksallose, ihres Aufblühens noch nicht ganz sichere Mädels oder Mädelchen, dann wisse er, sagte er, wozu er zur Welt gekommen sei." An anderer Stelle erfahren wir, Ehrl-König habe eine Vorliebe für Schwangere bis zum dritten Monat.

      Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Walser neben dieser oben zitierten Phantasie über die Literaturkritik als perverse, lüsterne, aber letztlich zeugungsunfähige Sexualität einen Gegenentwurf etabliert. Hans Lach, der Autor, hat ein Verhältnis mit der schönen Witwe seines Verlegers, den Walser im Roman sterben läßt. Daß auch hier Ähnlichkeiten mit Lebenden nicht zufällig, sondern beabsichtigt sind, hat sich herumgesprochen, ich kümmere mich darum weiter nicht. Dieses Verhältnis mit der schönen Verlegerswitwe, die immer aussehe, als sei sie gerade vom Pferd gestiegen, wirkt wie der wet dream eines Gymnasiasten: "Unsere geschlechtliche Praxis verlief ganz unter ihrer Regie. Sie bezeichnete mich da als Entwicklungsland. Das war mir recht. Sie war eine Virtuosin, die verbergen konnte, dass sie eine war. .. . Sie tat alles, als tue sie`s zum ersten Mal. Man wusste, dass das nicht sein konnte ... und ihr Körper war eine Art saturnisches Mirakel. Sie schien seit etwa ihrem vierzigsten Jahr keinen Tag älter geworden zu sein" - und so weiter. Diese adoleszenten Phantasien wären auch bei einem jüngeren Autor kaum erträglich. Wozu sie da sind, ist klar. Sie sollen eine Sphäre reiner Sexualität gegen eine der perversen abgrenzen. Aber wie anderswo auch, so hier: In der Verklärung der Reinheit offenbart sich die Lust am Schmutz.

      Laut Walsers Auskunft soll sein Buch von der Macht im Literaturbetrieb handeln. Tatsächlich zeigt es die obszönen Phantasien eines Autors über einen mächtigen Literaturkritiker. Dieser Literaturkritiker ist, wie Marcel Reich-Ranicki, Jude. Bekanntlich gehört zum Kernbestand antisemitischer Stereotype das Bild vom geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist - besonders im Kulturbetrieb. Er ist der Schuldige schlechthin an der Transformation der Kultur in den Betrieb, so wie Ehrl-König: "in der ganzen Literaturgeschichte habe keiner so viel Macht ausgeübt wie Ehrl-König, singen und sagen seine Chorknaben im DAS-Magazin." Aber er ist eben nicht die wirkliche Kultur, nur die "Operettenversion des jüdisch-christlichen Abendlandes". - Wenn der Verlegersgattin auf einer Auktion ein seltenes und wertvolles Buch, das letzte Exemplar, das noch auf dem Markt ist, weggeschnappt wird, so steckt hinter dem bietenden Strohmann ein gewisser Lessing Rosenwald. Und während der Jude Rosenwald sich heimlich die antiquarische Seite der europäischen Kultur aneignet, macht Ehrl-König die deutsche Gegenwartsliteratur hin, indem er Hans Lach verreißt, den amerikanischen Juden Philip Roth statt dessen preist. Er versteht nichts von deutscher Literatur, er versteht nur etwas vom Entertainment. "Er hat aus der Ästhetik eine Moral gemacht ... die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral." - "Er war die Macht und die Macht war er. Und wenn man wissen will, was Macht ist, dann schaue man ihn an: etwas Zusammengeschraubtes, eine Kulissenschieberei, etwas Hohles, Leeres, das nur durch seine Schädlichkeit besteht." Und: "er blieb im Giftigsein hängen". Denn er ist nicht produktiv, nicht einmal das, was er ist, ist er aus sich selbst.

      Denn im Grunde ist Ehrl-König, der giftige Schädling, "weniger als ein Schemen".

      Fortsetzung auf der folgenden Seite.

      und nur das Retortengeschöpf eines anderen, der ihm alles beigebracht haben soll - alles, das heißt "ein Repertoire von zwölf bis fünfzehn Sätzen ... dazu noch fünfzehn bis achtzehn Zitaten." Ohne diese Hintergrundfigur sei Ehrl-Königs Position im Literaturbetrieb nicht zu erklären, denn er sei als "ein Monsieur Nichts aus Lothringen in unser Land gekommen". Ehrl-König, Vorname André - fehlte der Akzent, wäre er der "Andre" -, ist Franzose. Reich-Ranicki, der ebenfalls einen französischen Vornamen trägt, ist aus Deutschland nach Polen deportiert worden, hat in Polen die deutsche Besatzung überlebt und ist nach Deutschland - "in unser Land" - auch nicht als der gekommen, der er heute ist. Die Insinuierung ist deutlich: Aus sich heraus schafft so einer das nicht, der eine nicht und nicht der andre. Aber was für einer ist "so einer"?

      Walser vertauscht die Himmelsrichtungen. Ehrl-König kommt aus dem Westen, nicht aus dem Osten. Als Hans Lach, der vom Schädling schlecht Besprochene, ihn anschreit, ab null Uhr werde zurückgeschossen, wird die Geographie wieder klar. Ehrl-Königs Vater war Bankier, aber es kursiert auch das Gerücht, er sei ein Pferdehändler gewesen. Was man als Jude so ist: Pferdehändler, Bankier oder im Kulturbetrieb. Jedenfalls sei der Vater "eine schauderhafte Gestalt, klein, dicklich, große Ohren, die Mutter hat er, als sie siebzehn war, geschwängert", der Sohn sehe aus wie er: die Ohren, "der stets das überentwickelte Kinn überwölbende Wulstmund", die "so kräftige wie feine Nase". Kräftige Nase muß sein, aber wieso soll das eine antisemitische Karikatur sein, höre ich jemanden einwenden, da steht doch "feine Nase"? Ebendarum. Weil es auffällt, daß da etwas fehlt am Klischee, fällt es auf. Immer wenn Walser etwas verbergen will, zeigt er es überall herum.

      Es gehört zum Diskurs des modernen Antisemitismus, Juden mit Nazis zu vergleichen. Die Erben der Täter entlasten sich, indem sie behaupten, die Erben der Opfer täten nichts anderes als jene. Walser hatte in der ersten, dieser Zeitung zum Abdruck angebotenen Fassung Ehrl-König mit Freisler und seine TV-Sendung mit der Reichsschrifttumskammer verglichen. Später, zu spät, hat ihm der Verlag wohl geraten, die beiden Stellen zu streichen. Aber der Drang zum Vergleich ist zu groß: statt Freisler ist es - siehe oben - der "Chaplindiktator", also gleich Hitler oder doch, pardon, natürlich nicht, sondern bloß dessen Parodie.

      Auch nicht unbekannt ist die Attitüde des Aufbegehrens: "Man wird doch wohl noch Juden kritisieren dürfen!", wobei diese Phrase den Unterschied der Kritik an jemandem, der zufällig Jude ist, verwechselt mit der Kritik eines Menschen, weil er Jude ist oder durch mehr oder weniger versteckte Anspielung darauf, daß er Jude sei. Im Roman wird irgendwann der vermeintliche Mord als Mord an einem Juden diskutiert, und "erst jetzt hatten die Medien ihr Saisonthema gefunden". Er läßt einen Journalisten sagen: "Wenn Ehrl-König ermordet worden wäre, weil er Jude gewesen sei, hätten die anderen Recht. Aber es sei ja noch nicht einmal sicher, ob Ehrl-König Jude gewesen sei. Er wisse an Ehrl-König nichts so sehr zu schätzen wie dessen Zurückhaltung in der Herkunftsfrage." Auch das geht nach dem Muster "gelber Pulli" und "feine Nase". Reich-Ranicki, ohne dessen öffentliches Bild das Wider-Bild des Ehrl-König nicht auskommt, ist eben nicht "zurückhaltend in der Herkunftsfrage", und eines seiner Verdienste um die politische Kultur der Bundesrepublik liegt genau darin. Die Passage sagt: "Man wird doch wohl noch einen Juden ermorden dürfen!", wenn man sagt, daß man es aus anderen Gründen tut. Aber nein, es ist ja alles ein Mißverständnis, denn er ist ja gar nicht umgebracht worden, das paßt gar nicht zu ihm.

      Umgebracht zu werden passe doch nicht zu Ehrl-König, läßt Walser dessen Frau am Ende sagen, und dies ist eine schlimme Anspielung - daß sie beabsichtigt ist, dürfte daraus ersichtlich sein, daß der vermeintliche Mord an einer Thomas-Mann-Allee stattfindet. Als der jüdische Schriftsteller Theodor Lessing, von Mann einst als "Schreckbeispiel schlechter jüdischer Rasse" geschmäht, 1933 in Marienbad von Nationalsozialisten ermordet wird, notiert dieser in sein Tagebuch: "Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir." Mit dieser Anspielung auf Thomas Mann jongliert Walser angesichts des von Nationalsozialisten beinahe ermordeten Reich-Ranicki.

      Die Sache wird noch erheblich schlimmer. Vor einigen Jahren haben wir gelesen, daß Marcel Reich-Ranicki für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hat. Die Transposition ins Westliche geht so: "Daß der Vater der Madame zuerst Privatsekretär Pétains und dann Geheimdienstchef des Vichy-Regimes gewesen sein soll, kann genauso in den Strauß der Gerüchte gehören wie das Gruselfaktum, Ehrl-König habe, um zu überleben, selber der Sureté zugearbeitet. Und: er habe zur Résistance gehört." Dies ist wirklich unerhört. Walser macht aus dem Überlebenden des Gettos den Klischee-Popanz des geilen, machthungrigen, aber in jeder Hinsicht impotenten, die deutsche Kultur ruinierenden Judenschädlings. Und er hängt der Karikatur dann noch das Gerücht an, entweder in der Résistance oder ein Nazi-Kollaborateur gewesen zu sein, der, um zu überleben, andere ausgeliefert habe. Reich-Ranicki war Übersetzer des "Judenrats", der das Warschauer Getto verwaltete.

      Auf Frank Schirrmachers "Offenen Brief", mit dem er begründete, warum die Frankfurter Allgemeine den "Tod eines Kritikers" nicht vorabdrucken werde, sagte Walser, ein Buch, das so wäre, wie Schirrmacher das seine vorstelle, würde er nie schreiben - er sei doch nicht verrückt. Tatsächlich fragt man sich während der Lektüre in zunehmendem Maße, was für eine Art Text man hier vor sich hat. Auch Joachim Kaiser, der die antisemitischen Muster des Textes partout nicht wahrhaben oder wahrnehmen will und dabei Walsers Argument wiederholt, daß, wer dies tue, selbst Antisemit sei, ist ein wenig beunruhigt: "in der zweiten Hälfte des Textes entgleiten Walser manchmal gewisse Passagen ins Rauschhafte".

      Wie über so vieles andere spricht sich der Roman selbst ganz unbefangen auch darüber aus. Als Hans Lach verhaftet wird, steht er zunächst unter Schock, dann gesteht er den Mord, und zwar in einem Zustand, den der Arzt so beschreibt: "ein kleines bisschen psychotisch dekompensiert". Eine Dekompensation ist die Überwältigung durch Affekte, ausgelöst von einem plötzlichen Kontrollverlust des seelischen Apparates. Die überbordenden Sexualphantasien, das unbefangene Umgehen mit antisemitischen Topoi, die Unfähigkeit, die intendierte Differenziertheit der formalen Komposition auch zu erreichen - all das zeigt, daß hier im Text - ich spreche nota bene über den Text - etwas geschieht, das mit diesem klinischen Ausdruck zu Recht bezeichnet werden kann.

      "Schizophren werde man", läßt Walser seinen Lach sagen, "wenn die andern einem anders begegneten, als sie dächten. Insgeheim redet man über einen wie über einen Wahnsinnigen, ins Gesicht hinein tut man so, als hielte man einen für normal. Da unsereins beides wahrnimmt, ist eine Verwirrung die Folge, eine nichts verschonende Desorientierung." Walsers Lach ist jemand, der zunächst habe damit rechnen können, von Ehrl-König positiv besprochen zu werden, sei dann aber schlimmer verrissen worden denn je. Walser läßt hier seinen Hans Lach das erleben, was er selber erlebt hat. Reich-Ranickis Walser-Kritiken fielen ja darum besonders gewichtig aus, weil sie stets ein bestimmtes Muster aufwiesen: "Große Begabung, großes Scheitern", bringt es Gustav Seibt in der SZ auf den Nenner, und: "Die regelmäßig konstatierte Fallhöhe erlaubte es dem Kritiker, diesen Autor immer besonders tief fallen zu lassen und besonders hart aufschlagen zu lassen." Wie sehr Walser seinen Lach mit sich selbst identifiziert, zeigt er daran, daß Ehrl-König im selben Atem, mit dem er Lach schmäht, Philip Roth lobt - wie in der Wirklichkeit geschehen, als anläßlich der Besprechung von "Jenseits der Liebe" Reich-Ranicki Walser und Philip Roth gegeneinanderstellte.

      Vielleicht muß man es sich so erklären: Walser, dessen Kritik-Empfindlichkeit sein Freund Joachim Kaiser als "fast pathologisch" empfindet, hat sich eine Romanwelt geschaffen, in der er sich erlaubt hat, seinem - ich zitiere noch einmal Kaiser - "wilden, vielleicht sogar mordlustigen Haß" freien Lauf zu lassen. Das, was seinem durch die Kritik verletzten und zwischenzeitlich verrückt gewordenen Hans Lach widerfährt, widerfährt Walser auf dem Papier. Er erlebt schreibend jene Dekompensation, die seiner Romanfigur von ihrem Arzt zugeschrieben wird. Die persönliche Verletzung gerät Walser zur Zerstörung der deutschen Literatur durch den mächtigen jüdischen Schädling, die Phantasien laufen Amok. Kein untypisches Muster. Der Antisemitismus ist als Weltdeutungsmuster latent vorhanden; die Rage, in die einer gerät, wird zum antisemitischen Affektsturm. Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" ist die Folge einer durch Autosuggestion entstandenen Verstörung.

      "Erlkönig" war in dem Roman "Ohne einander" der Spitzname des dort auftretenden Kritikers Willi André König gewesen, anspielend auf "in seinen Armen das Kind war tot"; das Kind: die deutsche Literatur. Der Spitzname ist nun zum Namen geworden. Ich glaube, er signalisiert vor allem eines: "Ehrl-König hat mir ein Leids getan". Das ist wohl so. Aber es entschuldigt nichts. - Es erklärt auch wenig. Denn jemand entwickelt ja nicht darum antisemitische Affekte, weil er sich von einem Juden gekränkt fühlt, sondern um sich den Kränkenden als kränkenden Juden zu imaginieren, muß ein antisemitisches Deutungsmuster schon vorhanden gewesen sein.

      Ist Walser darum ein Antisemit? Er ist niemand, dessen bisheriges Werk durch antisemitische Topoi geprägt wäre. Aber er ist jemand, der Roman belegt es, der ein antisemitisches Buch geschrieben hat.

      Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma ist Gründer und Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
      Avatar
      schrieb am 27.06.02 18:48:57
      Beitrag Nr. 192 ()
      Habe heute mal im Buchhandel reingeschaut, Hugebdubel.

      Man kann das Buch durchaus im Zehnerpack kaufen. Das es vergriffen, gar ein Renner sei, kann man also zumindest hier nicht sagen.

      Zum Reemtsma- Artikel.

      Man hört schon, daß wir uns wieder mit Argumenten auseinander setzen werden, wieso ein Zigaretten- Fabrikant, der sein Geld mit der Ruinierung der Volksgesundheit verdient, nicht seine Klappe hält.

      Danke, leary99


      SEP
      Avatar
      schrieb am 03.07.02 10:02:04
      Beitrag Nr. 193 ()
      Die Diskussion um Walsers Buch geht weiter und sie nimmt teilweise groteske Züge an. Die Gedankenpolizisten und Gutmenschen wollen nun unbedingt das antisemitische in Walsers Buch finden. Dabei können sie nicht mal richtig lesen, wie das Beispiel Reetsmas zeigt.

      3. Juli 2002, 02:07, Neue Zürcher Zeitung

      Walser und kein Ende
      Das Buch ist erschienen, die Debatte geht weiter


      Kurz bevor Martin Walsers «Tod eines Kritikers» vergangene Woche als Buch herauskam, hätte man - genug Naivität vorausgesetzt - glauben können, die Debatte sei zu Ende. Ein Geplänkel um mögliche letzte Korrekturen, ein Aufspiessen nachträglicher Abmilderungen des inkriminierten Werks, ja, das schien wahrscheinlich. Doch warum sollte allein das Erscheinen des Textes als Druckwerk zu neuen Fanfarenstössen führen? Alles schien gesagt, und der Initialdisput hatte sich längst zu einer Mehrfrontendiskussion erweitert: «FAZ» und «Süddeutsche» lagen im «Feuilletonkrieg» (Günter Grass); Karl Heinz Bohrer rieb sich wieder einmal an Jürgen Habermas; und die um Aufmerksamkeit buhlende «Welt» versuchte einen Schlagabtausch zwischen Jung und Alt zu initiieren, indem sie den literarischen Nachwuchs mit einer Frage provozierte: Wieso seien Siebzigjährige wie Grass und Walser noch immer für grosse öffentliche Erregungen gut, die Jungen hingegen nie?

      Mit dieser Auffächerung des Streits hätte es eigentlich genug sein können: Ende der Walser- Schirrmacher-Debatte, Rückkehr des Literaturbetriebs zu besseren Büchern. Eine schöne Hoffnung, deren Verwirklichung jedoch das Patt der Diskutanten entgegenstand. Walser war beschädigt, aber der zentrale Antisemitismusvorwurf gegen ihn hatte vielfachen Widerspruch gefunden. Der Chefankläger wiederum fand sich als Geltungsproblematiker gezeichnet, der um des spektakulären «Scoops» willen ein ihm anvertrautes Manuskript skandalisiert hatte. Triumphe sehen anders aus. Und so kam es, dass Thorsten Arend, Walsers Lektor bei Suhrkamp, am Vortag der Buchpublikation jede Hoffnung auf ein Debattenende mit einem simplen Satz zunichte machte: «Schirrmacher wird noch gewinnen wollen.» Das ist gewiss keine erschöpfende Sicht der Dinge, klingt aber plausibel.

      Für den neuerlichen Angriff auf Walser hat der «FAZ»-Herausgeber sein Bataillon um einen Fremdenlegionär verstärkt. Kein Redaktor des Frankfurter Blatts, sondern Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, richtete schweres Geschütz auf Walser: «Einen antisemitischen Affektsturm» diagnostiziert sein Artikel in Walsers Buch, und das ist härterer Tobak, als Schirrmachers offener Brief seinerzeit geboten hatte. Reemtsma hatte schon vor Wochen in der «Frankfurter Rundschau» Walsers Buch kurz und bündig als «literarische Barbarei» abgefertigt - ohne es zu kennen. Mittlerweile hat Reemtsma den Text gelesen und findet sich bestätigt.

      Allerdings ist er kein guter Leser, und noch weniger ein genauer. In seinem Bemühen, Walsers Buch das Spiel mit antisemitischen Klischees nachzuweisen, gibt er jeder heiklen Stelle die übelste aller möglichen Auslegungen. Zum Desaster gerät seine Behauptung, Walser mache aus der Physiognomie Ehrl-Königs alias Reich-Ranicki eine «antisemitische Karikatur», wobei ihm die Beschreibung der Nase besonders verdächtig ist. Doch die «so kräftige wie feine Nase», an deren Zeichnung Reemtsma unbedingt das antisemitisch Karikierende entdecken möchte, gehört gar nicht André Ehrl-König, sondern Hans Lach. Das hat der Hamburger Professor für Literaturwissenschaft ganz einfach übersehen.

      Zustimmen möchte man ihm, wenn er Walsers Buch als «soziale Rohheit» bezeichnet. Treffend auch Reemtsmas Urteil, die Figur des Ehrl-König lebe «nur aus ihrem Beleidigungs- und Skandalwert», wodurch des Autors Bemühen um eine komplexe Erzählstruktur scheitere. Das «Ding namens Ambivalenz», auf welches Walser sich so gern beruft, fehlt der Darstellung des verhassten Grosskritikers: «Es ist so, als umtanzten die Nebenfiguren den Popanz und behängten ihn unter den anfeuernden Rufen des Autors mit immer neuen, immer hässlicheren Versatzstücken.» Gut gesagt. Sein Hauptanliegen indes, am Gebrauch dieser Versatzstücke den Affektsturm Walsers als antisemitisch zu erweisen, hat Reemtsma keineswegs überzeugend durchgeführt.

      Es gehört wohl zur Natur der Suche nach inkriminierbaren «Stellen», dass ihre Beweiskraft vom Vorurteil des Betrachters abhängt. Diese Relativierung des Antisemitismusverdachts spricht Walser allerdings nicht frei. Es bleibt, aller Stellensuche vorausliegend, der grundlegende Einwand gegen ein konstitutives Element des Buches: Warum nur muss dort die jüdische Herkunft explizit werden? Hätte Walser nicht wie Bodo Kirchhoff in seinem «Schundroman» einfach darauf verzichten können?

      Walser pflegt zu sagen, sein Buch gehe ja gar nicht gegen den Kritiker als Juden, sondern gegen einen Übermächtigen des Literaturbetriebs, der zufällig Jude sei. Eine Freundin Walsers und ein ehemaliger Verehrer seines Werks, Ruth Klüger und Leon de Winter, beide sind sie jüdische Schriftsteller, haben sich - unabhängig voneinander, aber mit demselben Gedanken - mit dieser Argumentationsfigur auseinandergesetzt. In einem offenen Brief an ihren Freund, den die «Frankfurter Rundschau» publizierte, klagt Klüger, sie fühle sich von Walsers «Darstellung eines Kritikers als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt, beleidigt». Sie kennt Walsers Standardverteidigung gegen eine solche Klage und erwidert auf den Hinweis, das Jüdische sei doch nur zufällige Beigabe: «Der Zufall hat zwar seinen Platz in der Wirklichkeit, aber nicht in der Literatur. Sonst brauchten wird die Literatur gar nicht.»

      Weil die Literatur selbst im Schlüsselroman eine Sphäre sui generis bleibt, liefert der Umstand, dass ja auch das reale Vorbild, Marcel Reich-Ranicki, Jude ist, keine hinreichende Erklärung. «Unsinnig und ganz und gar ausserliterarisch» nennt Leon de Winter eine solche Überlegung. «Ein Roman ist keine zufällige Abbildung von Wirklichkeit, sondern Ergebnis wohlüberlegter Entscheidungen. Und in diesem Roman bleibt die Entscheidung für einen jüdischen Ehrl-König vollkommen unbegründet.» Weder Klüger noch de Winter gelangen zu dem Urteil, Walser sei ein Antisemit, keineswegs. Wohl aber legt ihr Fazit nahe, dass sein «vulgäres Buch» (de Winter) den Antisemiten in die Hände spielt.

      Für die zweite, an das reguläre Erscheinen von «Tod eines Kritikers» geknüpfte Etappe der Walser-Debatte gilt: Die Stimmen, die den Autor eines Spiels mit antisemitischen Klischees zeihen, haben zugenommen. Und sie gehören in der Mehrzahl Wissenschaftern, nicht Journalisten. Die Journalisten Peter von Becker («Tagesspiegel») und Tilman Krause («Die Welt») finden Walsers Buch weiterhin anstössig und misslungen, die Antisemitismus-Befunde aber konstruiert und grotesk. Anders Literaturprofessoren wie Klaus Briegleb und Jochen Hörisch oder der Psychoanalytiker Kurt Grünberg. Briegleb kehrt in einem Essay für die «Welt» hervor, «wie fixiert Walser auf ‹den Juden› als Kritiker ist», und argumentiert dabei, antisemitische Stimmungsmache gegen Reich-Ranicki sei schon innerhalb der Gruppe 47 Usus gewesen. Ebenfalls in der «Welt» nimmt Grünberg die «arbeitsteilig organisierte Produktion von Antisemitismus» in den Blick und weist auch Walser einen Montageplatz zu.

      Jochen Hörisch schliesslich meint in der «Frankfurter Rundschau», die «antisemitischen Ressentiments» in Walsers Roman könne nur überlesen, wer sie schamvoll übersehen wolle. Zum Beweis muss er allerdings zu ausserliterarischen Mitteln greifen, nämlich sich auf Reich- Ranickis Biographie beziehen und mit ihr gegen die Darstellung Ehrl-Königs protestieren. Alsdann verliert er noch ein Wort über die «vertrackten Momente» des Romans: dass die literaturkritische Praxis von Reich-Ranicki ja doch sehr treffend beschrieben sei, wäre Walsers Darstellung nicht so affektgeladen. «Denn MRRs Kritiken sind antiintellektuell, sentimental, naiv inhaltlich gepolt, bekenntnisfreudig, urteils- und verurteilungsbereit, einem festen und schlichten Schema unerschütterlich treu verpflichtet», schreibt Hörisch. Mit dieser Kennzeichnung dürfte auch Martin Walser vollauf zufrieden sein.

      Joachim Güntner
      Avatar
      schrieb am 04.07.02 10:16:27
      Beitrag Nr. 194 ()
      Nun hat sich ein anderer großer Kritiker zu Wort gemeldet. Kaiser weist die Antisemitismus-Vorwürfe zurück und findet, daß Walser ein gutes Buch geschrieben hat. Es sei briliant, leichtgewichtig, boshaft.

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      aus JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/02 05. Juli 2002


      "Logisch nicht zu halten"
      Der Kulturkritiker Joachim Kaiser über den jetzt erschienenen Roman „Tod eines Kritikers“ und die Vorwürfe gegen Martin Walser

      Moritz Schwarz
      Herr Professor Kaiser, das neue Buch Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ ist nun - der Suhrkamp Verlag hatte den Termin vorgezogen - in der letzten Woche erschienen. Sie haben den Roman in einem Aufsatz in der „Süddeutschen Zeitung“ gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus in Schutz genommen. Warum ist „Tod eines Kritikers“ kein antisemitisches Buch?

      Kaiser: Ich gebe zu, das Buch mit einer gewissen Ängstlichkeit gelesen zu haben, denn bekanntlich kann Martin Walser ziemlich „loslegen“. Natürlich ist dieses Buch ein Pamphlet, denn es ist von einem übermütigen Haß gegen einen Kritiker geprägt - nicht aber vom Haß gegen einen Juden. Und der Vorwurf des Antisemitismus ist heutzutage ein unerträglicher Vorwurf, den niemand auf sich sitzen lassen kann. Walser beschreibt einen Juden - André Ehrl-König alias Marcel Reich-Ranicki - als kritischen Intellektuellen, Egomanen und Showmenschen. Wenn nun jemand behauptet, das sei antisemitisch, weil typisch jüdisch, dann ist doch derjenige der Antisemit, weil er solche Muster im Kopf hat - nicht Martin Walser, der behauptet so etwas nämlich nicht.

      Sie sind ein persönlicher Freund sowohl Martin Walsers als auch Marcel Reich-Ranickis.

      Kaiser: Ja, und beide kennen sich schon aus der Gruppe’ 47 und leben nun schon seit 45 Jahren sozusagen literarisch nebeneinander her. Und mittlerweile sind sie wie ein altes Ehepaar, das ist wohl das Problem. Auf der einen Seite ist da Martin Walsers übermäßige Kritikempfindlichkeit, auf der anderen Seite Marcel Reich-Ranickis Hang zum Extremen. Ein alter „Streit“ zwischen Reich-Ranicki und mir: Ich werfe ihm immer wieder vor, daß er so wahnsinnig übertreibt. Bei ihm ist alles immer entweder „sehr gut“ oder „ganz schlecht“. Natürlich hält er mir dann vor, ich sähe das ganz falsch: Schon Lessing hätte festgestellt, der Kritiker müsse übertreiben! Doch ich meine, man neigt beim Argumentieren, wenn man ins Feuer gerät, schon von ganz alleine dazu, zu übertreiben, da kann man die Übertreibung nicht noch zusätzlich als ein Wirkungsmittel einsetzen. Es stoßen zwei Typen aufeinander: Hier der geistreiche alemannische Schwabe Martin Walser, dort der Berliner Intellektuelle Reich-Ranicki. - Ach, jetzt könnten Sie gewiß versuchen, mich in Verdacht zu bringen: Berliner Intellektueller? Das klingt doch so verdächtig jüdisch!

      Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die als erste den Antisemitismus-Vorwurf gegen Wal-sers Buch erhoben hat, ließ nun Jan Philipp Reemtsma das Buch als „antisemitischen Affektsturm“ qualifizieren.

      Kaiser: Reemtsma meditiert in einem „kilometerlangen“ Aufsatz in der FAZ über den Roman, den er übrigens ungewöhnlicherweise von vornherein verurteilt hatte, ohne ihn überhaupt gelesen zu haben. Eine Verlegenheit, aus der er sich am Anfang seines Artikels erst mal wortreich herauszuwinden versucht. Dann versucht er, Walser eines „Kontrollverlusts“ zu überführen, der seinen Antisemitismus offenbart. Auch der Schriftsteller Klaus Mann hat in seinem „Mephisto“ den Kniff des Schlüsselromans angewandt. Dabei war er schlau genug, Gustaf Gründgens nicht Gründgens, sondern Höfgens zu nennen. Dadurch konnte er mit der Figur frei umgehen. Dasselbe Recht muß man auch Martin Walser zugestehen, der Reich-Ranicki eben auch nicht Reich-Ranicki nennt, sondern Ehrl-König und ihn als Typus beschreibt. Natürlich hat die Figur viele Eigenheiten Reich-Ranickis, dazu gehört eben auch dessen jüdische Abstammung. Das hat aber nichts mit Antisemitismus zu tun.

      Kann es sein, daß Sie das „antisemitische Muster des Textes partout nicht wahrhaben wollen“, wie Reemtsma schreibt?

      Kaiser: Tatsächlich spielt doch der Umstand, daß Ehrl-König Jude ist, im Roman gar keine große Rolle. Warum sollte er also kein Jude sein? Walser karikiert den Literaturpapst Reich-Ranicki, nicht den Juden Reich-Ranicki. Antisemitismus wäre es, griffe Walser ihn wegen seines Judentums an. Wenn Walser aber aus Sicherheitsgründen darauf verzichtet hätte, daß Ehrl-König Jude ist, dann hätte man ihm wohl vorgeworfen, feige zu sein.

      Sie selbst sprechen in Ihrem Aufsatz in der „Süddeutschen Zeitung“ von einer „fast pathologischen Kritik-Empfindlichkeit“ Walsers und von seinem Buch als einem „literarischen Vergeltungsakt“. Woher diese Wut?

      Kaiser: Walser hat unter der Übermacht des „Literarischen Quartett“ sicherlich sehr gelitten. Ich weiß von ihm, daß er einmal unter einer Kritik derart zusammengebrochen ist, daß er einen Psychiater befragt hat, wie man ihm nur helfen könne. Zum Glück traf er auf einen vernünftigen Mann, der ihm sagte: „Damit müssen Sie schon selber fertig werden.“ Es ist natürlich auch so, daß es im geistigen Leben auch Auseinandersetzungen extremer Positionen geben muß, denn das ist es, was vorwärts treibt. Wie sagte Karl Kraus: „Wenn Haß nicht produktiv macht, dann ist es besser, gleich zu lieben.“ Hinzu kommt, der Kritiker ist schließlich der einzige Berufsstand, der für seine Fehler nicht bezahlen muß, ganz anders als Regisseure, Autoren und Verleger. Egal, wie sehr sich ein Kritiker irrt, wieviel Unheil er anrichten mag, es geschieht ihm in aller Regel nichts. Und das ist nicht gut für den Charakter.

      Auch wenn das Buch nicht antisemitisch ist, so kann man verstehen, daß es für Reich-Ranicki zutiefst verletzend sein muß.

      Kaiser: Ohne Zweifel! Ich würde so etwas nicht über mich lesen wollen. Gleichwohl darf man so etwas schreiben.

      Auch Reemtsma geht von einer tiefen Verletzung Walsers aus. Doch er diagnostiziert, „um sich den Kränkenden als kränkenden Juden zu imaginieren, muß ein antisemitisches Deutungsmuster vorhanden gewesen sein.“

      Kaiser: Der Vorwurf des Antisemitismus ist ein ganz gravierender Vorwurf, deshalb darf man ihn nicht nur irgendwie ahnen, sondern der Fall muß eindeutig sein! Antisemitismus stellte eine bösartige, absolute Haltung dar, die man klar benennen kann. Das ist bei Martin Walser nicht im entferntesten der Fall. Nun heißt es bei den Kritikern Walsers gern: „Wenn das nicht antisemitisch ist, was denn dann?“ Das will ich ihnen sagen! Beispielsweise: „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Antisemitismus ist nicht nur eine Nuance. Bedenken Sie doch nur, was Walser alles schon geschrieben hat: Den großartigen Auschwitz-Aufsatz im „Kursbuch“. Oder „Eiche und Angora“, oder das Stück „Der Schwarze Schwan“, eine Chiffre für „SS“. Dort nimmt er klar Stellung gegen die alten SS-Männer, die sich später als harmlose, feine ältere Herren geben. Walser hat sich also schon ernsthaft und seit Jahrzehnten mit dem Themen Deutsche Schuld und Antisemitismus beschäftigt, als andere noch kaum daran gedacht haben. Deshalb ist Martin Walser nun auch zu Recht empört über diese Vorwürfe.

      Gerne lavieren Walsers Kritiker: Er sei vielleicht kein Antisemit, aber er habe nun ein antisemitisches Buch geschrieben. So auch Reemtsma, der auf diese Weise versucht, seine weitergehenden Anschuldigungen „faktenmäßig“ abzustützen.

      Kaiser: Diese Konstruktion ist logisch nicht zu halten. Nein, ich würde es so formulieren, Walser hat ein Buch geschrieben, das man - wenn man bestimmte Urteile über Juden hat - für antisemitisch halten kann. Der angebliche Antisemitismus des Buches scheint mir also eher externen Ursprungs zu sein.

      Die Kritiker Walsers ziehen Muster aus dem Repertoire des Antisemitismus heran. Diese werden angelegt und dann wird befunden: Paßt!

      Kaiser: Das würde ich die klassische Beschreibung für selektive Wahrnehmung nennen. Das ist doch Blödsinn, diese Muster passen auch auf ganz anderes: Meine Mutter zum Beispiel heißt Abramowski, daher werde ich immer wieder für einen Juden gehalten. Diese Art vorzugehen, offenbart lediglich ein ganz verjauchtes Denken. Wo in diesem Roman steht denn: „Weil er Jude ist, ...!“ Das Problem bestand zunächst darin, daß Walsers Kritiker in der Presse meist alle gleich argumentieren: Denn kaum einer hat das Buch gelesen, einer bezieht sich mit seinem Urteil auf den anderen, der es aber auch wieder nur bei jemandem abgeschrieben hat.

      Der Vorwurf des Antisemitismus sagt also nichts über das Buch aus, sondern über diejenigen, die diesen Vorwurf vorbringen?

      Kaiser: Derart rigoros möchte ich das nicht formulieren. Deutschlands wahnsinnige Entwicklung im 20. Jahrhundert ist zweifellos Ursache enormer Reizbarkeit und höchst streitbarer Empfindlichkeit im öffentlichen Diskurs.

      Ist unser Begriff von „Streit“ zu eng, so daß wir immer gleich eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Aufklärung und Faschismus sehen?

      Kaiser: Nein, der Streit hat schlicht falsch angefangen: Der Roman lag noch gar nicht vor, da erhob Frank Schirrmacher in der FAZ schon den ungeheuren Vorwurf des Antisemitismus gegen Walsers Buch. Niemand konnte das Buch „gegenlesen“. Schirrmacher hat dabei geschickt formuliert: Das Buch enthalte ein „Repertoire antisemitischer Klischees“. Damit kann das Buch nun niemand mehr unbefangen lesen. Diese Debatte hat die Leser konditioniert: Die Leute lesen jetzt das Buch und suchen: „Ist das antisemistisch? Oder das? Oder das?“

      „Falsch angefangen“? Also alles nur ein medialer Unfall?

      Kaiser: Schirrmacher hatte natürlich das Recht zu entscheiden: „So geht das nicht, das bringen wir nicht!“ Man muß auch Verständnis für seine Situation haben: Brächte zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung einen solchen Schlüsselroman gegen mich, wäre ich auch empört. Reich-Ranicki gehört zur FAZ - klar, daß Schirrmacher sich zur Solidarität verpflichtet gefühlt hat. Wenn er das Problem auch anders hätte handhaben können.

      Sie sprachen zuvor vom „ungeheuren Vorwurf“ des Antisemitismus, nun von „Verständnis für die Situation Schirrmachers“?

      Kaiser: Er hätte vielleicht mit Walser telefonieren sollen, statt diesen Artikel zu schreiben. Aber Zeitungsleute haben eben ganz gerne Sensationen, das dürfte bei Ihnen auch nicht anders sein.

      Offenbart die Vorliebe, uns gegenseitig des Antisemitismus zu zeihen, nicht die Neurotisierung unserer Gesellschaft?

      Kaiser: Ja, allerdings finde ich diese Neurotisierung gar nicht so furchtbar schlimm. Sie ist mir lieber, als wenn man 1950 gesagt hätte: „Jetzt krempeln wir die Ärmel hoch und lassen das Gewesene einfach hinter uns.“ Daß die Menschen in Deutschland auf ein Ereignis wie den Holocaust hysterisch und forciert reagieren, sehe ich nicht negativ. Nur ein Beispiel: Der berühmte Schriftsteller Wilhelm Emanuel Süßkind, Vater von Patrick Süßkind, hatte in der Zeit des Nationalsozialismus eine relativ harmlose Kunst- und Literatur-Zeitschrift gemacht. Dennoch hat er sich dies nach 1945 so vorgeworfen, daß er mit Kunst und Literatur nichts mehr zu tun haben wollte. Statt dessen wurde er Politik-Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung - obwohl er von Politik wenig verstand. Er „bestrafte“ auf diese Weise also nicht nur sich, sondern auch seine Leser. Solche Fälle gab es zahllose, und sie sind mir immer noch lieber, als wenn man den Holocaust verdrängt.

      In den USA ist derzeit ein schwerer Streit um angeblich Israel-feindliche Berichterstattung der „New York Times“ entbrannt. Bei uns hat ein ähnlicher Anlaß im Fall Jürgen Möllemanns bald zu dem üblichen, häßlichen deutschen Antisemitismus-Gezänk geführt.

      Kaiser: Die Behauptung, daß die Deutschen die Kritik an Israel benutzen, um ihren Antisemitismus auszuleben, ist eben sehr schwer zu widerlegen. Und damit kommen Sie auch wieder auf das Walser-Problem: Wer einen jüdischen Kritiker kritisiert, muß Antisemit sein. Gegen diese Logik muß man sich wehren.

      Ein weiterer Vorwurf gegen Walsers neues Buch lautet, es sei literarisch schlecht. Allerdings hat das allzu oft den Unterton der Genugtuung.

      Kaiser: „Tod eines Kritikers“ erhebt wirklich nicht den Anspruch, hohe Weltliteratur zu sein. Es will nicht die Grenzen des Sagbaren erweitern. Dieses Buch ist sozusagen ein Unterhaltungsroman. Nun zu bemängeln, daß es sich bei dem Roman nicht um einen zweiten „Zauberberg“ handelt, wie Reemtsma das in der FAZ getan hat, ist, mit Verlaub, etwas dämlich. Es gibt aber auch faire Einschätzungen, die zu einem negativen Urteil kommen: Fritz Raddatz hat das Buch zwar in der Zeit gegen den Antisemitismusvorwurf in Schutz genommen, aber die Meinung vertreten, es sei literarisch miserabel. Diese Meinung teile ich allerdings nicht, denn Walser hat da schon so manches, den Literaturbetrieb entlarvende, sehr schön eingefangen. Ich möchte nur eines von vielen Zitaten, die ich zum Beleg anführen könnte, nennen: Außerordentlich gelungen ist etwa die Sentenz über Marbach: Bekanntlich sind alle Literaten stolz darauf, wenn sie in Marbach ins Literaturarchiv aufgenommen werden. Walser schreibt nun: „Marbach ist für relative Unsterblichkeit eine gute Adresse.“ Das ist doch zumindest enorm witzig.

      Das heißt, das Buch wird seinen eigenen Maßstäben gerecht und ist demzufolge ein gutes Buch?

      Kaiser: „Gutes Buch“ wäre zuviel gesagt. Ich halte es für ein interessantes Pamphlet. Nach meiner Meinung kann es schon Walsers Wesen nach keinen geglückten Roman aus seiner Feder geben. Walser ist im einzelnen phantastisch und es fällt ihm da oft mehr ein, als den meisten anderen. Ein bißchen gleicht er da Jean Paul, denn einen abgeschlossenen, „runden“ Roman bringt er irgendwie nie so recht zustande. Das ist zumindest meine Meinung, die aber auch falsch sein kann.

      Die immer wieder zu hörende Kombination, das Buch sei zwar „nicht antisemitisch, aber schlecht“, klingt oftmals wie eine Wiedergutmachung gegenüber der Gesellschaft dafür, daß man es doch nicht als antisemitisch bezeichnen konnte.

      Kaiser: Da ist sicherlich was dran, denn es werden natürlich oft ästhetische Urteile benutzt, wenn andere Urteile erwünscht, aber nicht möglich sind. Denn auf ästhetischer Ebene ist nichts „beweisbar“. Mag man Walser nicht, findet das Buch aber nicht antisemitisch, sagt man, es sei schlecht geschrieben. Doch das sollte man dann auch Punkt für Punkt plausibel belegen. Ich glaube, wenn die Leute den Roman jetzt lesen, werden sie dessen Qualitäten zu schätzen wissen; vor allem aber werden sie merken, wie brillant, leichtgewichtig, boshaft und hemmungslos das Buch im Grunde ist. moritz Schwarz
      Avatar
      schrieb am 12.07.02 01:16:30
      Beitrag Nr. 195 ()
      Die Rainerseppelkühe scheinen ziemlich aus dem Tritt geraten zu sein.

      Stellen sie doch sonst immer mit flinker Rabulistik alles und Jeden auf den Kopf, im handumdrehen und exakt - anders als "Bild", die halten immernoch pluß/minus 5° ein - klappt jetzt nichts mehr.

      Jetzt scheinen sie an Grenzen zu stoßen: die Schablone des Fiebertraums des Hieronymus B. Schirrmacher mit dem Walserschen Drahtverhau zur Deckung zu bringen.

      In ihrer unübersehbaren Ratlosigkeit bedienen sie sich ewiger abendländischer Denkgesetze um Textexegese zu betreiben, nichtmal, um das dann sich ergebene Bild wieder auf den Kopf zu stellen.

      Im Stile von Altphilologen, in attischen Perioden, das Procedere genau einhaltend, versuchen sie zu analysieren. Auch mit runder Lupe ist nichts Rechtes (im Sinne von richtig) zu erkennen. Wird also alles nichts.

      Ob die Handgemeinschaft mit abendländischer Denke aber nicht Sünde ist.


      Dabei ist doch alles so einfach. Muß also ein Goij erst den richtigen Weg zeigen.

      So wird entlarft, so wird festgenagelt:

      Walser produziert bewußt Drahtverhau; Drahtverhau assoziiert KZ; KZ = Nazi; Nazi = Hitler; Hitler = Walser, nein umgekehrt: Walser = Hitler.

      Na, was sagt Ihr nun? Es geht doch!
      Avatar
      schrieb am 12.07.02 11:20:37
      Beitrag Nr. 196 ()
      zurück zum Thema:

      Was ich empfinde

      Über eine neue deutsche Mordphantasie, München und den Geist der Erzählung:
      Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde / Von Marcel Reich-Ranicki

      Vor mehr als eintausend Festgästen ist Marcel Reich-Ranicki am Mittwoch in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden. In der Ernennungsurkunde werden Reich-Ranickis Verdienste um die Literatur und die Literaturkritik und seine Lebensgeschichte gewürdigt: "Marcel Reich-Ranicki gehört zu den Zeitzeugen, welche die Hölle tiefster Erniedrigung und unmenschlichen Leides überlebt haben." Ihre Botschaft sei Auftrag, gegen Gewalt und Gefühllosigkeit einzutreten. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Frühwald beschrieb Reich-Ranicki in seiner Laudatio in der Nachfolge der Brüder Schlegel. Der Kritiker habe es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Existenz der Literatur zu verteidigen: "Durch Deutlichkeit, durch Konkretion, durch die Erweckung von Vergnügen am Lesen, auch dazu dient das Bündnis von Philologie und Kritik, an dem Marcel Reich-Ranicki lebenslang gearbeitet hat, und niemand müßte dies besser verstehen als die Poeten." Mit seinem "Literarischen Quartett" habe er über die Kritik der Literatur ein Millionenpublikum erschlossen, das sich sonst in Scharen von der Literatur und vom Lesen abwende. Für das Vergnügen am Lesen habe in den vergangenen vierzig Jahren in Deutschland niemand mehr getan als Marcel Reich-Ranicki. "Das allein schon ist einen Ehrendoktor wert", sagte Frühwald. Reich-Ranicki ging zu Beginn seiner Dankesrede auch auf Martin Walsers jüngsten Roman ein, den er als "trübes Symptom" der jüngsten Entwicklungen in Deutschalnd scharf verurteilte. Was am Rande der Veranstaltung nicht nur Reich-Ranicki, sondern alle bewegte: Der einzige Verteidiger Walsers von Rang, Joachim Kaiser, leitender Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", hat massiv nachgelegt. Er wählte als Forum diesmal nicht die Literaturseiten des eigenen Blattes, sondern die Zeitung "Junge Freiheit", in der unlängst Jamal Karsli die These vom weltweiten "Einfluß der zionistischen Lobby" auf die Medien propagiert hatte. (F.A.Z.)


      In angelsächsischen Ländern wird dringend empfohlen, eine Rede mit einem Scherz zu beginnen. Ich bitte um Entschuldigung, denn ich kann diesen Ratschlag hier und heute nicht befolgen. Mißverstehen Sie mich nicht: Ich habe nicht plötzlich meinen Humor eingebüßt, ich möchte auch niemandem die gute Laune verderben. Aber jubeln und jauchzen kann ich nicht. Und ich kann nicht verheimlichen, was ich in diesen Wochen in dem Land empfinde, dessen Bürger ich bin: Ich empfinde Verachtung und - Angst. Das sind große Worte, ich weiß es. Aber ich kann sie nicht mildern oder gar zurücknehmen.

      Ein Autor, der von einem Kritiker mehrfach ungünstig und vielleicht auch gelegentlich boshaft beurteilt wurde, holt zum Gegenschlag aus. Das ist in der Geschichte der Literatur unzählige Male passiert. Ein Grund zur Aufregung ist das nicht. Jeder kennt Goethes Gedicht, das mit den Worten endet: "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." Damals wurde sofort verstanden, wogegen dieser Aufruf gerichtet war - gegen die Kritik als neuetablierte Institution des literarischen Lebens. Goethe wurde nicht ganz ernst genommen, man hielt ihm seine Jugend zugute.

      Auch dem Erzähler vom Bodensee, der freilich keine Ermäßigung für Jugendliche in Anspruch nehmen kann, da er über fünfundsiebzig Jahre alt ist, hätte man ein hartes Wort gegen seinen Kritiker gewiß verziehen. Nur hat er nicht ein freches Gedicht geschrieben, sondern einen ganzen Roman, und dessen Fazit lautet nicht etwa "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent", sondern "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Jude." So lese ich diesen Roman, anders kann ich es nicht.

      Was ist so schrecklich an diesem Buch? Einen Autor, der im "Dritten Reich" aufgewachsen ist und, wie er uns selber berichtete, im nationalsozialistischen Geist erzogen wurde, überkommt die Wut: Er kann seine Affekte nicht mehr beherrschen. Das ist zunächst einmal abstoßend.

      Daß aber dieser Autor tatsächlich glaubte, jetzt, gerade jetzt sei in der Bundesrepublik Deutschland endlich der Augenblick, seinem Haß freien Lauf zu lassen - das ist das Beunruhigende, das Gefährliche. Mehr noch: Daß manche Journalisten und vereinzelte Germanisten mit dem Mann vom Bodensee gemeinsame Sache machen, daß ein bekannter Münchener Kritiker, den ich zu meinen Freunden zählte, sich nicht entblödet, diesen Roman zu verteidigen und zu loben, daß der Suhrkamp-Verlag, dessen Chef und Mitinhaber, Siegfried Unseld, sich rühmte, in seinem Haus sei "wie an keinem anderen Ort die unvergleichliche Produktivität einer letzten Generation deutsch-jüdischer Gelehrsamkeit" konzentriert, dieses schändliche Buch verlegt hat und an ihm jetzt ein Vermögen verdient - das alles, ich gebe es zu, erfüllt mich mit Trauer und eben auch mit Angst.

      Was hat sich geändert? Die oft beschworene Ära der Suhrkamp-Kultur ist abgeschlossen, es wird sie nie wieder geben. Der Ruf dieses Hauses ist in hohem Maße beschädigt, der Verlag ist besudelt. Wir werden uns damit abfinden. Die Publizisten und einige wenige Publikationsorgane, die ebenfalls besudelt dastehen, werden weiterwirken, natürlich. Auch damit werden wir uns abfinden, und es fällt nicht sonderlich ins Gewicht, wenn man bedenkt, daß in den meisten Blättern, vor allem in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in der "Frankfurter Rundschau", im "Spiegel" und in der "Literarischen Welt" ausführliche Artikel erschienen sind, die den Roman aufmerksam analysieren und empört zurückweisen.

      Wo also, frage ich noch einmal, ist der Grund zur Angst und zur Trauer? Ganz einfach: Schon sind rund hundertfünfzigtausend Exemplare dieses Buches im Umlauf, eines Romans, der gegen die Juden hetzt, der, hier und da dem Vorbild des "Stürmers" folgend, Ekel hervorrufen möchte. Welche Folgen werden sich daraus ergeben? Ich weiß es nicht, denn ein solcher Roman ist nach 1945 in deutscher Sprache noch nicht veröffentlicht worden. Ich weiß es nicht, ich fürchte mich. Ich bin nun 82 Jahre alt, doch der Autor vom Bodensee kann sich nicht damit abfinden, daß ich noch lebe und arbeite. Er kann sich ja ausrechnen, daß das nicht mehr lange dauern wird. Aber er ist auf grausame Weise ungeduldig.

      Und wie viele Nachahmer werden diesem Autor folgen? Schon hat sich ein Trittbrettfahrer zu Worte gemeldet, und es könnten sich noch andere an dem schmutzigen Erfolg beteiligen wollen. Wenn ein solches Buch, das man doch als trübes Symptom verstehen muß, in Deutschland im Jahre 2002 möglich ist - was kann da noch möglich sein? Das frage ich. Und ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich mir erlaubt habe, in dieser festlichen Stunde von jenem dubiosen und düsteren Buch zu sprechen, das vom Ufer des Bodensees kommt und nun in ganz Deutschland verbreitet ist. Diese neue deutsche Mordphantasie hat meine Frau und mich, das darf ich doch sagen, tief getroffen.

      Jetzt aber ist höchste Zeit, sich dem Anlaß zuzuwenden, der uns heute hier zusammengeführt hat. Ich danke vom Herzen dem Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München für die hohe Auszeichnung, die mir zuteil wird. Ich danke jenen, die an diesem Beschluß beteiligt waren, ich danke ganz besonders Wolfgang Frühwald für seine schöne, seine nachdenkliche Lobrede.

      Doch will ich nicht verheimlichen, daß sich zur Freude über diese hohe Ehre gleich eine gewisse Verlegenheit gesellte. Seine Magnifizenz, der Herr Rektor Heldrich, sagte mir, daß man von mir eine Dankrede erwarte, möglichst vierzig Minuten lang. Ich fragte schüchtern nach dem gewünschten Thema und bekam zu hören, dies sei nun ganz mir überlassen. Sie erwarten vielleicht, bemerkte ich scherzhaft, daß ich das Thema "München leuchtete" wähle. Kaum war mir das Wort entfahren, wollt` ich`s im Busen gern bewahren. Doch schon war es zu spät. Denn Magnifizenz sagte rasch, dies sei in der Tat das allerbeste Thema, darüber müsse ich unbedingt sprechen. Da war`s um mich geschehn, da steh` ich nun, ich armer Tor - und muß über München reden.

      Nun, ich will nicht sagen, ich sei ein extrem wortkarger und schweigsamer Mensch. Aber München kenne ich kaum. Als ich, beinahe noch ein Kind, jene Novelle Thomas Manns las, die mit den berühmten Worten beginnt, übrigens eine seiner schwächsten Geschichten, da habe ich mir die Frage, wer oder was in München leuchtet, noch gar nicht gestellt. Es konnte ja nur, meinte ich, die Sonne sein. Aber das trifft eben nicht zu.

      Wie sie in München leuchtet, genauso versieht die Sonne ihren Dienst in Wien oder in Stuttgart. Sie scheint über Gerechte und Ungerechte, sie ist gleichgültig und gnadenlos. Als im Warschauer Getto tagaus, tagein Tausende und Zehntausende in stinkende Viehwaggons gepeitscht wurden, um zu den Gaskammern gebracht zu werden, was tat da die Sonne? Nun ja, sie tönte, wie es ihre Art ist, nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, sie strahlte vom frühen Morgen bis zum späten Abend - ununterbrochen und unbarmherzig. Nie habe ich an der Weichsel herrlicheres Wetter erlebt. Ich habe damals, so kindisch oder kurios dies auch klingen mag, die Sonne gehaßt.

      Und wie war das denn vor genau hundert Jahren, im Juli 1902, als Thomas Manns Novelle "Gladius dei" zum ersten Mal gedruckt wurde? Das habe ich erst erheblich später begriffen, als ich einen zu wenig bekannten Roman Thomas Manns las, den raffiniertesten und prächtigsten Unterhaltungsroman, den ich kenne, den "Erwählten". Das Buch beginnt mit "Glockenschall" und "Glockenschwall" über der ganzen Stadt. Aber wer - fragt der Erzähler - läutet die Glocken? Denn die Glöckner sind an jenem Tag, wie alles Volk, auf die Straße gelaufen, die Glockenstuben sind leer. Wer also läutet die Glocken Roms? Thomas Mann antwortet klar: Es ist der Geist der Erzählung.

      Genauso ist es um München in der Novelle "Gladius dei" bestellt. Also: Es stimmt schon, in München lag alles, wie es bei Thomas Mann heißt, "in dem Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages", und es "spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide". Ja, tatsächlich war es anders als in Wien oder in Stuttgart oder sonstwo, aber es war in München anders nur deshalb, weil Thomas Mann es so wollte. München leuchtete, jawohl, doch nur deshalb, weil es dem Geist der Erzählung gefiel, München leuchten zu lassen.

      Meine Vorstellung von München wurde erst einmal von der Literatur geprägt. Denn es ging meinen Eltern schlecht, die Bahnreise nach München konnten sie mir nicht spendieren. Aber ich las viel, ich las auch den Münchener Autor Lion Feuchtwanger. Wenn die Rede auf seine Vaterstadt kam, nahm er kein Blatt vor den Mund. Er war ein Schriftsteller mit Witz und Pfiff, nur näherte er sich bisweilen dem Albernen, und hier und da hat ihn sein Geschmack im Stich gelassen. In Bayern jedenfalls hatte man wenig Sinn für Feuchtwangers Humor, und man nahm ihm vor allem sein Hauptwerk übel, den Roman "Erfolg" aus dem Jahre 1930.

      Dieses München-Buch spielt in der Geschichte der modernen deutschen Literatur eine immer noch unterschätzte Rolle. Es demonstrierte, seinen Schwächen zum Trotz, neue Möglichkeiten, den Alltag der Großstadt, ihren Rhythmus und ihre Atmosphäre mit den Mitteln der Epik bewußt und spürbar zu machen. Die Modernität hätte man Feuchtwanger schon verziehen, nicht aber den Spott, mit dem er die Bewohner dieser Stadt überschüttete. Neben den vielen scharf verhöhnten Figuren im "Erfolg" gibt es nicht wenige, die Feuchtwanger bewundert und liebevoll behandelt - und auch die sind allesamt Münchener. Die heimliche Liebe des Juden Feuchtwanger zu Bayern fand keine Gegenliebe. Mitte der zwanziger Jahre wurde für ihn die antisemitische Atmosphäre in der Stadt, die sich zum Zentrum des Nationalsozialismus auswuchs, unerträglich, ähnlich wie ein anderer deutsch-jüdischer Schriftsteller von Rang, wie Arnold Zweig, ging auch Feuchtwanger von München nach Berlin.

      1933 - er war schon im Exil - hat ihm die Ludwig-Maximilians-Universität seinen Doktorgrad aberkannt. Zu einer Versöhnung zwischen Feuchtwanger und München ist es nie gekommen. Den Doktortitel hat man ihm zwar wieder zuerkannt, aber erst sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Offenbar hat sich die Universität nur einer lästigen Pflicht entledigt, denn er wurde nicht etwa eingeladen, seine Geburtsstadt aus diesem Anlaß zu besuchen, ja, man hat ihn überhaupt nicht informiert: Die neue Urkunde fand Feuchtwanger überraschend in seiner Post.

      Vielleicht sollte man diesem Umstand keine sonderliche Bedeutung beimessen, gleichwohl ist er symptomatisch. An den Schriftstellern, die man 1933 verjagt hatte, war man nach 1945 in den westdeutschen Ländern nicht interessiert. Wer nicht in die DDR gehen wollte - wie es Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig und einige andere taten und wie es Heinrich Mann jedenfalls beabsichtigte -, hatte in Deutschland nichts zu suchen. Feuchtwanger blieb in den Vereinigten Staaten, Remarque und Zuckmayer entschieden sich für die Schweiz, Döblin kehrte nach Frankreich zurück.

      Und wie war es mit ihm, der in den Jahren der deutschen Schuld und Schande das deutsche Gewissen verkörperte, mit ihm, der Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück war, mit ihm, der während des Zweiten Weltkriegs zur weithin sichtbaren Gegenfigur zu Adolf Hitler wurde? Thomas Mann hatte in den Jahren der Weimarer Republik freundliche und anerkennende Worte für München, er rühmte das Münchener Gemüt, aber er wußte auch, daß der Weg vom Gemüt zur Gemütskrankheit bisweilen nur kurz ist. Wenn das deutsche Gemüt nicht vom Verstand kontrolliert wird, dann könne es, Thomas Mann hat es schon 1926 erkannt, eine große Gefahr werden, ja eine "Weltgefahr". Daß München die "Hauptstadt der Bewegung" wurde, das konnte also Thomas Mann am wenigsten überraschen.

      Verwundern mußte es ihn aber, wie sich sein Vaterland nach dem Zweiten Weltkrieg ihm gegenüber verhalten hat. "Deutschland ist mir in all diesen Jahren" - schrieb Thomas Mann - "doch recht fremd geworden." Es sei "ein beängstigendes Land". Das änderte sich nicht, es blieb für ihn ein beängstigendes Land, denn niemand gab sich Mühe, Thomas Mann von seiner Furcht zu befreien. Natürlich, es war die Zeit des Kalten Krieges, und Thomas Mann war zu der von ihm verlangten Pauschalverurteilung der DDR nicht bereit. Gleichwohl ist es heute unbegreiflich, daß er auf den von ihm insgeheim erhofften Ruf nach Deutschland vergeblich wartete.

      München vor allem, München, das er in seiner Prosa leuchten ließ, München, das ihn 1933 als "Wagnerverächter" verjagt hatte, München hätte alles Denkbare tun müssen, um dem bedeutendsten Schriftsteller, der je in dieser Stadt gelebt hat, die Heimkehr zu ermöglichen. Ob solche Bemühungen erfolgreich gewesen wären, steht auf einem anderen Blatt. Daß sie aber ganz unterlassen wurden, ist und bleibt eine Schande, für die es viele Gründe geben mag und für die es letztlich keine Entschuldigung gibt.

      Und hat man sich in Bonn über jenen Gedanken gemacht, der Deutschland in schwierigster Zeit vor der internationalen Öffentlichkeit repräsentiert hat? Im April 1948 hat der bayerische Staatssekretär für die Schönen Künste, Dieter Sattler, Thomas Mann in Pacific Palisades besucht. Unter anderem bat er Thomas Mann, einen Aufruf an Schriftsteller und Künstler zu initiieren, der sie zur Rückkehr bewegen sollte. Thomas Mann war für diese Idee verständlicherweise nicht zu haben, sie schien ihm zumindest verfrüht. Recht hatte er, denn die westdeutschen Landesregierungen haben in ihrer Mehrheit einen solchen Aufruf keineswegs befürwortet.

      Im Sommer 1949 war Sattler beim Bundeskanzler Adenauer. Er versuchte ihn zu überzeugen, daß es sich schicke, ja, daß es sich dringend empfehle Thomas Mann zu bitten, nach Deutschland zu kommen, sich in Deutschland niederzulassen. Sattler gab auch dem Bundeskanzler zu verstehen, daß eine solche Einladung und Bitte mit keinem Risiko verbunden wäre. Zwar erwäge Thomas Mann die Rückkehr nach Europa, doch nicht nach Deutschland. Adenauer indes war an der Sache nicht im geringsten interessiert, er sprach damals die denkwürdigen Worte: "Dieser Thomas Mann, der paßt doch besser in die Soffjetzone."

      Dabei ist es geblieben: Deutschland und Thomas Mann haben sich nie versöhnt. Aber sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum im zwanzigsten Jahrhundert verstehe, dann antwortete ich, ohne zu zögern: Deutschland - das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Sie symbolisieren die beiden Möglichkeiten des Deutschtums.

      1963 hatte ich in München einen Vortrag zu halten, der hier in dieser Aula stattfand. Ich begann mit den Worten: "Zum ersten Mal spreche ich der Stadt, in der die N.S.D.A.P. gegründet und der "Zauberberg" geschrieben wurde." Der plötzliche, mich überraschende Beifall des vorwiegend jugendlichen Auditoriums ließ mich vermuten, daß ich nicht etwa - wie ich meinte - etwas Banales, sondern offenbar etwas Ungewöhnliches gesagt hatte. Denn es war damals nicht gerade üblich, in der Aula dieser Universität an die düstere Vergangenheit zu erinnern.

      Und ich müßte auch hier und heute den Blick zu Boden senken, wollte ich Ihnen und mir eine Erinnerung an das, was mit den Münchener Juden geschehen ist, ersparen. Nein, ich werde hier mit keiner Statistik aufwarten, mit keinem Bericht und keiner Zeugenaussage. Ich möchte Ihnen lieber einige Zeilen vorlesen, die ich 1960 in der "Süddeutschen Zeitung" in einer Buchbesprechung gefunden habe und die ich nie vergessen konnte.

      Sie stammen von einem Schriftsteller, den ich seit einem halben Jahrhundert bewundere, von Wolfgang Koeppen. Um zu vergegenwärtigen, was geschehen ist, aber nicht etwa in Auschwitz oder Treblinka, sondern hier, in München - schrieb Koeppen: "Es ist so, als ob man heute in dieser Zeitung Bilder sehen würde, von einer gestern auf dem Marienplatz geschehenen Demütigung, Auspeitschung, Marterung, Ermordung des Münchener Oberbürgermeisters, der Ratsherren und, sagen wir, aller Papierhändler der Stadt und ihrer Frauen und Kinder - und die Polizei und jedermann hätte drum herum gestanden, sich fürs Familienalbum fotografieren lassen und gegrinst. Das war jüdisches Schicksal."

      München hat viel Grund, Wolfgang Koeppen dankbar zu sein. Denn er, der empfindsame Asphaltliterat aus Berlin, der ein Münchner geworden ist, freilich ein heimatloser Münchner, ist der Autor des wohl schönsten Romans über diese Stadt, des Romans "Tauben im Gras". Ich habe, glaube ich, viel getan, um Koeppen zum Erfolg zu verhelfen. Einiges habe ich auch erreicht, aber er wird nach wie vor unterschätzt.

      Nach München bin ich im Laufe von Jahrzehnten häufig gekommen. Ich kam immer aus beruflichen Gründen und blieb nie länger als drei oder vier Tage. Dennoch hatte ich immer das sonderbare Gefühl, daß ich hier im Urlaub bin. München schien bisweilen ein bayerischer Ferienort, eine Stadt, in der das Oktoberfest nicht nur im Oktober, sondern das ganze Jahr über begangen wird, eine Stadt der Festspiele, versteht sich, doch der Festspiele in Permanenz, eine Stadt, in der die Einheit von Kunst und Bürgerlichkeit, von der Wagner in den "Meistersingern" träumte, verwirklich ist oder zumindest verwirklicht scheint. Immer schon hatte ich den Eindruck, daß sich die Festwiese, auf der Stolzing endlich sein Evchen bekommt, nicht an der Pegnitz befindet, sondern an der Isar.

      Was dem Besucher aus Berlin oder Hamburg hier auffällt, das ist zunächst der Glanz des Alltags und die Sinnlichkeit. Die erotische Atmosphäre, die gibt es auch in dieser oder jener deutschen oder österreichischen Stadt. Aber hier ist sie wohl etwas beschwingter, etwas anmutiger. Man spürt die Steigerung der Lebenslust, denn man ist in München, glaube ich, dankbarer als sonstwo für das Geschenk des schönen Augenblicks, für das Geschenk des Lebens. Man sehnt sich nach dem Genuß, welchem auch immer, und vielleicht ist diese Sehnsucht das Bemerkenswerteste an der Stadt, die katholisch und gar nicht protestantisch wirkt, die deutsch und bayerisch und so gar nicht teutonisch ist.

      Ich beobachte die Menschen auf den Straßen und Plätzen dieser Stadt. Was sind denn das für Leute, die ich auf der Theatinerstraße sehe oder auf der Maximilianstraße. Es sind, so will mir scheinen, lauter Schauspieler und Musiker, sie eilen zu der Oper oder zu den Kammerspielen, zur Probe oder zur Vorstellung, oder es sind Journalisten auf dem Weg in die Redaktion und Maler auf dem Weg ins Atelier. Wer flaniert denn da, im Englischen Garten, im Hofgarten? Vielleicht lauter junge Lyrikerinnen und gescheiterte Künstler. Und in und vor den Cafés in der Leopoldstraße - wer sitzt denn da? Sind es nicht etwa Statisten in Erwartung des Regisseurs?

      Ach nein, das stimmt ja alles nicht, es ist alles barer Unsinn. Das sind gar keine Schauspieler, keine Musiker, keine Statisten. Es sind Kellnerinnen und Verkäuferinnen, es sind Köche und Friseure, es sind Ärzte und Rechtsanwälte und deren Patienten und Mandanten - es sind ganz einfach Münchener Bürger, die eifrig und fröhlich mitmachen. Sie alle spielen mit, ohne Gage und mit viel Vergnügen. Hier ist alles inszeniert. Anders als Berlin oder Hamburg oder Frankfurt ist München eine theatralische Stadt. Die ganze Welt ist hier eine Bühne.

      Halt, was red` ich denn da, das ist ja Shakespeare: "Die ganze Welt ist eine Bühne, / Und alle Männer und Frauen sind nur Spieler / Sie treten auf und gehen wieder ab . . ." Das läßt er den Jacques in "Wie es Euch gefällt" sagen, im Ardenner Wald. Ob diese Worte vielleicht gar auf Münchnen abzielen? Wie denn: Shakespeare und München - was soll denn das?

      Vor genau dreißig Jahren habe ich in Frankfurt die deutsche Erstaufführung des Schauspiels "Lear" von Edward Bond gesehen. Nach Ende der Vorstellung traf ich meinen Freund Hellmuth Karasek. Ich fragte ihn: "Dieses Stück von dem Bond - das gefällt Ihnen wohl." Er antwortete trotzig: "Jawohl." Ich hatte Bedenken, die Blendung des Herzogs Gloucester sei doch hier eine ganz schwache Szene, Shakespeare habe die gleiche Szene viel besser gemacht. Darauf sagte mein Freund Hellmuth Karasek ein Wort, das ich bis heute nicht vergessen habe und nie vergessen werde, das bedeutendste Wort, das ich je aus seinem Munde hörte. Er sagte nämlich: "Shakespeare hat alles besser gemacht." Das hatte mir die Sprache verschlagen, ich blieb vollkommen stumm - ganze zehn Sekunden.

      So ist es: Er, der größte Unterhaltungsschriftsteller der Welt, er hat tatsächlich alles besser gemacht. Bei ihm ist alles möglich. Wenn in seinem "Wintermärchen" Böhmen am Meer liegen kann und "Mass für Mass" in Wien spielt, warum soll er nicht, als er Jacques im Ardenner Wald von der Welt als Bühne sprechen ließ - warum soll er da nicht an München gedacht haben? Beweisen kann ich das nicht. Aber doch weiß ich es genau, was Shakespeare damals im Sinn hatte - natürlich die Stadt München.
      <http://www.faz.net/IN/INtemplates/faznet/img/leer.gif>
      Daß dieser Autor glaubt, gerade jetzt sei der Augenblick gekommen, seinem Haß freien Lauf zu lassen, das ist das Beunruhigende, das ist das Gefährliche.

      Im Jahr 1963 sprach ich zum ersten Male in der Stadt, in der Hitlers Partei gegründet und Thomas Manns " Zauberberg" geschrieben wurde.

      Vielleicht ist die Sehnsucht das Bemerkenswerteste an dieser Stadt München, die deutsch ist und sehr bayerisch und so gar nicht teutonisch.

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2002, Nr. 159 / Seite 41
      Avatar
      schrieb am 12.07.02 11:52:40
      Beitrag Nr. 197 ()
      Meine Kommentare sind kursiv gedruckt.


      1. MRR:
      Nur hat er (Walser) nicht ein freches Gedicht geschrieben, sondern einen ganzen Roman, und dessen Fazit lautet nicht etwa "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent", sondern "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Jude." So lese ich diesen Roman, anders kann ich es nicht.

      Wer das Buch unvoreingenommen liest und nicht MRR, Schirrmacher oder Reemtsma heisst, liest das Buch aber als "Tod eines Kritikers", nicht als "Tod eines Juden".

      2. MRR:
      Daß manche Journalisten und vereinzelte Germanisten mit dem Mann vom Bodensee gemeinsame Sache machen

      gewollte Assoziation: Verbrecherische Taten werden da ausgeführt

      , daß ein bekannter Münchener Kritiker, den ich zu meinen Freunden zählte, sich nicht entblödet

      persönliche Beleidigung; Gegenargumente weit und breit nicht vorhanden

      , diesen Roman zu verteidigen und zu loben, daß der Suhrkamp-Verlag, dessen Chef und Mitinhaber, Siegfried Unseld, sich rühmte, in seinem Haus sei "wie an keinem anderen Ort die unvergleichliche Produktivität einer letzten Generation deutsch-jüdischer Gelehrsamkeit" konzentriert, dieses schändliche Buch

      kein Argument;unwiderlegbare subjektive, aber objektivierende Einfärbung

      verlegt hat und an ihm jetzt ein Vermögen verdient

      gewollte Assoziation: mit unethischen Inhalten unethisch viel Geld verdienen

      - das alles, ich gebe es zu, erfüllt mich mit Trauer und eben auch mit Angst.Was hat sich geändert? Die oft beschworene Ära der Suhrkamp-Kultur ist abgeschlossen, es wird sie nie wieder geben.

      ist dies kein Größenwahnsinn?? alles wegen des einen Buches über ihn??

      Der Ruf dieses Hauses ist in hohem Maße beschädigt, der Verlag ist besudelt.

      Wer denkt dies wirklich, außer MRR??

      Wir werden uns damit abfinden.

      Jetzt sollen es durch die Hintertür auf einmal alle denken- oder ein "pluralis majestatis"

      Schon sind rund hundertfünfzigtausend Exemplare dieses Buches im Umlauf, eines Romans, der gegen die Juden hetzt

      Dies ist unhaltbar - siehe die Beiträge in diesem Thread weiter oben; am deutlichsten wird es, wenn man einfach das Buch liest!

      er ist persönlich verletzt, das kann man verstehen.
      Aber er ergeht sich wieder ausschließlich in subjektiven Einfärbungen, indem er mit Adjektiven nur so um sich wirft.
      Er argumentiert nicht.
      Er stellt fest, wie er möchte und färbt ein.
      Avatar
      schrieb am 13.07.02 01:05:56
      Beitrag Nr. 198 ()
      @Amtmann:

      Hast Du einen leichten Dachschaden?
      Lies Dir meine Postings zu diesem Thema nochmals durch und versuche diesmal bitte, sie auch zu verstehen.

      P.S.: Lass Dir beim Schreiben Deiner Postings mehr Zeit. Dann werden sie vielleicht auch für Dritte verständlich. Sonst entsteht zwingend der Verdacht, dass Deine Finger mal wieder schneller waren als Dein Gehirn.
      Avatar
      schrieb am 21.08.02 12:21:17
      Beitrag Nr. 199 ()
      für jene, die sich für die geschichte des Begriffs "antisemitisch" interessieren:



      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.2002, Nr. 193 / Seite N3


      Reizbare Volksseele

      Warum ein Jude den Begriff "antisemitisch" prägte


      Wenn man von dem Wesen eines Volkes oder vom "Volksgeist" spricht, steht natürlich immer Wilhelm von Humboldt im Hintergrund. Johann Friedrich Herbart hat erstmals 1821 von einer "Psychologie der Gesellschaft" gesprochen. Daraus wurde fünfzig Jahre später (1871 bei G. A. Lindner) die "Socialpsychologie". Diese wiederum war für Wilhelm Wundt 1873 ein Synonym für "Völkerpsychologie", über die er dann ab 1900 zehn Bände verfaßte. Zwischen diesen Eckdaten liegt die eigentliche hohe Zeit der Völkerpsychologie, der Moritz Lazarus 1851 ihren Namen gab. Lazarus gab zusammen mit Chajim H. (Hermann) Steinthal zwischen 1860 und 1890 auch die "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" heraus.

      Die Völkerpsychologie als "Psychologie des gesellschaftlichen Menschen" (Lazarus) will die "Gesetze des Volksgeistes" untersuchen, die sich besonders in der Sprache finden lassen: "Die Sprache ist das erste geistige Erzeugnis, das Erwachen des Volksgeistes" - so Lazarus/Steinthal in der Einleitung zum ersten Heft ihrer Zeitschrift 1860. Die wichtigsten Werke Steinthals (1823-1899) sind darum der Sprachwissenschaft gewidmet, die er mit der Völkerpsychologie zu vereinen suchte (Grammatik, Logik und Psychologie, 1855; Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, 1871). Dem Werk Steinthals ist nun ein Sammelband gewidmet (Hartwig Wiedebach und Annette Winkelmann, Hrsg., Chajim H. Steinthal, Sprachwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert, Brill, Leiden 2002). Die Aufsätze behandeln nicht nur Steinthals "Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie" und seine "Ethik" (Allgemeine Ethik, 1885), sondern auch seine "jüdischen Fragestellungen".

      Die Einbeziehung dieser letzten Gruppe in die völkerpsychologischen Studien Steinthals ist besonders brisant, da er seine Ideen der Völkerpsychologie (und des Volksgeistes) auch auf das Judentum seiner eigenen Zeit bezogen hat, so zum Beispiel in dem Aufsatz "Die Stellung der Semiten in der Weltgeschichte" (Erstveröffentlichung 1901). Thematisiert wird hier von Steinthal erst der "Charakter" der Semiten, dann der der Israeliten, endlich der der (zeitgenössischen) Juden. Steinthal spricht auch im Singular: der Semit, der Israelit, der Jude ("der Semit war höchst reizbar"), oder er gebraucht Wendungen wie "der semitische Geist". Dieser Art Typologisierung liegt die Feststellung zugrunde, daß die Juden nicht nur "eine bloße Religionsgemeinschaft" bildeten, sondern einen "Stamm" und eine "Gemeinschaft des Blutes". Nur darum könne man von einem "Nationalgeist" sprechen, der ein Volksgeist ist. In einem Aufsatz über Ludwig Börne (1881) wird dessen Humor erklärt aus dem "jüdischen, überhaupt dem semitischen Geist".

      Nun weiß auch Steinthal um die Bedenklichkeiten, von einem für ein Volk typischen "Geist" (auch "Wesen") zu sprechen, und so versichert er, "der Jude hat sich immer und überall, je nach der Kultur des Landes, in welchem er wohnte, akklimatisiert" - um dann aber hinzuzufügen, trotzdem sei auch "der Jude des neunzehnten Jahrhunderts hier und dort, ehemals und heute, ein Jude". Steinthal löst diese Spannung - zwischen Deutschen und Juden - nie auf, das Nebeneinander wird nicht zu einem Amalgam verschmolzen, wohl aber zusammen gesehen.

      Ernest Renan hatte in Paris 1859 einen Aufsatz über "den allgemeinen Charakter der semitischen Völker" veröffentlicht. Eigentlich sollte man annehmen, daß Steinthal in Renan einen gleichgesinnten Forscher gesehen hätte, doch Steinthal reagierte gerade umgekehrt: In seiner Zeitschrift für Völkerpsychologie polemisierte er 1860 ("Zur Charakteristik der semitischen Völker") gegen Renans Thesen - aber nicht deswegen, weil Renan von einem allgemeinen Charakter der Semiten sprach, sondern weil er den Juden innerhalb der semitischen Rasse eine Art Sonderweg bei der Herausbildung des Monotheismus zuschrieb. Dagegen sagt Steinthal: "Das israelitische Volk ist in nichts verschieden von allen anderen Semiten."

      Ignaz Goldziher hat 1876 in seinem Buch über den "Mythos bei den Hebräern" vehement für "die psychologische Gleichartigkeit aller Menschenrassen" gekämpft, wie sie die Völkerpsychologen gelehrt hätten. Steinthal, der 1877 eine lange positive Rezension über Goldzihers Buch verfaßt hat, spricht 1860 jedoch noch nicht von der Gleichheit aller Rassen, sondern nur von Gleichheit der semitischen Völker. Moritz Steinschneider wiederum bespricht diesen Aufsatz Steinthals gegen Renan im Februar-Heft 1860 seiner Zeitschrift für hebräische Bibliographie "Hamaskir": Steinthal "weist mit der ihm eigenthümlichen Schärfe die Widersprüche in Renan`s Grundanschauungen nach . . . Desto nothwendiger war es, die Consequenzen, oder richtiger Inconsequenzen seiner antisemitischen Vorurtheile aufzudecken." In diesem Satz wird das Wort "antisemitisch" zum ersten Mal gebraucht.

      Der Begriff ist also von einem Juden geprägt worden, der einen Aufsatz von Steinthal bespricht, in dem eine Arbeit von Ernest Renan besprochen wurde. "Antisemitisch" heißt in Steinschneiders Besprechung nicht eine Haltung, die sich generell gegen die Semiten wendet, sondern, immer mit Bezug auf Steinthal, eine Ansicht, die den Juden innerhalb der Semiten eine Sonderstellung zuweist. So kann man sagen: Die erste Prägung des Wortes "antisemitisch" heißt eigentlich "antijüdisch". Renan wird von Steinschneider eine antijüdische Haltung vorgeworfen, weil seine Theorie im Sinne der Völkerpsychologie Steinthals falsch ist.

      Ignaz Goldziher wird erst 1893 in diese Debatte wieder eingreifen: In seiner Gedenkrede auf Renan in der ungarischen Akademie der Wissenschaften (Renan als Orientalist) wird er den sogenannten Antisemitismus Renans gerade mit Steinthals Völkerpsychologie erklären und zu verstehen suchen. Doch die Zeit der "vergleichenden völkerpsychologischen Überlegungen" und der "völkerpsychologischen Schemata" sei jetzt vorbei. Die "in letzter Zeit" durchgeführten Forschungen stellten "die Unabhängigkeit der großen Entwicklungsmomente von den Rassenunterschieden stets unter Beweis". Daß Goldziher Renans "antisemitische" Ansichten "völkerpsychologisch" versteht, zeigt, wie bedenklich nahe Steinthals eigene Völkerpsychologie allen rassischen Theorien steht, selbst den Argumenten derjenigen, die später den rassischen Antisemitismus verbreiten. Steinthals typologisierende Völkerpsychologie, die die Gleichheit aller semitischen Völker gelehrt hatte, wurde bei den Antisemiten zu einer völkischen Ideologie, die sich speziell gegen die Juden richtete.

      In René Königs Lexikon "Soziologie" von 1958 findet man den Begriff "Völkerpsychologie" noch nicht einmal mehr im Register. Um so verdienstvoller ist das Buch über Chaijm H. Steinthal. Das oft zu schnell verdrängte und vergessene neunzehnte Jahrhundert wird in den Studien über den Völkerpsychologen Steinthal in allen seinen Widersprüchen und Spannungen wieder lebendig. Daß der aus dem Amerikanischen übernommene Begriff "Kulturanthropologie" (cultural anthropology) eigentlich eine Umschreibung für "Völkerpsychologie" ist, sollte auch nicht vergessen werden.

      FRIEDRICH NIEWÖHNER

      Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.2002, Nr. 193 / Seite N3
      Avatar
      schrieb am 22.08.02 05:18:07
      Beitrag Nr. 200 ()
      Eli Wiesel distanzierte sich vor einigen Wochen ausdrücklich von dem Walser-Buch; leider habe ich keinen Link parat, falls es jem. interessiert: Suchmaschine.
      Doch der Herr Wiesel soll gesagt haben: um den Verkehr zu regeln, erfanden die Amerikaner die Ampeln, alles andere regeln die Juden.
      Avatar
      schrieb am 25.08.02 10:15:25
      Beitrag Nr. 201 ()
      DIE ZEIT, Politik 29/2002, Von Walser enttäuscht - Elie Wiesel

      In der deutschen Neuauflage von Elie Wiesels Auschwitz-Erinnerung "Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis" (Verlag Herder) ist auf Verlangen des Autors das 1961 für die deutsche Erstausgabe (Bechtle) verfasste Vorwort von Martin Walser nicht mehr enthalten. Für DIE ZEIT begründet der in New York lebende amerikanisch-jüdische Friedensnobelpreisträger die Entscheidung mit seiner schweren Enttäuschung über Walser, der dem "Zeitgeist einer Geringschätzung der Erinnerung" nachgebe anstatt ihn zu bedauern

      von Werner A. Perger, ZEIT.de

      Er stellt zugleich klar, dass er diesen Beschluss bereits vor dem Streit um Walsers neuen Roman gefasst habe und zwar als "persönlichen Protest" gegen Walsers Rede in der Frankfurter Paulskirche vom Oktober 1998 und dessen "unwürdige Bemerkungen über den Holocaust", die ihn, Wiesel, "bestürzt und viele Juden empört" hätten: "Wenn er das soziale Gewissen des gegenwärtigen Deutschland sein soll, dann wehe seinen Leser." Wiesels Auschwitz-Buch, das zunächst im Jahr 1958 auf französisch mit einem Vorwort von Francois Mauriac erschien, gibt als die berühmteste literarische Aufarbeitung des Holocaust; der Mauriac-Text ist nach wie vor Bestandteil der deutschen Ausgabe.

      Die Erklärung Wiesels im Wortlaut:

      Martin Walser bleibt für mich eine schwere Enttäuschung. Von einem Autor seines Ranges in Deutschland hätte ich erwartet, dass er dem Zeitgeist einer Geringschätzung der Erinnerung nicht nachgibt, sondern ihn vielmehr bedauert. Meine Entscheidung habe ich bereits vor der gegenwärtigen Affäre um seinen jüngsten Roman getroffen. Ich hatte mich dazu entschlossen, nachdem Walser mich mit seinen unwürdigen Frankfurter Bemerkungen über den Holocaust bestürzt und viele Juden empört hatte. Sollte er das soziale Gewissen des gegenwärtigen Deutschland sein, dann wehe seinen Lesern. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass - nicht zuletzt als mein persönlicher Protest - unsere Namen weder länger gemeinsam auf dem selben Buchumschlag noch im selben Band erscheinen sollten. Seine Äußerungen haben mir bewiesen, dass er nicht verstanden hat, was mein Zeugnis bedeutet. Offenkundig haben wir nicht dieselbe Auffassung von Moralphilosophie und Literatur.
      Avatar
      schrieb am 25.08.02 13:35:26
      Beitrag Nr. 202 ()
      Walser hat den Mut gehabt,
      klar auszusprechen was ihn stòrte.
      Vielleicht war er der Vorreiter fùr Mòllemann,
      der nun auch aussprach.
      Auch Schròder hat nun Mut bewiesen
      und Bush die Stirn geboten.
      Eine Bewegung zu mehr Klarheit in unseren Beziehungen
      zeichnet sich ab.
      Avatar
      schrieb am 27.08.02 15:55:45
      Beitrag Nr. 203 ()
      MARCEL REICH-RANICKI

      "Antisemitische Gefühle kommen stärker zum Vorschein"

      Anlässlich seiner Ehrung mit dem renommierten Goethe-Preis hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki seinen Unmut über die Folgen der Debatte um das Buch "Tod eines Kritikers" geäußert. Martin Walser habe kräftig dazu beigetragen, dass latenter Antisemitismus in der Bevölkerung offener zu Tage trete.

      Frankfurt/Main - Er selbst habe in diesem Sommer nach Erscheinen des umstrittenen Buches mehr antisemitische Schmähbriefe erhalten als sonst, sagte Reich-Ranicki, der am Mittwoch in der Frankfurter Paulskirche den Goethe-Preis entgegen nimmt, gegenüber der Deutschen Presseagentur dpa. Der zum Bestseller avancierte Roman "Tod eines Kritikers, in dem Martin Walser Reich-Ranicki karikiert, ist wegen Antisemitismus-Vorwürfen über Wochen hinweg Gegenstand öffentlicher Debatten gewesen.
      Die Atmosphäre in Deutschland habe sich in den vergangenen Jahren "nicht unbedingt günstig" verändert, meinte der 82-jährige Reich-Ranicki. Das hänge damit zusammen, dass "Ressentiments und antisemitische Gefühle jetzt deutlicher zum Vorschein kommen als früher". Dennoch sehe er keinen Anlass, sich Sorgen zu machen: "Ich habe Antisemitismus mein ganzes Leben lang ertragen. Es ist eine alte Erfahrung, dass mit der Popularität immer auch der Schatten und der Neid wachsen. Alles verzeihen einem die Kollegen, nur nicht den Erfolg. Das habe ich in den letzten Jahren sehr stark zu spüren bekommen."

      "Eine absurde Attacke"


      Neid vermutet Reich-Ranicki auch hinter den Attacken seines früheren Freundes, dem Münchner Kritiker Joachim Kaiser. Dieser habe ihn "tief enttäuscht", seine Äußerungen finde er empörend. "Kaiser hat die literarische Qualität des Walser-Buches gerühmt, was auf gesundheitliche Schwierigkeiten schließen lässt. Jedenfalls scheint seine Selbstkontrolle stark reduziert." Der Journalist habe ihn außerdem wegen seines, Reich-Ranickis, geplanten Literaturkanons angegriffen: "Eine absurde Attacke".

      Die Zuerkennung des renommierten Goethe-Preises nannte er den Höhepunkt in seinem Leben. "Das ist die höchste Auszeichnung, die ich bekommen kann, und er hat mir die größte Freude bereitet neben einem ganz kleinen Preis: der Heine-Plakette 1976, meiner ersten literarischen Auszeichnung mit immerhin schon 56 Jahren." Das Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro werde er dem geplanten Frankfurter "Haus der Chöre" zukommen lassen, kündigte Reich-Ranicki an. Sein Verhältnis zu Goethe sei heute eher noch tiefer als früher. "Goethe ist für mich überhaupt nicht passé, nach wie vor greife ich häufig zum `Faust` und zur Lyrik. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass er der größte Lyriker in deutscher Sprache ist."

      Der Goethe-Preis ist eine der bedeutendsten Kultur-Auszeichnungen Deutschlands. Er wird seit 1949 (zuvor jährlich) alle drei Jahre am Geburtstag des Dichters Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) verliehen. Marcel Reich-Ranicki ist der 40. Preisträger in der 75-jährigen Geschichte der Auszeichnung, die laut Satzung an Persönlichkeiten verliehen werden soll, "die mit ihrem Schaffen bereits zur Geltung gelangt sind und deren schöpferisches Wirken einer dem Andenken Goethes gewidmeten Ehrung würdig ist."
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      schrieb am 27.08.02 16:12:25
      Beitrag Nr. 204 ()
      Warum bekam MRR den Goethepreis?

      und wann bekommt der erste Filmkritiker den Oscar?


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      Walser ermordet Reich-Ranicki