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    Tagebuch des 21. Jahrhunderts: Der neue Limes - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 10.04.01 10:35:56 von
    neuester Beitrag 12.09.01 09:33:06 von
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      schrieb am 10.04.01 10:35:56
      Beitrag Nr. 1 ()
      Vor einigen Jahren wurde in einem Artikel der ZEIT eine Parallele zwischen dem römischen Reich und der EU gezogen. Wie damals gäbe es auch heute wieder ein „Reichsgebiet“, das gegen das Barbarengebiet abgeschirmt werde (speziell dem Balkan). Einzelne Militäraktionen vor dem Limes, damals die zwischen Rhein, Main und Donau angelegte Schutzmauer gegen die Germanen, heute die EU-Außengrenze mit ihren Kontrollen, dienen der Abwehr möglicher Angriffe und dem Erhalt des „Reichsfriedens“.

      Der Vergleich hinkt gleich mehrfach. Zum einen ist die EU im engen Kontakt mit anderen „Reichen“, den USA und Japan. Zum zweiten bestehen enge Kontakte und Übereinstimmung in vielen Fragen mit vielen anderen Staaten in der Welt. Zum dritten überläßt die EU die „Barbaren“ gerade in ihrer Nähe nicht sich selbst. In die Konflikte auf dem Balkan wurde nicht nur militärisch eingegriffen, sondern es werden in Konferenzen und mit finanziellen Hilfen und Wirtschaftskontakten enge Beziehungen selbst zu Staaten geknüpft, die ein Jahr zuvor noch Gegner waren (Serbien).

      Trotzdem gibt es Parallelen zum Römischen Reich, wenn man die plakativen Vorstellungen vom Barbarensturm, der am Limes halt macht, aufgibt. Wie damals, gibt es heute Staaten oder Staatengruppen (USA, Europa, Japan, Kanada, Australien), die auf die übrigen Staaten durch ihren Reichtum, ihre innere Sicherheit und ihre relative Fortschrittlichkeit eine große Anziehungskraft ausüben. Ich behaupte, daß sich dieses auch noch in Jahrzehnten nicht geändert haben wird. Die Anziehungskraft bedeutet zum einen, daß diese führenden Staaten Vorbildfunktion haben. Es bedeutet zum zweiten, daß ein großer Anreiz besteht, aus den „Barbarenstaaten“ in diese „Imperiumsstaaten“ umzusiedeln.

      Die Ähnlichkeit mit Rom speziell zur EU geht noch weiter. Das antike Rom der Kaiserzeit war ein komplexes Gebilde aus vielen Nationen, in dem viele Kulturen koexistierten, viele Sprachen gesprochen wurden, wobei Latein und Griechisch als Amtssprachen dienten (so wie heute Englisch und Französisch neben anderen Sprachen in der EU). Neue Völker wurden integriert, teilweise als Zuwanderer in bevölkerungsarmen Gebieten angesiedelt. Ähnlich wie die EU heute, wuchs das Imperium, wenn nicht an Fläche, so um Völker. Zugleich bestand damals ein modern anmutendes Problem: das römische Imperium litt an einem Geburtenmangel. Die römische Bevölkerung nahm ab. Es herrschte Arbeitskräftemangel. Zugleich entstand ein Bevölkerungsunterdruck gegen die Gebiete außerhalb des Reiches. Das weströmische Reich ging konsequenterweise unter, als die vor den Hunnen wegziehenden Goten nicht im Reich integriert wurden und es schließlich in weiten Teilen eroberten.

      Müssen wir diese Sorgen auf die Zukunft übertragen? Wenn die Bevölkerung in Europa abnimmt, der Reichtum aber zunimmt, werden dann irgendwann arme, aber bevölkerungsreiche Staaten Europa als Beute nehmen? Sicherlich nicht, jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Das setzt aber folgendes voraus:

      Wir dürfen in Europa kein demographisches Vakuum entstehen lassen (siehe auch Demographische Katastrophen Thread: Tagebuch des 21. Jahrhunderts: Demographische Katastrophen). Wenn sich der Bevölkerungsrückgang beschleunigt, wird Europa international gegenüber den wachsenden Staaten, wie China, Indien und den USA, so schwach, daß es kaum noch internationalen Einfluß nehmen kann und durch diese Schwäche auch ökonomisch leidet. Wenn man daran glaubt, daß Europa in der Welt vorbildliche Werte vertritt (den Sozialstaat, Wahrung der Menschenrechte inklusive dem Verbot der Todesstrafe, den liberalen Rechtsstaat), wird man ein schwaches Europa nicht wünschen.

      Damit erhebt sich aber die Forderung, eine große Zahl von Einwanderern zu integrieren. Die Außengrenzen der EU dürfen nicht abschotten. Europa muß ein dynamisches, lebendiges Gebilde bleiben.

      Es muß für eine Akzeptanz europäischer Institutionen gesorgt werden. Nur wenn die Europäer an der Überlegenheit ihrer Institutionen gegenüber anderen Modellen glauben, werden sie Europa ausbauen und verteidigen.

      Europa muß eine aktive Rolle in der Weltpolitik spielen, um Konflikte zu entschärfen und das europäische Modell von Sozial- und Rechtsstaat international als Vorbild zu etablieren.

      Die Europäische Union wird gerne kritisiert. Es ist jedoch ein Faktum, daß die wirtschaftliche Integration in Amerika, Afrika und Ostasien als Vorbild empfunden wird und Kopien versucht werden. Das läßt darauf hoffen, daß ein „Limes“ im 21. Jahrhundert nicht nötig wird.

      Tagebuch des 21. Jahrhunderts ist eine Serie im reg. W:O Sofa.
      Bisher erschienen: Parallelwelten Thread: Tagebuch des 21. Jahrhunderts: Parallelwelten, Die Wiederkehr der Infektionskrankheit Thread: Tagebuch des 21. Jahrhunderts: Die Wiederkehr der Infektionskrankheit, Der sich selbst erfindende Mensch Thread: Tagebuch des 21. Jahrhunderts: Der sich selbst erfindende Mensch, Demographische Katastrophen Thread: Tagebuch des 21. Jahrhunderts: Demographische Katastrophen
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      schrieb am 12.09.01 09:33:06
      Beitrag Nr. 2 ()
      Die Ereignisse am 11.09.2001 (die Entführung von vier Flugzeugen durch mit Messer bewaffneten Terroristen, die sie in Ziele, wie das Pentagon und das World Trade Center lenken, um Symbolorte der USA zu treffen) machen deutlich, daß der "Limes", der für die westliche Welt eher in ideeller Hinsicht gilt, sehr löchrig ist. Der internationale Terror zwingt uns dazu, uns immer wieder in Weltgegenden einzumischen, die wir eigentlich gerne sich selbst überlassen würden.

      Staaten, in denen der Fanatismus ohne internationale Einmischung Machtbasen aufbauen kann, gebären immer wieder neu den Terrorismus. Solche Freiräume boten etwa Libanon im Bürgerkrieg, der Ostblock, wenn es um Terror gegen westliche Staaten ging, Libyen, Syrien, Iran, Irak, inzwischen vor allem Afghanistan, in Zukunft vielleicht Nordkorea und manche Staaten in Afrika.

      Gegen terroristische Akte gibt es keinen perfekten Schutz, weil Terroristen und Terrorabwehr in einer ewigen gegenseitigen Aufrüstungsspirale stecken. Je komplexer, reicher und dichter besiedelt eine Welt ist, desto verletzlicher wird sie, desto größer ist die potentielle Zahl der Opfer von Terroranschlägen. Der einzige provisorische Schutz kann nur in eine dauernden Befriedung von Konfliktherden sein, in denen neuer Terrorismus entstehen kann und wo Terroristen Rückzugsbasen finden können. Wir können uns nicht hinter den Limes zurückziehen, sondern müssen überall für den Ausgleich von Interessen, für die Entwicklung zur Demokratie, für die Bereitschaft, Konflikte geregelt auszutragen, etwa nach internationalem Recht, und für die Herstellung staatlicher Gewalt eintreten, notfalls mit militärischen Mitteln.

      Die Zukunft der Welt kann daher nicht in einer langfristigen Aufteilung in den zivilisierten Teil hinter dem Limes und der Barbarenwelt drumherum gesehen werden. Die geordnete Welt wird sich immer wieder in die ungeordnete einmischen müssen.


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