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    Für Altstalinisten - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 18.06.04 09:44:32 von
    neuester Beitrag 28.08.04 13:24:56 von
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      schrieb am 18.06.04 09:44:32
      Beitrag Nr. 1 ()
      junge Welt vom 12.05.2004

      Thema
      Alte Brüche
      »Kommunismus« und »Linkssozialismus« gestern und heute. Historisches und Methodisches zur Diskussion um ein neues sozialistisches Übergangsprogramm (Teil I)
      Christoph Jünke

      * Am 24./25. Februar 2004 fand in der Karl-Liebknecht-Schule der DKP in Leverkusen eine Tagung in Erinnerung an Lenin statt, dessen Todestag sich am 21. Januar zum 80. Male jährte (siehe jW vom 29. 1. 2004). Angeregt wurde die Konferenz von der Marx-Engels-Stiftung, getragen wurde sie jedoch außer von der Initiatorin vom Marxistischen Arbeitskreis zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der PDS, der Geschichtskommission der DKP, der Sozialistischen Zeitung (SoZ), den Marxistischen Blättern, der Tageszeitung junge Welt, der Arbeiterstimme, dem Marxistischen Forum, der Arbeiterpolitik und dem Rotfuchs. Der im folgenden dokumentierte Text von Christoph Jünke, verantwortlicher Redakteur der Sozialistischen Zeitung (SoZ), ist die überarbeitete Fassung seines Tagungsvortrags. Zusammen mit den anderen Beiträgen der Konferenz wird Jünkes Referat im Anfang Juni erscheinenden Heft 3 der Marxistischen Blätter veröffentlicht.


      Daß die Jahre 1989 bis 1991 einen geschichtlichen Bruch epochalen Ausmaßes darstellen, ist fast schon selbstverständlich geworden. Und spätestens seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde deutlich, daß die Phase des unübersichtlichen Übergangs einer neuen Etappe gewichen ist, in der sich die Kräfte der neoliberalen Globalisierung gegen die vielfältigen Unmuts- und Widerstandsbewegungen erfolgreich bewaffnet haben. Die Frage jedoch, was dieser Epochenbruch und der sich daran anschließende Durchmarsch des Neoliberalismus für die Reste der krisengeschüttelten sozialistischen Linken politisch-strategisch bedeutet, welche politischen Konsequenzen aus der Niederlage der 90er Jahre zu ziehen sind, wird erst in jüngster Zeit zu einem strömungsübergreifenden Thema. Und während sich viele ehemalige sozialistische Linke von ihren sozialistischen Überzeugungen gelöst und nicht selten auch gleich ihr Linkssein aufgegeben haben, werden die Übriggebliebenen mit der Nase und dem Druck der objektiven Aufgaben auf ihr jeweiliges Gegenüber gestoßen. Erfordert die neue historische Situation nach dem Epochenbruch auch eine neue Linke? Wie stellen sich die »alten« Linken zu dieser »neuen« Linken, und wie stellen sie sich zu ihren alten Differenzen? Was von diesen alten Schismen hat sich historisch überholt und was bleibt auch in der Gegenwart bedenkenswert?


      Ich habe mir nun vorgenommen, etwas zum ökumenischen Hintersinn unserer gemeinsamen Tagung beizutragen und meine Wahrnehmung dessen zur Diskussion zu stellen, was uns jahrzehntelang getrennt hat und was uns in naher Zukunft wieder mehr oder weniger vereinen könnte, zum Teil ja schon begonnen hat zu verbinden. Ich werde also im folgenden nicht nur, aber vor allem von der Geschichte sprechen, nicht um die Gegenwart mittels der Geschichte totzuschlagen, sondern um die Gegenwart mittels der Geschichte zu erhellen. Wir werden um eine solche auch historische Debatte nicht umhin kommen, und mir ist klar, daß es dazu einer besonderen Dosis an Toleranz und Souveränität in der Diskussion bedarf.


      Richtig verstanden erweist sich eine solche Debatte als Diskussion unserer politischen Theorie, die wiederum von zentraler Bedeutung ist für die politisch-strategische Debatte eines zukünftigen Übergangsprogramms einer erneuerten sozialistischen Linken, zu der wir in den nächsten Jahren hoffentlich die Möglichkeit haben werden beizutragen. 1)



      1. Trennendes und Einigendes


      Diskussionen über die Überwindung des sogenannten »Bruderkampfes« hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Ich möchte hier an eine Episode erinnern, die ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Auch in den Jahren 1955/56 diskutierte die westdeutsche Linke (im weiteren Sinne des Wortes) die Möglichkeiten einer praktischen Überwindung ihrer Schismen.2) Nicht nur, aber vor allem in den Spalten einer damals neuen Wochenzeitung, der von Gerhard Gleissberg und Kurt Gottschalch herausgegebenen Anderen Zeitung, führten linke Intellektuelle, Sozialdemokraten und Linkssozialisten eine ausgedehnte Diskussion über ihr Verhältnis zu den Kommunisten.


      In diese Debatte mischte sich der noch sehr junge, aber damals schon bekannte Linkssozialist Peter von Oertzen mit einem Beitrag 3) ein, an den ich hier erinnern möchte, weil er sehr genau auf den Punkt gebracht hat, was »Stalinismus« und »Linkssozialismus« auch nach dem Tod von Stalin noch trennte. (Noch immer ist umstritten, was genau als Stalinismus zu bezeichnen ist, wer Stalinist, wer Kommunist und wer Sozialist ist. Von Oertzen, und dies ist sicherlich nicht uninteressant in unserem Zusammenhang, hinterfragt die damalige Gegenüberstellung von »uns«, also den sozialistischen Linken auf der einen, und den »Kommunisten« auf der anderen Seite: »Wer ist ein Kommunist? Ist es wirklich der Anhänger des herrschenden russischen Systems? Aber Anarchisten und Trotzkisten, Brandlerianer und Tito-Anhänger sind ebenfalls Kommunisten und trotzdem Todfeinde des offiziellen ›Kommunismus‹. Um der Genauigkeit unserer Begriffe willen sollten wir deshalb die Anhänger und Rechtfertiger der Sowjetunion Stalinisten nennen, nach dem Mann, der ihre Theorie und Praxis auch heute noch bestimmt, obwohl er seit drei Jahren tot ist.« Ein Stalinist ist also der, dessen Theorie und Praxis auch heute noch vom historischen Stalin bestimmt wird – ich halte dies zwar für keine ausreichende, aber eine für unseren Zusammenhang brauchbare Definition.) Peter von Oertzens Beitrag zu dieser Debatte besteht aus zwei Aspekten. Er unterscheidet zuerst zwischen intellektueller und sozialistischer Linker und zeigt dann auf, welche Konsequenz diese Unterscheidung für die Haltung zum Stalinismus hat.


      Es gibt, so Oertzen, eine intellektuelle Linke, die sich nicht mit der sozialistischen Bewegung decke. Er nennt hier Republikaner, Linksliberale, Antikolonialisten und Antiimperialisten, Pazifisten und progressive Künstler, Antiklerikale und Strafrechtsreformer, kurz Fortschrittler und Aufklärer. Sie alle seien ein wichtiger Teil der Linken, und ohne sie gäbe es auch keine sozialistische Bewegung. Trotzdem müsse man gerade in der Frage der Haltung zum Stalinismus zwischen der intellektuellen und der sozialistischen Linken analytisch differenzieren, denn: »Der Sozialist ist links – aber er ist nicht nur das. Er ist zugleich Glied – zumindesten Verbündeter – der Arbeiterbewegung, und er ist damit der konkreten Solidarität der Arbeiterklasse verpflichtet. Die Arbeiterklasse ist nicht der einzige Träger fortschrittlichen Denkens oder sozialistischer Ideen, sie ist nicht einmal immer mehrheitlich sozialistisch gesonnen. Trotzdem ist sie die einzige Kraft in unserer Gesellschaft, die die Möglichkeit in sich birgt, den Sozialismus nicht nur zu denken und zu verkünden, sondern auch zu verwirklichen. Sozialistische Politik ist infolgedessen nicht die Propagierung und Anwendung sozialistischer Grundsätze schlechthin, sondern ihre Anwendung in Hinblick auf die konkrete Lage, die Möglichkeiten und die Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Der nichtmarxistische Sozialist und der nichtsozialistische Linke werden diese Voraussetzung nicht anerkennen. Ihre Auseinandersetzung mit den Stalinisten vollzieht sich infolgedessen ohne den Hinblick auf die wirkliche Lage des politischen Kampfes innerhalb der Arbeiterklasse.«


      Was hat diese Unterscheidung zur Konsequenz? Oertzen behauptet, daß die intellektuellen Linken anders an die Stalinfrage herangingen als die sozialistischen Linken. Der oder die intellektuelle Linke gehe vor allem ideologisch-literarisch an die Auseinandersetzung mit den Stalinisten heran, d. h. er oder sie entscheide je nach Schwere von deren Verbrechen, also mehr oder weniger aufgrund einer ethischen Erwägung, ob man mit ihnen zusammenarbeiten könne oder nicht. Statt dessen gehe der antistalinistische Sozialist von einem anderen Bezugspunkt aus. Als Teil der real existierenden Arbeiterbewegung sei der Stalinismus für den sozialistischen Linken nicht nur eine Frage der Fehler und Verbrechen, sondern mehr noch eine Frage der Rolle, die die Stalinisten in den praktischen Klassenkämpfen selbst spielen.


      Und vor diesem Hintergrund, vor dem konkreten Hintergrund der deutsch-deutschen Situation Mitte der 50er Jahre, vor dem Hintergrund des Standes der damaligen Klassenkämpfe, beantwortet der junge Peter von Oertzen die Frage einer möglichen politischen Zusammenarbeit mit den Stalinisten in Ost wie West eindeutig negativ: »Auf eine gänzlich andere Art und Weise, als die Hilfstruppen des kapitalistischen Feindes, sind die Stalinisten – gerade wegen ihrer ›linken‹ Theorie und Praxis – eine gefährliche Bedrohung der sozialistischen Bewegung. Nicht ihr ideologischer Dogmatismus und ihre terroristische Praxis machen als solche jedes Bündnis mit den Stalinisten unmöglich. Auch andere Linke sind borniert und gewalttätig gewesen und sind es immer wieder. Nicht einmal das in der Tat ungeheuerliche Ausmaß der stalinistischen Unterdrückungsmaßnahmen wäre – für sich genommen – ein Grund, nicht gelegentlich eine Strecke Weges mit ihnen zusammen zu gehen. Zumal man mit einiger Berechtigung der Meinung sein kann, daß die Periode des ›großen Schreckens‹ in Rußland sich nicht wiederholen wird. Ausschlaggebend ist etwas anderes: die bedingungslose Abhängigkeit der Stalinisten von Sowjetrußland und der daher rührende, immer aufs neue geübte Verrat an der Solidarität der Arbeiterbewegung. Und an diesem Sachverhalt hat sich – trotz allem – seit Stalins Tod nichts geändert. Ich kann jahrelang mit einem KP-Mann in derselben Front des Klassenkampfes stehen – eine plötzliche Wendung der russischen Außenpolitik, und er wird mich über Nacht im Stich lassen (es sei denn, er rebelliert und bricht mit seiner Partei, wie es seit 1917 Hunderttausende revolutionärer Sozialisten getan haben). Hier liegt die tiefste Ursache der moralischen und politischen Korruption der KPD, der Unterdrückung jeder innersozialistischen Diskussion, des Terrors gegen nicht linientreue Sozialisten; denn der Kadavergehorsam gegenüber einer fernen Zentrale schließt das sachliche Argument, die freie Aussprache, die Duldsamkeit und die Loyalität gegenüber dem anders denkenden Genossen prinzipiell aus. So lange nicht jede kommunistische Partei der Erde von Moskau genau so unabhängig ist wie Tito heute, solange ist kein Bündnis möglich. Aber eine solche Unabhängigkeit würde – wie das Beispiel Jugoslawien beweist – den völligen Bruch mit Theorie und Praxis des Stalinismus bedeuten.«


      Zusammengefaßt hieß dies für Oertzen – und Oertzen steht hier synonym für das Selbstverständnis des radikalen Linkssozialismus, er war damals Mitarbeiter der SOPO, der Sozialistischen Politik –, daß es kein politisches Bündnis mit den Stalinisten geben könne, weil erstens die von der Moskauer Zentrale abhängigen Stalinisten keine aufrichtige und solidarische Klassenpolitik führen können; zweitens weil die deutschen Stalinisten in der zentralen innenpolitischen Frage einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf seiten der SED-Bürokratie stünden und deswegen an der Aufrechterhaltung der DDR interessiert seien, da eine Wiedervereinigung das Ende der Klassen- oder Herrschaftsprivilegien der SED-Bürokratie bedeuten würde. Zum dritten könne es kein politisches Bündnis mit ihnen geben, da das »kritik- und würdelose Hinnehmen der sowjetrussischen und ostdeutschen Zustände« die Stalinisten »in den Augen der Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse – zu Recht – derart kompromittiert (hat), daß sie einfach nicht ›bündnisfähig‹ sind«.


      Deutlich wird mit dieser Erinnerung an Peter von Oertzens alten Artikel, was genau »uns«, Linkssozialisten und »Kommunisten-Stalinisten«, Gegner und Freunde Moskaus, jahrzehntelang getrennt hat. Und ebenso deutlich wird auch, inwiefern dieses historische Schisma heute Geschichte ist, denn die Moskauer Zentrale gibt es nicht mehr. Heute, nach dem Zusammenbruch des ehemals real existierenden Sozialismus, gibt es keine Abhängigkeit mehr von Moskau oder Ostberlin – vielleicht noch eine psychologische, aber keine soziale oder politische mehr. Auch die DKP und andere vergleichbare Strömungen sind seit über einem Jahrzehnt auf ihren je eigenen, d. h. nationalen, Klassenkampf zurückgeworfen und auf die Frage, mit welchem politisch-theoretischen Bezugsrahmen sie in denselben eingreifen sollen. Sie können diesen ihren Bezugsrahmen nicht mehr in der Logik einer bürokratischen Kaste finden und müssen jener real existierenden Klasse Rechenschaft ablegen, für die sie sich als Sozialisten engagieren. Mit diesem Sachverhalt hat sich die gesamte Grundlage unserer Diskussion nachhaltig und grundlegend verändert, denn der heutige »poststalinistische Kommunismus« hat damit nicht nur einen gemeinsamen Bezugspunkt mit dem »Linkssozialismus«, er trifft sich mit diesem auch auf gleichberechtigter Basis.


      Ist damit die Geschichte nur noch Geschichte, ist damit die Frage des Stalinismus historisch passé? Ja und nein. Ja, insofern mit dem Zusammenbruch des ehemals real existierenden Sozialismus auch der historische Stalinismus unwiederbringlich tot ist. Nein, denn die Hypothek von Gewalt und Verbrechen bleibt. Nein, denn der Stalinismus war immer auch mehr als nur dieser historisch-konkrete Stalinismus. Der Stalinismus war immer auch und vor allem eine bestimmte Form der Herrschaft von Menschen über Menschen, eine bestimmte politische Theorie und Methodik, ein bestimmtes Denken und Handeln, die in der klassischen sozialistischen Bewegung ebenso angelegt waren wie ihr Gegenteil.


      Es muß uns, wollen wir nach vorne schauen und uns der bedrückenden Last der eigenen Geschichte nicht ergeben, deswegen vor allem darauf ankommen, jenen nicht nur historischen, sondern auch politisch-methodischen Wurzelgrund freizulegen, dessen Produkt auch der historische Stalinismus ist. Nur so können wir glaubhaft machen, daß sich das, was mit dem Namen Stalin im weitesten Sinne des Wortes verbunden ist, nicht wiederhole. Dies ist sicherlich zuallererst eine ethische Frage. Es ist jedoch, produktiv gewendet, weniger eine rückwärtsgewandte als vielmehr eine eminent vorwärts gewandte Aufgabe, eine Frage politisch-theoretischer Methodik im Hier und Jetzt. Und eine solche Klärung ist zentral auch und gerade für unsere politische Theorie des Übergangs.



      2. Zur Theorie des Übergangs


      Die sozialistische Bewegung ist seit ihren Anfängen angetreten, die sich im Kapitalismus spezifisch durchsetzende Trias von Verdinglichung, Entfremdung und Ausbeutung aufzuheben. Als mehr oder weniger abstraktes Ziel ist bzw. war dies die gemeinsame Zielvorstellung aller sozialistischen Strömungen der vorletzten Jahrhundertwende, also auch dessen, was dann Reformismus genannt wurde – womit ich hier natürlich immer jenen klassischen, wirklichen Reformismus beispielsweise eines Bebel oder selbst eines Bernsteins meine. Was sozialistische Linke, seien es Anarchisten, Syndikalisten, Kommunisten, Trotzkisten, neue Linke oder was auch immer, seit damals vereint, ist ihre Ablehnung des Reformismus. Und diese historische Trennung vom Reformismus geschah entlang von Fragen der Strategie und Taktik, d. h. der Frage, wie, mit welchen Mitteln man das vermeintlich gemeinsame Ziel am besten erreichen könne (Massenstreiks, Räte, Kaderparteien etc.). Es ging und geht in dieser Diskussion um sozialistische Strategie und Taktik, also um die richtige Dialektik von Mitteln und Zweck.



      1) Daß nur wenige Tage nach der gemeinsamen Konferenz ausgerechnet jener Hans-Joachim Krusch überraschend gestorben ist, der mit Vehemenz sowohl im Vorfeld der Konferenz als auch auf derselben gerade diesen ökumenischen Sinn besonders betont hat, ist deswegen besonders bitter. Wie wenige andere verkörperte er für mich den Geist jenes Crossover, um den es auch in meinem Beitrag geht.


      2) Denken wir an Wolfgang Harich und andere, so finden sich auch im deutschen Osten entsprechende Diskussionen, die sich jedoch nur indirekt auf diese Thematik bezogen.


      3) Peter von Oertzen: »Weder Bonn noch Pankow. Zum Thema ›Volksfront‹ und ›Stalinisten‹«, in: Die Andere Zeitung (Hamburg), 9.2.1956, S. 4.


      * Morgen: Für einen Neuanfang


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      Avatar
      schrieb am 18.06.04 09:46:50
      Beitrag Nr. 2 ()
      junge Welt vom 13.05.2004

      Thema
      Für einen Neuanfang
      »Kommunismus« und »Linkssozialismus« gestern und heute. Historisches und Methodisches zur Diskussion um ein neues sozialistisches Übergangsprogramm (Teil II)
      Christoph Jünke

      Reformismus und revolutionärer Sozialismus – ich benutze im Folgenden den Begriff des revolutionären Sozialismus synonym zum Begriff des Kommunismus – setzen beide auf Demokratie, Freiheit und Solidarität als oberste Werte und Ziele auch des Sozialismus. Für den Reformismus sind jedoch Demokratie, Freiheit und sogar die Solidarität als emanzipatorische Prinzipien bereits in der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden, und zwar nicht nur als abstrakter, erst noch zu erkämpfender Wert, sondern als bereits institutionalisierte Realität. Dem Reformismus ist die sich im bürgerlichen Staat verkörpernde bürgerliche Demokratie keine bürgerliche, ist der bürgerliche Staat kein bürgerlicher, da Demokratie und Freiheit in ihm als politische Prinzipien und politische Formen bereits enthalten sind, »als Formen, die den Inhalt suchen, als Same, der Frucht tragen wird«, so Norman Geras in seiner hervorragenden Darstellung dieser Debatte.1 Und weil im bürgerlichen Staat die wahre demokratische Form bereits enthalten ist (und die Solidarität in Form des Sozialstaats), wird der Sozialismus für den Reformismus »zur Fortsetzung und Verwirklichung des Liberalismus, ist ihm gleichsam organisch, aber auch geistig verbunden, weil von den gleichen milden Idealen geleitet« (Geras).2

      Der revolutionäre Sozialismus unterstreicht dagegen – d. h. gegen den die Kontinuität betonenden Reformismus – die Notwendigkeit des Bruchs. Die politische Ordnung des Bürgertums ist zwar ein welthistorischer Fortschritt, aber eben nur bedingt ein Reich der Freiheit. Die bürgerliche Demokratie ist als liberale auch eine Verschleierung des antagonistischen Gesellschaftscharakters, da sie auf der Trennung von Ökonomie und Politik beruht.3 Die Demokratie des Marktes, so die berühmte Formulierung, verschleiert die Despotie der Fabrik, die Demokratie des Marktes und die sie garantierende formale Rechtsgleichheit lassen jene Despotie der Fabrik und des Büros, die im Arbeitsalltag herrscht, als nichtig erscheinen. Und die politischen Institutionen des Bürgertums, ihre Formen repräsentativer Demokratie, müssen gerade deswegen ebenso zerbrochen und transformiert werden wie die sozialen. Aus dieser spezifischen Gesellschaftskritik leitet sich der revolutionär-sozialistische, kommunistische Primat ab, alle politischen Kampfmittel auf das eine Ziel hin zu konzentrieren, auf den Sturz der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung. Stellt der Reformismus zwischen Zielen und Mitteln in der sozialistischen Strategiedebatte einen kausalen, auf Kontinuität setzenden Zusammenhang her und, wenn man genau ist, sogar eine Identität bzw. Untrennbarkeit von Zielen und Mitteln, so konstatiert der revolutionäre Sozialismus eine gewisse Spannung zwischen beiden. Es gibt für ihn nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Unterschied zwischen Mitteln und Zielen. Die sozialistische Revolution ist für den revolutionären Sozialismus ein qualitativer Bruch auch mit den in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Formen politischer Repräsentation, ja selbst mit den bisherigen politisch-organisatorischen Mitteln der Arbeiterbewegung. Auch Parteien und Räteorgane sind weniger Vorwegnahmen einer sozialistischen Gesellschaft innerhalb der bürgerlichen als vielmehr Kampfinstrumente gegen dieselbe. Bernstein sagte bekanntlich, daß ihm das Ziel nichts sei, der Weg alles, und Luxemburg antwortete darauf mit dem gleichen Recht, daß ihr die Bewegung nichts, aber das Ziel alles sei. Beide Statements darf man natürlich nicht allzu wörtlich nehmen, aber sie zeigen die Tendenz an, wie unterschiedlich sich die Dialektik von Mitteln und Zielen im reformistischen und im revolutionären Sozialismus gestaltet.


      Sobald jedoch in der hier mehr angedeuteten als ausführlich beschriebenen Form, Mittel und Ziel im revolutionären Sozialismus/Kommunismus latent auseinanderfallen, stellt sich mit Nachdruck die Frage des Übergangs, des Übergangs von der einen zur anderen Gesellschaft und des Zusammenhangs von Mitteln und Zielen. Den Reformismus braucht dieses Problem nicht zu beunruhigen, er findet seine Mittel und Ziele in der bürgerlichen Gesellschaft selbst und will sie – im besten, d.h. klassischen Fall – einfach vom politisch-institutionellen auch auf andere Bereiche (beispielsweise die Ökonomie) ausdehnen. Das reformistische Prinzip Hoffnung ist also, daß es ihm gelinge, die Mehrheit der Bevölkerung mittels demokratisch-parlamentarischer Mittel davon zu überzeugen, die real existierende Gesellschaft quantitativ zu demokratisieren, um damit eine qualitativ neue Gesellschaft zu erreichen. Das ist aber nicht das Prinzip Hoffnung des revolutionären Sozialismus. Er findet das eine in jener Praxis der Umwälzung, die nach Marx durch das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit mit der Selbstveränderung gekennzeichnet ist und die sich vor allem im praktischen Klassenkampf ausdrückt. Was heißt dies?


      Kapitalistische Marktvergesellschaftung beruht auf Privateigentum und Konkurrenzkampf, auf der sich selbst entfaltenden Logik des Profits. Es ist diese Profitlogik, die, wenn auch nicht automatisch, so doch dem Prinzip nach in Frage gestellt wird durch die alltäglichen Kämpfe der lohnarbeitenden Klasse um Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung und Humanisierung der Arbeitswelt. Des Einen Vorteil ist des Anderen Nachteil. Die Bedürfnisse der Produzenten sind den Bedürfnissen der sie Ausbeutenden mindestens partiell entgegengesetzt und geraten deswegen auch immer wieder aneinander. Es ist dieser antagonistische Kern kapitalistischer Produktionsverhältnisse, auf den Sozialisten ihr Prinzip Hoffnung gründen, denn er erlaubt ihnen, das sich immer wieder elementar entwickelnde Klassenbewußtsein unterdrückter und/oder ausgebeuteter Produzenten (und Konsumenten) zu politisieren.4


      Es gibt jedoch in diesem klassenkämpferischen Prozess keinen sich fatalistisch durchsetzenden Automatismus. Es gibt zwar von seiten der Arbeiterklasse eine permanente spontane Infragestellung des Kapitals, sie ist aber erstens unbeständig und zweitens reformistisch verdrehbar. Ein grundlegender Bruch mit dem Kapitalismus kann deswegen nur politisch, d. h. als bewußter und kollektiver Akt vonstatten gehen. Sozialistische Logik ist keine unmittelbar entstehende und wachsende. Sie muß vermittelt werden, und zwar, indem konkrete Individuen im elementaren Klassenkampf jene Momente herausschälen und unterstützen/propagieren, die über die unmittelbare Interessenvertretung hinausweisen und den Keim einer neuen gesellschaftlichen Logik in sich tragen. Revolutionär-sozialistisch ist, wer es versteht, die spontanen und punktuellen Verstöße gegen die herrschende Rationalität zu verstetigen und sie zu politisieren. Alle Mittel, die zu dieser Politisierung beitragen können, sind erlaubt. Alle Mittel sind erlaubt, sofern sie die Ohnmacht und Bewußtlosigkeit der lohnarbeitenden Klasse überwinden, deren Klassensolidarität und Klassenautonomie befördern und die allgemeinmenschliche Emanzipation aller unterdrückten und ausgebeuteten Schichten, Ethnien und Geschlechter beflügeln. »Bei Marx und Engels findet die Theorie, daß der Weg aus Entfremdung und Unmündigkeit in der wachsenden bewusstseinsmäßigen und praktischen Aneignung der Wirklichkeit besteht, eine notwendige Ergänzung in dem Gedanken, daß die Aneignung nur durch die Massen selbst vollzogen werden kann. Beides ist zusammengefaßt in dem Konzept einer sozialistischen Revolution als notwendigerweise Selbstbefreiung des Proletariats.« (Peter Cardorff)5


      Sozialistisch-kommunistische Tätigkeit muß sich aus diesen Gründen in die alltäglichen gesellschaftlichen Klassenkämpfe (im weitesten Sinne des Wortes) integrieren, »sie muß Übergänge zum sozialistischen Bewußtsein fördern und organisieren und an allen Aktivitäten anknüpfen, die in diese Richtung zielen« (Peter Cardorff).6 Sozialistisch-kommunistische Tätigkeit findet also in den realen Klassenkämpfen ihre spezifische Rationalität und nicht im Durchsetzungs- und Beharrungsvermögen einer Arbeiterbürokratie.7


      Eine solche sozialistisch-kommunistische Tätigkeit ist mit vielfältigen Gefahren verbunden. Unter der Last des bürgerlichen Alltags beschränken sich die einen auf den reinen Praktizismus, jene politische Praxis, die Lenin »Handwerkelei« nannte, während andere von dieser Praxis nichts wissen wollen und sich auf die intellektuelle Kritik, auf den Theoretizismus beschränken. Unter der Last des bürgerlichen Alltags passen sich die einen zuerst ans bürgerlich Gegebene an, und ordnen sich schließlich mehr oder weniger vollkommen der herrschenden Rationalität unter – einer Rationalität, die zwar nicht immer die Rationalität der herrschenden Klasse, wohl aber der herrschenden Gesellschaftsordnung ist. Andere wiederum schotten sich von dieser herrschenden Realität ab, indem sie sich eine eigene, mit der herrschenden nicht mehr vermittelte alternative Realität konstruieren – z. B. in Gegenkulturen. Unter der Last des bürgerlichen Alltags frönen die einen einem reichlich blinden Optimismus, während sich die anderen in zynischen Pessimismus flüchten.



      3. Kritik des Substitutionismus


      Eine dieser Gefahren bringt uns nun zurück zum Thema Stalinismus. Das sich im politischen Vortrupp, in der Avantgarde verkörpernde sozialistische Bewußtsein kann sich nämlich auch verselbständigen und vom Mittel des praktischen Prozesses zum Ziel desselben aufspielen. Diese Verselbständigung des Ziels findet sich im Stalinismus ausgedrückt. Historisch betrachtet hat dies sicherlich etwas mit der Tatsache der gescheiterten Revolution weltweit und in Sowjetrußland selbst zu tun, aber nicht auf diesen historischen Aspekt will ich hier hinaus, sondern auf den der politischen Theorie und Praxis, auf die Zweck-Mittel-Dialektik. Das bolschewistisch-kommunistische Konzept steht nämlich, wie der schon zitierte Peter Cardorff schreibt, von Beginn an »ständig in der Gefahr, die Partei zu einer A-Priori-Zentralinstanz der Vernunft zu verdinglichen, die das Bewußtsein als von außen wirkende Quelle in einen bewußtlosen Prozeß einführt und ihre funktionelle und programmatische Abhängigkeit von der realen Bewegung und dem Massenbewußtsein nicht mehr erkennt«8 – eine Gefahr, die bereits bei Lenin und Trotzki angelegt war, aber erst im Stalinismus voll durchbrach, d. h. zum herrschenden Prinzip wurde. Im Stalinismus spricht die unfehlbare Zentralverwaltung der Vernunft den Massen ihre Fähigkeit zu bewußter Selbstgestaltung der Gesellschaft ab, formalisiert die eigene Rationalität und schottet diese hermetisch gegen jedwede Infragestellung ab. Dies ist das, was Trotzkisten und Linkssozialisten als politischen Substitutionismus bezeichnen: Eine erziehungsdiktatorische Stellvertreterpolitik, die eine verheerende Wirkung auf die sozialistische Bewegung des 20. Jahrhunderts hatte. Der uns gemeinsamen Sache des revolutionären Sozialismus wurde vor allem damit unermeßlicher Schaden zugefügt, »daß so viele Anhänger nicht sorgfältig genug die Frage geprüft haben, wie beispielsweise dadurch, daß kritisches Denken zum Schweigen gebracht und Lügen systematisch gefördert werden oder dadurch, daß Revolutionäre ermordet und die polizeilichen Kontrollmittel perfektioniert werden, das sozialistische Ziel näher rückt. All dem liegt natürlich nicht einfach moralische Verworfenheit, sondern ein komplexeres Phänomen zugrunde. Es wurde durch die Tendenz bestärkt, die Endziele der sozialistischen Bewegung in gewisser Weise als eine metaphysische Gewißheit aufzufassen, die durch die unfehlbare Weisheit der ›Führung‹ oder die unerbittlichen Gesetze der Geschichte garantiert wird und einer Zukunft übereignet ist, welche durch heutige Handlungen oder Verbrechen nicht kompromittiert werden kann.« (Norman Geras)9


      Im politischen Substitutionismus des Stalinismus haben sich Emanzipations- und Fortschrittsidee der sozialistischen Bewegung verkehrt. Hat die bürgerliche Freiheit die persönliche Abhängigkeit der feudalen Gesellschaftsordnung zerstört, um an deren Stelle die sachlich-materielle Abhängigkeit vom Akkumulationsprozeß zu setzen, so befreite die ehemals realsozialistische Freiheit die Arbeiterklasse von materieller Unsicherheit und Verelendung um den Preis, ihr die individuelle, formale Freiheitsstufe zu nehmen. Fortschrittlich war und ist dies nur bedingt. Der marxistische Fortschrittsbegriff hatte immer zwei Komponenten. Zum einen bezeichnet er die Steigerung der materiellen Produktivkräfte zur Erreichung von mehr Existenzmitteln und mehr Existenzsicherheit für die Menschen. Dies hat der Stalinismus durchaus erreicht. Doch gleichzeitig sollte dieser Fortschritt untrennbar verbunden sein mit einem realen Fortschritt in der Qualität der sozialen Beziehungen, einem »Aufstieg von niedrigeren zu höheren Formen menschlicher Vergesellschaftung« (Helmut Fleischer).10 Und genau dies hat der Stalinismus nicht nur nicht bewältigt, er ist an diesem Punkt sogar hinter die Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft zurückgefallen. Anders ausgedrückt: Die Produktivkraftentwicklung als Mittel zum Zweck einer höheren, solidarischen Vergesellschaftungsform hat sich im Stalinismus zum Zweck selbst stilisiert und das zu emanzipierende Subjekt technokratisch erschlagen. Der Mensch blieb auch hier ein bloßes »Anhängsel seiner geronnenen Objektivationen« (Cardorff).11 Die Zweck-Mittel-Dialektik wurde gesprengt, die Mittel zum neuen Ziel, zur Herrschaft der Bürokratie.


      Und dieses Grundprinzip gilt übrigens nicht nur im klassischen Hochstalinismus, sondern auch im späteren »real existierenden Sozialismus«, im Liberalstalinismus. Dort wurde die Herrschaft des technokratischen Objektivismus nicht abgeschafft, sondern nur gemildert und ergänzt durch eine gewisse Ethisierung, durch sozialistische Moralkodizes und einen gewissen individuellen Freiraum. Doch auch hier haben wir es mit einem bürokratischen Technokratismus zu tun, der ganz und gar nicht dazu angetan war, breite Teile der Bevölkerung zu aufrechten, begeisterten Sozialisten werden zu lassen.


      Die sozialistische Umwälzung kann, anders als alle bisherigen Revolutionen in der Geschichte, nur als eine eminent bewußte und selbsttätige Tat der Bevölkerungsmehrheit gegen eine sie ausbeutende und erniedrigende Minderheit gelingen. Die moderne lohnarbeitende Klasse hat – hier irrt der Rekurs auf das »Kommunistische Manifest« – mehr zu verlieren als bloß ihre Ketten. Ihre Entscheidung zum Sozialismus ist nicht die »Freiheit von«, sondern die »Freiheit zu«. Anders können die Menschen gar nicht die ungeheuren Aufgaben in Angriff nehmen, die vor ihnen stehen. Sozialismus stellt erstmals den aktiven, selbstbewußten Menschen in den Mittelpunkt von Arbeit und Leben, nicht als Objekt, sondern als Subjekt. Und da es durchaus einen inneren Zusammenhang zwischen Ziel und Mittel gibt, wird sich der Sozialismus nicht als Hegelsche »List der Vernunft« gegen deren Subjekte durchsetzen lassen. Und weil dies so ist, das sei nur nebenbei bemerkt, lassen sich die Verbrechen der »kommunistischen« Weltbewegung auch nicht durch den Vergleich mit den Verbrechen der bürgerlichen Gesellschaft oder durch Vergleiche mit der vorbürgerlichen Geschichte (Christentum, Sklavenaufstände etc.), also mit dem, was Marx und Engels noch als »menschliche Vorgeschichte« ansahen, relativieren.12


      Die Hypothek des Stalinismus ist gewaltig und nicht nur Geschichte. Daß die verschiedenen Strömungen des alternativen Linkssozialismus es zwar besser, aber nicht gut genug gemacht haben, kann heute ebensowenig bestritten werden. Unsere gemeinsame Aufgabe ist deswegen, neu zu beginnen, uns gemeinsam zu verständigen, worum es Sozialistinnen und Sozialisten eigentlich geht, welche gesellschaftlichen Ziele sie, d. h. wir anstreben (Aufhebung von Entfremdung, Entmündigung und Ausbeutung) und von welchen grundsätzlichen Werten wir uns dabei leiten lassen wollen (Solidarität und Humanismus). Erst von hier aus können die Umrisse eines neuen sozialistischen Übergangsprogramms und die daraus abgeleiteten Übergangsforderungen theoretisch wie praktisch erarbeitet werden. Eine solche Übergangsprogrammatik wird sich dabei auch jener alles andere als einfachen Dialektik von Mitteln und Zielen zu stellen haben, die uns jahrzehntelang nicht zu Unrecht bis aufs blutige Messer geschieden hat.


      1) Norman Geras: Rosa Luxemburg. Kämpferin für einen emanzipatorischen Sozialismus, Westberlin 1979, S.144 (Neuauflage: Köln 1998).


      2) Ebenda.


      3) Vgl. hierzu vor allem Ellen Meiksins Wood: Democracy against Capitalism. Renewing Historical Materialism, Cambridge 1995.


      4) Vgl. hierzu auch meinen Beitrag »Von den neuen Kriegen zur sozialistischen Erneuerung«, in: Marxistische Blätter 5/03, S.70ff.


      5) Peter Cardorff: Studien über Irrationalismus und Rationalismus in der sozialistischen Bewegung. Über den Zugang zum sozialistischen Handeln, Hamburg 1980, S.20.


      6) Ebenda, S.67.


      7) Zur Diskussion der Arbeiterbürokratie vgl. Ernest Mandel: Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie, Köln 2000.


      8) Peter Cardorff, a.a.O., S.68.


      9) Norman Geras, a.a.O., S.136.


      10) Helmut Fleischer: Marxismus und Geschichte, Frankfurt/M. 1969, S.81.


      11 Peter Cardorff, a.a.O., S.129.


      12) Vgl. hierzu meinen Beitrag »Auf zum letzten Gefecht? Zur Kritik an Domenico Losurdos Neostalinismus«, in: Utopie kreativ. 118, August 2000, S.778ff.


      * In der kommenden Woche antwortet an dieser Stelle Hans Heinz Holz auf Jünkes Text


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      Avatar
      schrieb am 18.06.04 09:48:48
      Beitrag Nr. 3 ()
      junge Welt vom 21.05.2004

      Thema
      »Linkssozialismus« oder Kommunismus?
      Eine Antwort auf Christoph Jünkes Diskussionspapier »›Kommunismus‹ und ›Linkssozialismus‹ gestern und heute«
      Hans Heinz Holz

      * In der vergangenen Woche (jW vom 12. und 13. Mai) veröffentlichten wir die überarbeitete Fassung eines Vortrags von Christoph Jünke, Redakteur der Sozialistischen Zeitung (SoZ), den dieser auf einer von einem breiten Unterstützerkreis getragenen Tagung am 24. Januar in der Karl-Liebknecht-Schule der DKP in Leverkusen gehalten hat. Im Rahmen der Diskussion um ein neues sozialistisches Übergangsprogramm setzt Jünke sich in seinem Diskussionspapier mit dem Verhältnis von ›Kommunismus‹ und ›Linkssozialismus‹ auseinander. Es antwortet ihm der Philosoph Hans Heinz Holz, Mitglied der Programmkommission der DKP.

      Christoph Jünke möchte, so schreibt er in seinem Aufsatz über »Kommunismus und Linkssozialismus«, den »Bruderkampf zwischen revolutionären Sozialisten« überwinden und herausstellen, »was in Zukunft wieder mehr oder weniger uns vereinen könnte«. Er meint, an einem frühen Aufsatz des späteren sozialdemokratischen Kultusministers Peter von Oertzen anknüpfend, der das Verhältnis zur Sowjetunion als Stein des Anstoßes identifiziert hatte, mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa sei dieser Streitpunkt erledigt. Also könne man sich nun auf den Klassenkampf gegen den gemeinsamen Feind, das kapitalistische System der Ausbeutung und Unterdrückung, konzentrieren; das heißt, die Frage nach Strategie und Taktik auf einen gemeinsamen Boden stellen. Und dies müsse doch die Mobilisierung der Arbeiterklasse sein, denn sie sei das Subjekt der Verwirklichung des Sozialismus.


      So weit, so gut. In der Tat ist der erste Versuch, in der Sowjetunion den Sozialismus aufzubauen, ein Stück Geschichte der kommunistischen Bewegung und bedarf deshalb historischer Analyse, die den Verlauf dieses Aufbauprozesses in seinem Heroismus, in seinen objektiven Widersprüchen und subjektiven Fehlern, in seinen Erfolgen und in seinem schließlichen Niedergang (der ja nicht mit Gorbatschow begann!) historisch-materialistisch begreift. Eine solche Analyse kann dazu führen, daß wir aus der Geschichte lernen und damit zu Schlußfolgerungen für gegenwärtige und zukünftige Strategieentwürfe kommen.


      Was aber tut Jünke? Nach seiner Absichtserklärung, »nicht die Gegenwart mit der Geschichte totzuschlagen«, schwingt er die »Stalinismus-Keule«, um damit die Kommunisten moralisch und politisch totzuschlagen. Er deklariert, die Frage des Stalinismus sei »historisch nicht passé«, »die Hypothek von Gewalt und Verbrechen bleibt«, die Solidarität der Kommunisten mit der Sowjetunion sei Verrat an der Solidarität der Arbeiterbewegung gewesen. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, und die er nicht wörtlich, aber der Sache nach zieht, würde lauten: Wer dieser Totalkritik an der damaligen Politik der Kommunistischen Parteien nicht zustimmt, ist auch heute nicht »bündnisfähig«.


      Denn er hängt an strategischen Vorstellungen, die dem verwerflichen »Stalinismus« entsprungen sind. Mit einem raffinierten Dreh wird so das altbekannte, vom Klassenfeind mit allen propagandistischen Mitteln aufgebaute Feindbild wieder eingeführt. Der Tenor von Jünkes Aufsatz hält sich ganz und gar im Rahmen der uns vertrauten Schemata des Antikommunismus.


      Darauf mag man mit berechtigter Empörung reagieren, wie André Vogt in seinem Leserbrief (siehe jW vom 18. Mai 2004 – d. Red.), der durchaus die richtigen Gesichtspunkte nennt. Aber in der schlagwortartigen Kürze eines Briefs liegt das Risiko, daß die auf den Kern reduzierten Argumente einfach als kommunistische Orthodoxie abgetan werden. Um eine Auseinandersetzung mit Jünke zu führen, die historisch und philosophisch-politiktheoretisch genau ist, muß man sich darauf einlassen, was er den »politisch-methodischen Wurzelgrund« nennt. Marx und Engels wußten, an die Wurzel gehen bedeutet, radikal sein.



      »Hände weg von der Sowjetunion«


      Mit welchen Schwierigkeiten der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion auch belastet war – Entwicklungsrückstand der Ökonomie und der »Zivilgesellschaft« (wie man heute sagt, was man aber im präzisen Sinn von Antonio Gramsci verstehen sollte!), aggressive Einkreisungsstrategien der kapitalistischen Mächte, Handelsembargos, Aufkommen des Faschismus in Europa und analoger Formen der politischen Praxis in Japan: Die Oktoberrevolution setzte das Zeichen für den Beginn einer neuen Epoche, in der der Übergang zum Sozialismus real möglich (und nicht nur ein theoretisches Konstrukt) war. Die Sowjetunion war das erste Land, das die Kapitalisten entmachtete, die Landwirtschaft aus feudalen Verhältnissen in kollektive Produktionseinheiten überführte, innerhalb eines Jahrzehnts den Analphabetismus beseitigte und eine Massenkultur entwickelte, breite soziale Dienstleistungen einrichtete – unter großen Opfern und Anstrengungen, aber auch großer Zustimmung der Bevölkerung. Die Sowjetunion wurde zum Heimatland und zur Hoffnung der Arbeiterklasse in der ganzen Welt, und die dauernde Bedrohung durch imperialistische Staaten wurde von den Arbeitern überall als Teil des internationalen Klassenkampfs erfahren. Die Sowjetunion war die einzige Großmacht – ein Sechstel der Erde –‚ die den Weg zum Sozialismus eingeschlagen hatte. Sie veränderte die weltpolitische Lage von Grund auf. Solidarität mit der Sowjetunion – wieviel Mängel sie auch haben mochte, wie tiefe Widersprüche in ihr wirksam waren – bedeutete die klare und unzweideutige Parteilichkeit im internationalen Klassenkampf. Davon kann ein Kommunist sich nichts abhandeln lassen! Das galt und gilt gerade und besonders von der Zeit, in der Stalin Generalsekretär der KPdSU war. Denn mit seinem Namen, als Symbol der Partei, verband sich die ebenso rigorose wie unbeugsame Kampfbereitschaft, die Existenz der Sowjetunion zu erhalten, um auf dem Weg zur Ausbreitung des Sozialismus einen weltweit zu respektierenden und zu fürchtenden Machtfaktor einsetzen zu können. Nationale und internationalistische Interessen trafen sich, wie die siegreichen revolutionären Bewegungen von China und Vietnam bis Cuba zeigen; und zuweilen überkreuzten sie sich auch, und die Kommunisten in westlichen Staaten mußten dann den Preis bezahlen. Sie waren auch dazu bereit, weil ohne die Existenz der Sowjetunion ihr Kampf noch schwerer gewesen wäre. Welcher Kommunist war nicht von Zorn und Trauer erfüllt, als nach dem Zweiten Weltkrieg die griechische Revolution im Stich gelassen wurde, weil die Sowjetunion sich 1946 keinen bewaffneten, gar atomaren Konflikt mit dem Westen hatte leisten können? Wer will Thorez oder Togliatti einen Vorwurf daraus machen, daß sie den bitteren Verzicht auf einen sozialistischen Umsturz in Frankreich und Italien in Kauf nahmen, weil sie die weltpolitischen Kräfteverhältnisse richtig einschätzten?


      Nur ein Sozialdemokrat wie Peter von Oertzen kann darin einen Verrat an der Arbeiterklasse sehen – wie »links« er einmal gewesen sein mag; wohin er ging, sagt ja wohl etwas über die politische Klarheit seines Anfangs. Auch Helmut Schmidt und Gerhard Schröder waren einmal »linke« Studentenfunktionäre! Jünke weiß doch wohl, wen er sich da als Kronzeugen holt!


      Ich sprach von den inneren Widersprüchen, die von Anfang an den Aufbau des Sozialismus begleiteten. Die Oktoberrevolution, von den Volksmassen akzeptiert und mitgetragen, war die Leistung einer politischen Minderheit, des kommunistischen Teils der Arbeiterklasse. Die Partei kam‚ ob sie wollte oder nicht, in die Lage, die Führung der Massen und die Organisation von Gesellschaft und Staat zu übernehmen – was ihr nun Jünke in gut trotzkistischer Manier als »Substitution« ankreidet. Die führende Rolle der Partei (die natürlich nicht verfassungsrechtlich festgeschrieben werden darf, sondern immer wieder in der Praxis erobert werden muß) ist nicht das, was man ihre Avantgarde-Rolle nennt, sondern deren politische Folge unter russischen Bedingungen. Avantgarde besagt, daß man die theoretisch fortgeschrittensten, am weitesten entwickelten Positionen vertritt und für ihre Durchsetzung wirbt, kämpft und auch Opfer auf sich nimmt. Dieses Selbstverständnis müssen Kommunisten haben, woher nähmen sie sonst ihre Kraft, für ihre Anschauungen unnachgiebig einzutreten und auch Verfolgungen auf sich zu nehmen? Wir sind doch keine Anhänger des Pluralismus, der meint, jede Variante habe den gleichen Wahrheitsanspruch (d. h. sie sei gleichgültig, wie schon Hegel feststellte). Für Gleichgültiges setzt man nicht sein Leben ein.


      Das bedeutet aber auch, daß unter den Bedingungen innerer Uneinheitlichkeit und äußerer Bedrohung der organisierte fraktionelle Kampf um die Parteilinie eine Gefahr für die Existenz des noch fragilen sozialistischen Aufbaus war. Es wurde diskutiert – man lese nur die Auseinandersetzungen mit Bucharin nach! Aber es mußte auch eine beschlossene Linie dann konsequent durchgeführt werden. Die Kämpfe innerhalb der Partei, die auch persönliche Machtkämpfe waren, aber doch immer um eine Differenz hinsichtlich der Parteilinie gingen, nahmen konterrevolutionäre Tendenzen an. Sie wurden mit revolutionärer Härte geführt – wie auch in der Französischen Revolution der Terror eine Phase der Krise und Stabilisierung des gesellschaftlichen Umsturzes gewesen ist.



      Die Verbrechen des »Stalinismus«


      In diesen Kämpfen ist viel Unrecht geschehen, und zumeist waren es Kommunisten, die davon betroffen wurden. Denn es handelte sich ja um Kontroversen über die kommunistische Strategie. Es steht außer Frage, daß dieses Unrecht zu verurteilen ist. Ich sage sogar, daß es die Pflicht jedes Staatsbürgers und schon ganz und gar jedes Kommunisten gewesen wäre, sich dem Unrecht zu widersetzen, wo es geschah und wo er es sah – wenn ich auch weiß, daß dieses moralische Gebot aus menschlicher Schwäche, aus Angst, aus Opportunismus, aus Vorteilserwartungen oft genug nicht eingehalten oder verdrängt wird. Es ist eine historische Aufgabe, die Ursachen zu ergründen, die eine massenhafte terroristische Repression hervorgebracht haben und ermöglichten, ungeachtet des humanistischen Gesellschaftsziels, das doch in anderen Bereichen die Tätigkeit von Staats- und Parteiorganen leitete. Aus solcher Ursachenforschung müssen wir Einsichten gewinnen, wie dies in zukünftigen revolutionären Zeiten, in denen doch immer Gewalt angewandt wird und unvermeidlich ist, verhindert werden kann.


      Unrecht wird immer einem Individuum zugefügt. Grausamkeit trifft einen Menschen, der Opfer wird. Redlichkeit und Menschlichkeit sind Haltungen, die sich von Fall zu Fall bewähren. Abstrakt lassen sie sich formulieren als moralische Grundsätze, konkret werden sie immer nur im einzelnen Ereignis. Darum können sie als Anforderung auch immer nur an den einzelnen Menschen gestellt werden, der an einem Ereignis teilhat. Die kategoriale Ebene der Moralität ist die des Individuellen, der Privatheit. Das entwertet sie nicht, moralische Maßstäbe sind für jeden als der, der er ist, verbindlich; sie müssen in seine Entscheidungen eingehen, für die er verantwortlich ist.


      Aber diese lndividualitätsbindung des Moralischen schließt seine Relativierung ein. Menschen leben nicht isoliert als einzelne, sondern in Gemeinschaften. Das Wohl aller erfordert zuweilen die Beschränkung, ja das Opfer des einzelnen. Die organisierende Bewegungsform geschichtlicher Einheiten ist eine andere als die bestimmende Motivation einer persönlichen Handlungsweise. Geschichtliche Prozesse ausschließlich oder vorwiegend nach Normen der Moralität zu beurteilen, ist die Sicht des Kleinbürgers, der nur die eigene Person (und verallgemeinert die aller Eigenpersonen) im Blick hat. Auch das hat schon Hegel deutlich genug auseinandergesetzt (und die kleinbürgerlichen liberalen und sozialdemokratischen Ideologen sind darum auch durchweg Antihegelianer).


      Es gibt eine Spannung zwischen Moralität und Historizität, die jeder politisch Handelnde aushalten muß. Sartre und Merleau-Ponty haben darüber Wichtiges gesagt. Besonders in revolutionären Zeiten ist diese Spannung groß. Robespierre und St. Just übten eine terroristische Herrschaft im Namen der Tugend aus. Das ist nicht einfach beiseite zu wischen; man muß nachdenken über den darin liegenden, objektiven Widerspruch und wie er gelöst oder wenigstens gemildert werden kann. Jünke stellt sich diesem Problem nicht. Wie jeder Kleinbürger von Stirner bis Adorno spricht er nicht von geschichtlichen Strukturen und Gesetzlichkeiten, sondern von Werten. Als Marxist, der er sein möchte, sollte er sich darüber im klaren sein, daß Werte in Fetischisierungsvorgängen entstehen und ideologiekritisch auf die in ihnen angelegte Perspektive befragt werden müssen. Erst dann können wir den Stellenwert und die unabdingbare Grenze von Moralität in geschichtlichen Verläufen bestimmen. Sonst wird Moral zur politischen Waffe des Klassenfeinds, wie die Diskussion über die Menschenrechte zeigt. Als die Sowjetunion sich auf die moralistische Diktion der OSZE einließ, hatte sie die ideologische Schlacht gegen die Bourgeoisie verloren. Dann wurden aus Klassenfragen Gorbatschows allgemeine Menschheitsprobleme. Die Internationale dagegen weiß, was das Menschenrecht ist, das sie erkämpft!


      Ich bin bereit, mit Jünke darüber zu diskutieren, ob seine (bourgeoise) politisch-theoretische Strategie Vorzüge gegenüber dem klassischen Marxismus besitzt. Ich glaube, das widerlegen zu können. Das Gespräch sollte auf jeder Ebene geführt werden. Aber als »revolutionären Sozialisten« – ob als Kommunist oder als »Linkssozialist« – kann ich ihn nicht sehen. Doch daß in einer bürgerlichen Gesellschaft, in der die Menschen vom citoyen zum bourgeois reduziert werden, seine Polemik für die vereinzelten Individuen eine gewisse Verführungskraft haben mag, will ich zugeben. Darum muß ihm widersprochen werden – und zwar nachdrücklich.


      * Die Debatte wird in loser Folge fortgesetzt


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      Avatar
      schrieb am 18.06.04 09:50:18
      Beitrag Nr. 4 ()
      junge Welt vom 18.06.2004

      Thema
      Gegen perspektivlosen Dauerstreit
      Einige grundsätzliche Überlegungen zur Debatte um Christoph Jünkes Diskussionspapier
      Robert Steigerwald

      * Auf Christoph Jünkes in der jW vom 12. und 13. Mai veröffentlichtes Diskussionspapier zum Thema »›Kommunismus‹ und ›Linkssozialismus‹ gestern und heute« antwortet im folgenden Robert Steigerwald, Philosoph und Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung (Wuppertal). Steigerwald war einer der Initiatoren der von der Marx-Engels-Stiftung und einem breiten Unterstützerkreis im Januar diesen Jahres veranstalteten Konferenz in Leverkusen, auf der die Diskussion um ein neues sozialistisches Übergangsprogramm im Mittelpunkt stand.

      Da ich einige Wochen zur Kur im Ausland war, konnte ich die jW-Debatte im Anschluß an Christoph Jünkes Beitrag erst spät kennenlernen. Da ich aber, indirekt, als Anreger der Leverkusener Konferenz, auf die einige Male in den Debatten Bezug genommen wird, auch »Mitverantwortung« für die jetzige Diskussion trage, möchte ich mich, obgleich verspätet, in sie einschalten. Dies die letzte Vorbemerkung: Ich hatte diesen Text im wesentlichen vor der Veröffentlichung des Textes von Uwe-Jens Heuer geschrieben (siehe jW vom 11. Juni).

      Ich kann einige kritische Bemerkungen zu Christoph Jünkes Aufsatz nicht unterdrücken, dies auch als Antwort auf Briefe einiger meiner Genossen, die nach Jünkes Beitrag schrieben, da sähe ich doch, daß Unternehmen dieser Art (gemeinsame Konferenz in Leverkusen) sinnlos seien und es schon ganz und gar unangebracht sei, daß ich nicht »härter« im Dialog mit den trotzkistischen Partnern reagiert hätte. Dies habe Christoph Jünke geradezu herausgefordert, so zu schreiben, wie er es getan hat, wobei er in keiner Weise auf das Thema der Leverkusener Tagung – die Rolle und Bedeutung des Übergangsproblems im Wirken und auch in den Debatten der Linkskräfte in unserem Land – eingegangen sei.



      Keinerlei Ausgrenzung


      Im Vorfeld einer leider durch den Absprung linkssozialistischer Kräfte verhinderten breiten Marxismus-Konferenz habe ich alle mir bekannten Richtungen, Strömungen usw. zu einer Vorbesprechung eingeladen und dabei auch die SoZ-Mitarbeiter Manuel Kellner und Angela Klein kennengelernt. Ich schlug ihnen die dann in Leverkusen zustande gekommene Konferenz zur Übergangsproblematik vor, in der ich das Hauptfeld der Auseinandersetzungen zwischen den kommunistischen Kräften (nicht nur) unseres Landes sah. Beide stimmten zu. Ich habe mit Hans-Joachim Krusch diese Konferenz vorbereitet, wobei unser Motto war: »Keinerlei Ausgrenzung«. Ich hatte also auch den Rotfuchs nach Leverkusen eingeladen, von dessen Redaktion sollte Ingo Wagner an der Debatte teilnehmen, was durch die Arbeit an der Endredaktion seines PDS-kritischen Buches dann nicht möglich war. Die Konferenz selbst kam zustande, es fand ein fairer Dialog statt, bei dem grundlegende Differenzen in einer unaggressiven Weise angesprochen wurden. Zu dieser Konferenz, deren Materialien jetzt im Heft 3/2004 der Marxistischen Blätter veröffentlicht sind, sprach Christoph Jünke – für meinen Geschmack zumindest voreilig! – über Positionen, die uns einst trennten und die uns in naher Zukunft einigen könnten. Und meine obige Bemerkung »für meinen Geschmack« zu »voreilig«, bezog sich auf die realen Verhältnisse. Wenn Christoph Jünke diese so sieht, wie in seinem Aufsatz für die jW, so kann ich dieses »in naher Zukunft« Sich-wieder-zusammentun schon gar nicht kapieren!


      Jünkes Referat in Leverkusen wurde frei gehalten. Für die Publikation in den Marxistischen Blättern wurde es überarbeitet und für die junge Welt noch einmal redigiert. Es unterschied sich also beachtlich von jenem Beitrag, der den Ausgangspunkt der jW-Debatte bildete.

      Danach hat Jünke für die Sozialistische Zeitung (SoZ) ein Interview mit mir gemacht, das ich bewußt im Stil der Leverkusener Konferenz gestaltete, das heißt, ich enthielt mich jeder aggressiven Stellungnahme, und da, wo ich zu widersprechen hatte, tat ich das »dezent«.

      Ich hatte im Vorfeld der Leverkusener Tagung den Gedanken geäußert, Christoph Jünke hat ihn übernommen, wir hätten nicht das Recht, mit den Problemen der Vergangenheit die Zukunft totzuschlagen, sondern müßten alles in unserer Kraft Stehende versuchen, die gegen Imperialismus und Krieg wirkenden Kräfte zu möglichst gemeinsamem Handeln zusammenzubringen. Wobei ich an Bündnismöglichkeiten dachte, nicht, wie manche Kritiker unterstellen, an die Bildung einer gemeinsamen Organisation. Das ist nach wie vor meine Position.



      Falsche Voraussetzungen?


      Nun kommt dieser Aufsatz von Christoph Jünke, in welchem er zwar das obige Motto aufgreift, aber dann – und dies festzustellen war Hans Heinz Holz völlig im Recht – genau das tut, was wir gemäß diesem Motto nicht tun sollten. Hätte ich diesen Artikel vor dem Interview gekannt, wäre dieses anders verlaufen! Denn das sei gesagt: Jener Partei, über die Christoph Jünke schreibt, gehöre ich nicht an, auch nicht die anderen DKP-Genossen, die am Leverkusener Dialog beteiligt waren. Jünke mag auf Grund der Art, wie wir DKP-Vertreter in der Leverkusener Konferenz und ich in dem genannten Interview zu strittigen Fragen Stellung nahmen, den Schluß gezogen haben, uns fehle es an Argumenten, an Positionen – das aber wäre ein großer Fehler! Wie es auch ein großer Fehler wäre anzunehmen, der Kampf um eine emanzipierte Gesellschaft sei in der Erbpacht des Trotzkismus. Wir haben in Leverkusen durchaus kritisch Position bezogen, da aber Jünkes Beitrag nicht in jener Weise ausgearbeitet war, die er dann in der jW veröffentlichte, waren unsere kritischen Gegenargumente nur dem dort gehaltenen Referat angemessen! Willi Gerns hat in seiner Antwort an Christoph Jünke sehr deutlich gemacht: Wenn die Diskussion auf diesem Niveau geführt werden soll, das Jünke nun zu erreichen versucht, so wäre die Konferenz in Leverkusen völlig sinnlos gewesen, und wir hätten sie erst gar nicht organisiert. Zu derlei Auseinandersetzungen haben wir jetzt, bei der Schwäche der Linken und der Stärke des Feindes, von dem ich meine, daß wir ihn gemeinsam als Feind sehen, keinen Grund.



      Grundsätzliche Feststellungen


      Ich möchte einige für mich (und sicher auch für meine Genossen) grundsätzliche Punkte festhalten: Es war die Rote Armee der von Stalin geführten Sowjetunion und deren industrielle Macht, die es möglich machte – wie Thälmann einst sagte –, »dem Hitler das Genick zu brechen«. Und ohne diese Voraussetzung könnten wir heute weder gemeinsam noch kontrovers miteinander umgehen! Man möge sich einmal die Einschätzung der Sowjetunion unter Stalins Regime in Isaac Deutschers Stalin-Biographie anschauen, um zu sehen, wie wirkliche, gründliche Historiker an Themen dieser Art herangehen. Das bedeutet nicht, daß wir die Augen davor verschließen wollten oder dürften, daß die Naziarmee nicht bis vor die Tore Moskaus gekommen wäre, hätte Stalin die von mehreren Seiten an ihn ergangenen Hinweise über den bevorstehenden deutschen Angriff (Sorge, von der Schulenburg, Harnack, Schulze-Boysen usw.) nicht sträflich mißachtet, dies ist durchaus noch ergänzungsfähig!

      In der Zeit nach 1945 – ich erinnere sicherheitshalber an Winston Churchills Rede in Fulton 1946 und James F. Byrnes’ Rede in Stuttgart im gleichen Jahr – stand im Kampf gegen einen neuen verheerenden Krieg nur eine einzige europäische Macht für den Frieden, das war die sozialistische Sowjetunion. Jeder wirkliche Kommunist, auch gar mancher andere, wie etwa Jean-Paul Sartre, wußte, daß es für ihn nur eine einzige – nur diese einzige! – Option gab: an der Seite der Sowjetunion zu stehen und für den Frieden zu kämpfen. Manche mögen damals gemeint haben, wenn man in dieser Situation die Sowjetunion »kritisch solidarisch« behandle oder zwar anerkenne, daß sie ein Arbeiterstaat sei, in dem aber eine verkommene Bürokratie herrsche, die es zu beseitigen gelte (das wäre unter den gegebenen Umständen und angesichts faschistischer Bedrohung – objektiv! – Konterrevolution gewesen) – so sei man dennoch nicht im Lager des Antikommunismus zu Hause. Das mag, was persönliche Motive mancher Kritiker angeht, so gewesen sein, aber es gibt eben auch Objektives, und da waren solche Kritiker stets den aggressiven westlichen Kräften willkommen. Auch das bedeutet nicht, »großzügig« über Aktivitäten der sowjetischen Seite hinwegzusehen, die dem Zustandekommen breitester Bündnisse nicht förderlich waren. Die im Kontext der »Zwei-Lager-Konzeption« eingenommene Haltung »Wer nicht für mich ist, ist wider mich!« gehört zu solchen Hindernissen.


      Die Niederlage der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Kräfte ist eine Niederlage der gesamten Linken – das sieht ja auch Manuel Kellner so (siehe jW vom 2. Juni). Sie hat deren Kampfbedingungen insgesamt verschlechtert, und das doch nicht, weil die Sowjetunion jenes monströse System gewesen wäre, als das sie in den Ausführungen Jünkes erscheint. Es ist mittlerweile auch dem rechtesten unter den aktiven Gewerkschaftern klar, daß zu den Gründen, welche die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt haben, das Fehlen des »dritten Verhandlungspartners« gehört.


      Daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten das zum Imperialismus alternative System darstellten, kann man schon allein daran erkennen, daß der Imperialismus, egal von wem regiert, seine gesamte politische, ideologische und militärische Macht zusammenballte, um den Sozialismus von der Weltkarte verschwinden zu lassen. Auch das bedeutet wiederum nicht, die Mängel und Fehler in diesem alternativen System zu ignorieren, es geht mir hier stets nur um die Hauptaspekte der Sache.


      Was die Probleme einer emanzipierten Gesellschaftsordnung angeht, so haben wir Kommunisten mit Willkürmaßnahmen, mit Fehlern und Verbrechen in der eigenen Geschichte umzugehen, aus der Kritik daran zu lernen und diese Lehren in unseren Konzeptionen für einen künftigen Sozialismus und – heute – für den Charakter unserer Partei zu beachten. Das haben wir – nicht ohne ernste Probleme in der eigenen Partei hervorzurufen – mehrfach getan und die Ergebnisse auch publiziert. Ich erinnere an die »Sozialismusvorstellungen der DKP – Sozialismus – die historische Alternative zum Kapitalismus«, an die in mehreren Auflagen verbreitete Schrift von Willi Gerns »Sozialismus – Bilanz und Perspektive«, auch an ein entsprechendes Kapitel in meinem Buch »Kommunistische Stand- und Streitpunkte« (worin ich mich auch mit der innerparteilichen Kritik an diesen Vorstellungen auseinandersetzte). Das haben auch Hans Heinz Holz und Willi Gerns in ihren Antworten an Christoph Jünke kurz, aber prinzipiell zutreffend getan. Da hätten wir doch Diskussionsstoff zur Genüge, und der bezöge sich genau auf das Thema emanzipierte Gesellschaft.


      Zu einer Reihe wichtiger historischer Fragen gibt es, wen wundert es, recht unterschiedliche Auffassungen. Ich habe zu einigen dieser Fragen in meinem Referat in der Leverkusener Konferenz Stellung bezogen. So halte ich Kritiken etwa an der Volksfrontpolitik der Komintern für nicht zutreffend, indem sie genau den gleichen Fehler enthalten, den die Komintern vor dem VII. Weltkongreß beging und der doch, bei Licht besehen, in der Nichtbeachtung der Übergangsproblematik bestand! Auch das wäre Diskussionsstoff! Oder nehmen wir die von Hans Heinz Holz angeführten Beispiele der Entwicklung in Italien und Frankreich nach 1945. Angenommen, die IKP und die FKP hätten sich damals für den Weg der Revolution entschieden, wie wäre das denn, angesichts des Kräfteverhältnisses, der amerikanischen Armee im Land, der ausgebluteten, völlig zerstörten Sowjetunion, abgelaufen? Ins offene Messer des Feindes zu rennen, das ist kein Heldentum, sondern bodenloser Leichtsinn. Aber das alles sind Fragen, die man, ohne etwas zu verkleistern, sachbezogen diskutieren kann. Ob wir dabei zu Übereinstimmungen kommen, weiß ich nicht, denn für einige dieser Streitfragen fehlt die Möglichkeit, das Kriterium der Praxis anzuwenden.


      Es gibt noch einen Punkt, der einer nüchternen Überlegung bedarf und womit ich mich an jene wende, egal, in welchem Lager sie zu Hause sind, die das ganze Vorhaben einer gemeinsamen Konferenz für unzulässig ansehen, weil sie die Gegensätze zwischen den drei diskutierenden Kräften für antagonistisch halten. Unabhängig davon, ob diese Sichtweise richtig ist, möge man sich folgendes vor Augen führen. Mag ja sein, daß es viele und vielerlei Teufel in der Welt gibt, aber daß der Oberteufel und die Oberteufelei der Imperialismus mit seinen verschiedenen Trabanten und Satrapen ist, das sollte schon unsere gemeinsame Auffassung sein können. All jene, die das auch so sehen, sollten willens und fähig sein, über den eigenen Schatten zu springen und ebenso gemeinsam gegen den Oberteufel zu handeln, wie das die Kräfte der Anti-Hitler-Koalition, sich teilweise gegenseitig für Unterteufel haltend, gegen den Oberteufel dann doch taten. Das wäre meines Erachtens Politik, das andere, den gemeinsamen Kampf im Namen irgendwelcher Prinzipien abzulehnen, wäre das Gegenteil davon. Wenn ich es richtig sehe, zielen auch die Argumente von Uwe-Jens Heuer in diese Richtung. Vor dem Hintergrund solcher Bemerkungen frage ich jene, die meinen, Unternehmen wie solche in Leverkusen seien letztlich sinnlos, ob sie sich wirklich im Recht sehen? Und es stellt sich mir eine weitere Frage: Führt es wirklich weiter, jenen aggressiven Dauerstreit vergangener Jahrzehnte fortzusetzen, den es zwischen Vertretern der in Leverkusen debattierenden Kräfte gab? Ich kann hierfür keinen Grund sehen. Hat denn dieser Dauerstreit etwas gebracht? Hat er zu Korrekturen von Positionen geführt? Hat er dem Gegner – ich gehe immer noch davon aus, daß wir gemeinsam im Imperialismus den wirklich zu bekämpfenden Feind sehen – Schaden zugefügt? Ich sehe nichts dergleichen.


      Darum schlage ich vor, darüber nachzudenken und die Diskussion nicht im Stil einer Klopffechterei fortzusetzen. Genauer: Wer das wollte, müßte sich eben geeignetere Partner suchen, ich wäre dazu nicht geeignet. Wer den sachlichen Dialog weiterführen will, möge sich über geeignete Themen Gedanken machen und darüber, wie wir, trotz des nötigen Meinungsstreits, den gemeinsamen Gegner im Auge behalten.


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      Avatar
      schrieb am 18.06.04 09:53:47
      Beitrag Nr. 5 ()
      junge Welt vom 11.06.2004

      Thema
      Erhellung der Gegenwart
      Statt Schlagabtausch Streit um marxistische Analyse. Debatte
      Uwe-Jens Heuer

      * Die durch Christoph Jünkes Diskussionspapier ausgelöste Debatte (siehe jW vom 12./13. Mai und die anschließenden Beiträge von Hans Heinz Holz (21.Mai), Willi Gerns (26.Mai) und Manuel Kellner (2.Juni) konzentrierte sich bislang im wesentlichen auf Geschichtliches: die Rolle Stalins und das Verhältnis deutscher Kommunisten zur Sowjetunion. Der Rechtswissenschaftler Uwe-Jens Heuer, Bundessprecher des Marxistischen Forums der PDS, faßt in seinem nachstehenden Beitrag die Hauptlinien der bisherigen Debatte noch einmal zusammen und richtet den Blick auf die gegenwärtigen politischen Herausforderungen für die Linke; die Frage nach der (künftigen) Rolle des Staates steht hierbei im Mittelpunkt.


      Am 12. Mai wurde in der jW von Christoph Jünke (IV. Internationale) eine Debatte um ein sozialistisches Übergangsprogramm eröffnet. Er ging vom epochalen Bruch 1989/91 und dem folgenden Durchmarsch des Neoliberalismus aus. Jetzt müßten Linke politisch-strategische Konsequenzen ziehen, mit »ökumenischem Hintersinn« suchen, was uns vereinen könnte, und so, wie er am 13. Mai fortsetzte, den revolutionären Bruch vorbereiten. Manuel Kellner (ebenfalls Sozialistische Zeitung) stellte am 2. Juni in seiner Antwort auf den kritischen Beitrag von Hans Heinz Holz (DKP) zur Gemeinsamkeit fest, daß durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Verbündeten »die gesamte Linke ... einen Rückschlag erlitten« habe. Es gehe um gleichberechtigte Diskussion. Keine marxistische Strömung habe Grund, »auf die anderen überheblich herabzublicken.« Jünke wollte vor allem zur Geschichte sprechen, wobei es ihm nicht darum gehe, mit ihrer Hilfe die Gegenwart totzuschlagen, sondern sie vielmehr »zu erhellen«. So weit, so gut.


      Streitpunkte


      Allerdings setzten sich Jünke und Kellner dann fast ausschließlich kritisch mit der anderen Seite, den »Stalinisten« auseinander. Kronzeuge war für Jünke der junge Linkssozialdemokrat Peter von Oertzen von 1956. Er habe als Stalinisten alle bezeichnet, die der Sowjetunion anhängen und sie rechtfertigen. Mit ihnen sei kein Bündnis möglich wegen ihres »Kadavergehorsams« gegenüber Sowjetrußland und dem daher rührenden, immer aufs neue geübten »Verrat an der Solidarität der Arbeiterbewegung« sowie ihres Interesses »an der Aufrechterhaltung der DDR«. Es handele sich, schrieb er am 13. Mai, im Stalinismus um nichts anderes als eine »erziehungsdiktatorische Stellvertreterpolitik«. Auch im »Liberalstalinismus« gehe es um einen »bürokratischen Technizismus«. Inzwischen sei mit der Sowjetunion der Bezugspunkt für die »Stalinisten« verschwunden, ohne daß allerdings deren Erlösung winke. Es bleibe die gewaltige »Hypothek von Gewalt und Verbrechen«. Es bleibe »ein bestimmtes Denken und Handeln«. Der »politisch-methodische Wurzelgrund« müsse freigelegt werden, die Geschichte, schließt er, habe uns »jahrzehntelang nicht zu Unrecht bis aufs blutige Messer geschieden«.


      Kellner wirft Holz Idealismus vor, die soziale Differenzierung in der Sowjetunion wird am Maßstab des Modells der Pariser Kommune gemessen. Es habe riesige Privilegen und Selbstherrlichkeit der Bürokratie gegeben, von revolutionärer Außenpolitik habe bald keine Rede mehr sein können. Die historische Bilanz der Bürokratenherrschaft sei – im Gegensatz zur »Gesamtbilanz des ersten großen Anlaufs zum Bruch mit der kapitalistischen Klassenherrschaft« – verheerend gewesen.


      Zur eigenen Geschichte fällt nur ein einziger Satz bei Jünke: »Die verschiedenen Strömungen des alternativen Linkssozialismus« hätten »es zwar besser, aber nicht gut genug gemacht«.


      Von einer »ökumenischen«, gleichberechtigten Bilanz kann nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Nur der Ostweg bedarf der Kritik. Die Parallele zur Haltung der herrschenden Geschichtstheorie ist kaum zu übersehen. Jörg Roesler registriert ihre Sicht auf die deutsche Geschichte als »Charakterisierung der ostdeutschen Entwicklung als ›Sonderweg‹ oder ›Umweg‹, über den man nicht mehr viele Worte zu verlieren brauche, nachdem er jetzt Gott sei Dank beendet sei und vergessen werden könne«. Er »verlangt eine Geschichtsbetrachtung von Ost und West in Augenhöhe« (»DDR, Bundesrepublik: Der verweigerte Vergleich«, UTOPIE kreativ (164), Juni 2004, S. 490).


      Holz hat diese Aufforderung zur »Totalkritik an der damaligen Politik der KP« als Voraussetzung der Bündnisfähigkeit zu Recht abgelehnt. Aber seine Position bleibt defensiv. Es sei viel Unrecht geschehen, massenhafte Repression, aber die Ursachen bleiben im Dunkeln. Gewalt sei unvermeidlich. Er lehnt die Beurteilung geschichtlicher »Prozesse ausschließlich oder vorwiegend nach Normen der Moralität« als kleinbürgerlich ab. Für Willi Gerns (DKP) muß statt von »Kadavergehorsam« von brüderlicher »Verbundenheit«, die »tiefster Überzeugung« entsprang, gesprochen werden (jW vom 26. Mai). Auch er sagt nichts zu den Ursachen der »Fehlentwicklungen«, die Probleme werden etwa durch die Feststellung von »kritischen Anmerkungen Rosa Luxemburgs in einigen Fragen« und durch die Formulierung, daß »manche Emigranten ... zu Opfern von Repressalien wurden« kaum genügend benannt. Holz und Gerns haben nicht in gleicher Münze heimgezahlt, aber den Schritt zur »Erhellung der Gegenwart« ebenfalls nicht getan. Nur so aber kann statt eines Schlagabtauschs eine sinnvolle Strategiediskussion geführt werden.


      Globale Perspektive


      Zu diesem Zweck sind die Feststellungen von Marx und Engels wieder aufzunehmen, daß dem herrschenden System auf der Ebene der Weltpolitik entgegengetreten werden muß. Der Ausbruch eines einzelnen Landes erfolgte 1917 in einer historisch einmaligen Situation. Heute wird die Welt von einer weltweiten neoliberalen, exakter: imperialistischen Offensive auf ökonomischem, ideologischem und militärischem Gebiet bestimmt. Schwieriger ist es mit der Antwort auf die Frage nach der Alternative. Marx und Engels sahen als Alternative den Sozialismus, also eine Ordnung, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben war. Daß eine solche Gesellschaft möglich ist, hat die Geschichte gezeigt, daß sie schließlich nicht konkurrenzfähig war, ebenfalls.


      Die gegenwärtige weltweite Offensive des Kapitals verstärkt die Gefahr des Rückfalls in die Barbarei, bevor eine sozialistische Alternative in greifbare Nähe rückt. Wenn wir also auch nicht wissen, ob die sich zuspitzenden Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft rechtzeitig Kräfte hervorbringen, die eine neue sozialistische Gesellschaft schaffen, wann und auf welchem Wege dies geschieht, so bleibt das Wachhalten der Vorstellung einer möglichen – nicht sicheren – Alternative Voraussetzung jeglichen konsequent antikapitalistischen Kampfes und der glaubwürdigen Ausarbeitung von Reformalternativen.


      Zur Frage nach dem Weg könnte unsere Geschichtsdebatte einen Beitrag leisten. Der rationelle Kern dieser Debatte scheint mir, aller Schuldvorwürfe entkleidet, die Auseinandersetzung um die Rolle des Staates zu sein. War die mit der Oktoberrevolution eingeleitete Staatswerdung (eines Teils) der Arbeiterbewegung ein Fortschritt oder ein Irrweg? Wenn es sich um eine Niederlage aller Linken handelte, muß da doch trotz aller Mängel, Defizite usw. etwas Positives, Wertvolles verlorengegangen sein. Und weiter gefaßt, welche Bedeutung können staatliche Konflikte generell in der heutigen Welt, im Kampf gegen den Imperialismus haben? Es genügt also m. E. nicht, wie Kellner jetzt, einfach wieder die Stunde der Pariser Kommune schlagen zu lassen. Es gibt in dieser Frage theoretisch Aufzuarbeitendes nicht nur für uns Ostbelastete, sondern auch für die in sich vielfältig gespaltene Westlinke.


      Ordnung ohne Staat?


      Das geht nicht ohne einen kritischen Rückblick auf Marx und Lenin. Marx hatte 1844 die Notwendigkeit einer radikalen Revolution entwickelt, die das Privateigentum beseitigt, die politische zur sozialen Revolution macht, und dann die politische Hülle wegwirft (MEW 1, 408 f.). 27 Jahre später, 1871, sieht er in der Pariser Kommune eine Bestätigung dieser theoretischen Konzeption. Es war möglich, wenn auch nur für 72 Tage, eine Ordnung ohne die alte bürokratisch-militärische Maschinerie zu gestalten. Die Arbeiterklasse hatte spontan Formen entwickelt, die den Staat ersetzen konnten. Die Kommunalverfassung würde »dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ›Staat‹, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat« (MEW 17, 341).


      Marx hat das Gebäude dieses Entwurfs der neuen politischen Ordnung ohne Staat auf einem unsicheren Grund errichtet. Das betraf nicht nur die einmalig günstigen Umstände, sondern vor allem die zu bewältigenden politischen und ökonomischen Widersprüche. Er hatte Gewaltanwendung gegen die Feinde der Kommune gefordert, die Diktatur des Proletariats, aber war sie mit der konsequenten unmittelbaren Demokratie zu vereinbaren? Die Probe auf die Realität, auf die dauerhafte Lebensfähigkeit war noch abzulegen.


      Unvermeidliche Bürokratie


      In den berühmten Aprilthesen, die Lenin unmittelbar nach seiner Ankunft in Rußland verkündete, nahm er das Projekt der Kommune voll auf. Er forderte statt der parlamentarischen Republik »Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft, Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines guten Arbeiters hinaus« (LW 24, 5–6). Lenin zitierte sogar die Formulierung von Engels, daß sie in mancher Hinsicht »schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr« sein werde (ebd. 52 f.). Auch in dem im August 1917 verfaßten Werk »Staat und Revolution« stand erneut das Projekt der Kommune im Mittelpunkt, allerdings mit widersprechenden konkreten Forderungen verbunden. »Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein«(ebd. LW 25, 488). An anderer Stelle war davon die Rede, den Kommunestaat mit den Errungenschaften des Staatskapitalismus zu verbinden (ebd. 369 f.).


      Lenin wollte einerseits, den tiefsten Sehnsüchten der unter dem Krieg, dem reaktionären Beamtentum, der Herrschaft der Gutsbesitzer leidenden Menschen entsprechend, den »Schmarotzer Staat« verabschieden und damit die Massen zur Revolution aufrufen. Auf der anderen Seite wollte er in der internationalen Diskussion der Marxisten »seine« Revolution legitimieren. Und schließlich wußte er, daß es ohne Diktatur, ohne staatliches Eigentum nicht abgehen würde, was notwendig der Selbstregierung widersprach.


      Schon wenige Monate nach der Oktoberrevolution war offensichtlich, daß es ohne einen Staatsapparat, ohne eine Schicht von »Bürokraten« nicht gehen werde. Der Bürgerkrieg, begleitet vom Kriegskommunismus, bedurfte der Bürokratie. Lenin wußte, daß Rußland nicht reif für den Sozialismus war. Die Neue Ökonomische Politik (NÖP) sollte das Überleben der Sowjetmacht unter den Bedingungen einer nach wie vor kapitalistisch beherrschten Welt sichern. Man mußte mit dem Apparat auskommen, wie er war. Im Entwurf einer Rede Lenins Ende 1922 ist zu lesen: »Der Statsapparat überhaupt: er ist unter aller Kritik; unter dem Niveau der bürgerlichen Kultur«. In seinen letzten Aufzeichnungen hielt er, verzweifelt, fest, die Forderung nach Einheit des Apparats werde »von demselben Apparat gestellt, den wir »vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt haben« (LW 36, 572, 590). Der Weg der NÖP wurde bald abgebrochen. Die drohende Intervention, die letzte lag erst zehn Jahre zurück, die Kulakenstreiks, die Kulturlosigkeit und fehlende Rechtsstaatlichkeit im Verein mit Charaktereigenschaften Stalins machten die sich dann entwickelnde exzessive Herrschaft der Bürokratie schrittweise unvermeidlich.


      Der neue Anlauf nach 1945 – volksdemokratischer Weg, XX. Parteitag der KPdSU, Demokratisierungsversuche und neue ökonomische Systeme – brachte grundlegende Verbesserungen. Der entscheidende Kampf wurde auf dem Feld der wissenschaftlich-technischen Revolution ausgefochten und ging verloren. Die sozialistischen Staaten Europas hatten sich vor allem durch den Rüstungswettlauf und die Unfähigkeit zu strukturellen Reformen immer mehr den Gesetzen des Weltmarktes untergeordnet, ohne der Konkurrenz des Westens standhalten zu können.


      Widerlegte Theoreme


      Jedenfalls zwei Thesen von Marx sollten wir jetzt für historisch widerlegt ansehen. Das betrifft einmal das rasche Fortwerfen der politischen Hülle nach der siegreichen proletarischen Revolution, das baldige Absterben des Staates. Der Verlauf des »großen Ausbruchs« gab kaum Anhaltspunkte für die Herausbildung eines Staates »im nicht eigentlichen Sinne«. An die Stelle der vom Privateigentum hervorgebrachten Übel waren andere getreten, die mit der Übermacht des Staates verbunden waren.


      Der Staat ist nicht minder zählebig als die Gesetze des Marktes. Selbst Ernest Mandel schrieb: »In letzter Instanz kann das Problem nur dann richtig gestellt und gelöst werden, wenn die vereinfachende Gegenüberstellung von ›schwarz‹ (Bürokratisierung) und ›weiß‹ (Selbstherrschaft der Arbeiter) ersetzt wird durch ein dialektisches Verständnis« (»Geld und Macht. Eine marxistische Theorie der Bürokratie«, Köln 2000, S. 104). Wir sollten uns wohl für die absehbare Zukunft von dem Ziel einer Gesellschaft ohne Macht und Herrschaft verabschieden, wie es im Marxschen Modell der Pariser Kommune formuliert worden war, aber neu über Demokratisierung nachdenken.


      Widerlegt ist zweitens die Annahme von Marx und Engels von der sich ständig verstärkenden Zentralisierung des bürgerlichen Staates und die damit verbundene Auffassung, daß es keine demokratischen Verbesserungen geben könne, aber auch die Vorstellung Bernsteins und Kautskys von der ständigen Entwicklung der Demokratie. Erst nach 1945 entwickelte sich erstmals für eine längere Periode eine in bestimmtem Umfang auf Integration zielende Staatsmacht in Gestalt der bürgerlichen repräsentativen Demokratie. Das war dem Scheitern des Faschismus, den Kämpfen der linken Bewegung, der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, aber auch der Systemkonkurrenz geschuldet.


      Der Nord-Süd-Gegensatz


      Gegenwärtig ist die Chance möglicher Gegenkräfte in den kapitalistischen Metropolen nicht groß. Wenn der parlamentarische Kampf nicht mit einer kräftigen außerparlamentarischen Bewegung verbunden ist, dann besteht die große Gefahr, daß jeder Zuwachs an echter oder scheinbarer Macht in den bestehenden Strukturen zu einem Verlust an linker Kraft und schließlich zur völligen Selbstaufgabe. führt. Auch die Regierungsbeteiligungen der PDS zeugen von dieser Problematik.


      Die innerimperialistischen Widersprüche können, wie die letzten Jahre zeigen, eine bestimmte Einschränkung US-amerikanischer Ambitionen bewirken, eine prinzipiell andere Politik jedoch nicht herbeiführen. Der internationale Hauptgegensatz aber ist heute der Nord-Süd-Gegensatz, der durch die kapitalistische Globalisierung vertieft wird. Marx und Engels hatten seinerzeit alles auf das Proletariat und zwar auf das Proletariat der führenden Industriestaaten gesetzt. Lenin sah das schon erheblich differenzierter, bezog die Widersprüche zwischen diesen Staaten und den Ausgebeuteten und Unterdrückten in den Kolonien, ja sogar der dortigen Bourgeoisien mit ein. In der Welt wächst das Proletariat weiterhin. Gleichzeitig ist die Reduzierung auf eine einzige Gegenkraft fast immer unzulässig. Der islamische Fundamentalismus ist auch ein Produkt der weltweiten neoliberalen Offensive. Es gibt eine Vielzahl sogenannter Nichtregierungsorganisationen, die sich gegen die kapitalistische Globalisierung wenden.


      Etablierung von Gegenkräften


      Von erheblichem Gewicht bleiben die Nationalstaaten. Vor allem der Krieg gegen den Irak hat deutlich gemacht, mit welchem Argwohn die staatliche Etablierung von Gegenkräften betrachtet wird. Die ständig überarbeitete Liste von Schurkenstaaten ist dafür ein deutliches Indiz. Dazu gehört Kuba oder das Bündnis von Militär und Armen in Venezuela unter Hugo Chávez. Die langfristige Besorgnis der USA aber richtet sich auf Rußland und noch stärker auf China. Die geschichtliche Entwicklung des Sozialismus lehrt uns, die Gefahren, die von einer Übermacht des Staates ausgehen können, nicht zu unterschätzen. Andererseits ist und bleibt der Staat, neben – seltenen – unmittelbaren Massenaktionen die einzige Kraft, die sich dem ungebrochenen Wirken der ökonomischen Gesetze entgegenzustellen vermag.


      Noch wird vor allem auf ökonomische Kraft und militärische Lösung gesetzt. Auf die Dauer aber wird mit diesen Methoden der sich vertiefende Konflikt zwischen den USA sowie ihren Verbündeten und den »Barbarenvölkern« (Zbigniew Brzezinski) nicht zu lösen sein. Früher oder später wird der Druck auf eine andere Lösung, vor allem auf die Herstellung einer neuen Weltwirtschaftsordnung, so zunehmen, daß der Norden über eine grundlegende Wende nachzudenken gezwungen sei wird. Dann kann es allerdings schon zu spät sein.


      Ich habe hier ein Angebot gemacht. Nicht der Kampf bis aufs blutige oder ideologische Messer, nur der Streit um Analysen kann noch Hoffnung geben.


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      Avatar
      schrieb am 18.06.04 10:51:33
      Beitrag Nr. 6 ()
      Was steht denn da drin? (wenn ich "junge Welt" lese habe ich schon eine Vorstellung);)

      Wer soll denn diese Textwüsten lesen?
      Avatar
      schrieb am 18.06.04 11:29:29
      Beitrag Nr. 7 ()
      #6

      Selber durchlesen bleibt dir nicht leider nicht erspart.

      Man bekommt so einen guten Eindruck was in linken Kreisen gedacht wird.

      Insofern ist der Threadtitel nicht ganz exakt.
      Avatar
      schrieb am 18.06.04 11:31:09
      Beitrag Nr. 8 ()
      junge Welt vom 26.05.2004

      Thema
      »Kadavergehorsam« gegenüber Moskau?
      Über das Verhältnis von KPD und DKP zur Sowjetunion. Anmerkungen zum Referat von Christoph Jünke
      Willi Gerns

      * Das Diskussionspapier des SoZ-Redakteurs Christoph Jünke zu »›Kommunismus‹ und ›Linkssozialismus‹ gestern und heute. Historisches und Methodisches zur Diskussion um ein neues sozialistisches Übergangsprogramm« (junge Welt vom 12. und 13. Mai 2004) hat verschiedene Reaktionen hervorgerufen, darunter eine Antwort des Philosophen und Mitglieds der Programmkommission der DKP Hans Heinz Holz (jW vom 21. Mai). Im folgenden dokumentieren wir Willi Gerns’ »Anmerkungen« zu Jünkes Text. Gerns ist Mitglied der Redaktion der Marxistischen Blätter, der »Marx-Engels-Stiftung e.V.« und sitzt im Kuratoriumsvorstand der »Gedenkstätte Ernst Thälmann e.V.«. Von 1968 bis 1990 war er Präsidiumsmitglied des Parteivorstands der DKP. *


      Zum Referat Christoph Jünkes habe ich bereits während der Diskussion auf der Leverkusener Tagung Einwände vorgetragen. Im folgenden möchte ich auch hier einige kritische Anmerkungen machen.


      Jünke hat zum Konferenzthema »Übergangsforderungen im Kampf um den Sozialismus« kaum etwas beigetragen, sondern im wesentlichen über ein anderes Thema, den »Stalinismus« referiert. Dazu soll nur soviel gesagt werden, daß ich von diesem pauschalisierenden und antikommunistisch besetzten Terminus nichts halte. Ich ziehe es vor, die geschichtlichen Leistungen wie die Deformationen und Verbrechen, die es in der Zeit der Führung Stalins in der Sowjetunion gegeben hat sowie ihre Folgen für die UdSSR, die anderen sozialistischen Länder und die kommunistische Weltbewegung konkret zu benennen, ihren objektiven und subjektiven Ursachen auf den Grund zu gehen und zu versuchen, daraus Schlußfolgerungen für kommunistische Politik heute und künftige sozialistische Entwicklungen zu ziehen.1


      Ein fragwürdiger Kronzeuge


      Hier will ich mich auf Anmerkungen zu den Vorwürfen beschränken, die Jünke mit den zitierten Aussagen Peter von Oertzens und ihrer Kommentierung gegen die KPD bzw. die DKP erhebt. Da ist die Rede von »bedingungsloser Abhängigkeit« von der Sowjetunion und dem daher rührenden »Verrat an der Solidarität der Arbeiterbewegung«, von der »moralischen und politischen Korruption der KPD«, dem Kadavergehorsam gegenüber einer fernen Zentrale« u.ä. Hätten wir – die Teilnehmer der DKP – auf der Tagung genauso tief und rückwärtsgerichtet in die Mottenkiste der zurückliegenden Auseinandersetzungen zwischen den mit der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten verbundenen Kommunisten und den Trotzkisten gegriffen – und dort entsprechende Munition zu finden wäre uns wahrlich nicht schwergefallen –, so hätten wir uns die Tagung schenken und die gerade begonnene Debatte sofort wieder beenden können. Offensichtlich hat das trotzkistische Spektrum – oder genauer gesagt Christoph Jünke noch Schwierigkeiten damit, eine sachliche, in die Zukunft weisende Diskussion unter Linken zu führen.


      Wenn Jünke sich als Kronzeugen gegen die KPD und Vertreter eines »revolutionären Sozialismus« ausgerechnet Peter von Oertzen ausgesucht hat, kann man darin wohl nur ein geradezu klassisches Eigentor sehen. War Oertzen zu dem Zeitpunkt, als er den Artikel publizierte (Mitte der fünfziger Jahre), doch Funktionär der SPD, die sich aktiv an der Restauration des Monopolkapitalismus in der Bundesrepublik beteiligte und sich in der internationalen Klassenauseinandersetzung bedingungslos auf die Seite des US-Imperialismus geschlagen hatte, der den Kalten Krieg anheizte und den heißen Krieg gegen die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten vorbereitete. In der Bundesrepublik war die antikommunistische Hysterie kaum noch zu überbieten. Die Freie Deutsche Jugend Westdeutschlands war wegen ihres Kampfes gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik schon einige Jahre verboten, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und andere demokratische Organisationen wurden kriminalisiert, und das Verbot der KPD wurde gerade durchgepeitscht. Der »revolutionäre Sozialist« von Oertzen lieferte mit seinen zitierten Verleumdungen der KPD dem Adenauer-Regime dafür die Munition von »links«. Mir scheint, daß angesichts dieses Verhaltens die Keule vom »Verrat an der Solidarität der Arbeiterbewegung«, die er in seinem Artikel gegen die KPD schleudert, als Bumerang auf ihn selbst zurückfällt. Nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit bin ich heute mit solchen Stempeln allerdings sehr vorsichtig. Außerdem weiß ich nicht, wie Oertzen selbst zu seinen damaligen Verleumdungen der KPD steht und ob er besonders glücklich darüber ist, daß Jünke sie wieder ausgegraben hat. In der genannten Zeit gehörten von der SPD geführte Landesregierungen jedenfalls zu denjenigen, die die Verbote gegen die KPD und andere linke und demokratische Organisationen besonders rigoros durchsetzten. Oertzen wurde später Minister in einer solchen Regierung.


      Die Kommunisten und die UdSSR


      Kommen wir aber zum Verhältnis der KPD bzw. der DKP zur Sowjetunion. In der Tat waren wir deutschen Kommunisten stets aufs engste mit Sowjetrußland bzw. dann der Sowjetunion verbunden. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg – letztere ungeachtet kritischer Anmerkungen in einigen Fragen –, die junge KPD haben den Sieg der Oktoberrevolution und die Sowjetmacht begeistert begrüßt. Die KPD hat sich mit großem Enthusiasmus in der internationalen Bewegung »Hände weg von Sowjetrußland!« gegen die Versuche der imperialistischen Mächte engagiert, die Sowjetmacht in der Wiege zu ersticken. Materielle Unterstützung für das unter den Folgen des Krieges und des Bürgerkrieges sowie die vom Zarismus ererbte Rückständigkeit leidende Sowjetland wurde organisiert, kommunistische Facharbeiter aus Deutschland halfen beim Aufbau. Die KPD warnte – besonders nach der Machtübertragung an die Faschisten durch das deutsche Großkapital – unermüdlich vor der heraufziehenden Gefahr des Krieges gegen die Sowjetunion. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands hatte sie dann maßgeblichen Anteil an der Organisierung der »Bewegung freies Deutschland«. Deutsche Kommunisten standen im Widerstand gegen den Faschismus in Deutschland, in den besetzten Gebieten und an der Front an der Seite der Sowjetarmee. Nach der Befreiung durch die Sowjetunion haben sie in der DDR einen antifaschistisch-demokratischen und dann sozialistischen Staat aufgebaut, der eng mit der Sowjetunion verbunden war. Wir Kommunisten im Westen haben aktiv die Friedenspolitik der Sowjetunion bekannt gemacht, ihre Initiativen gegen die Spaltung Deutschlands durch die westlichen Besatzungsmächte und ihre Helfer in Westdeutschland, für den Abschluß eines Friedensvertrages und gegen die Remilitarisierung.


      Wir haben Solidarität gegeben und Solidarität empfangen. Deutsche Kommunisten erhielten die Möglichkeit, in der Sowjetunion die Theorie von Marx, Engels und Lenin zu studieren. Sie fanden Zuflucht vor der Verfolgung durch den Klassengegner. Wobei die besonders schmerzhafte Tatsache nicht übergangen werden soll, daß manche Emigranten, die sich vor den Nazis in die UdSSR retten konnten, dann dort zu Opfern von Repressalien wurden. Während der faschistischen Diktatur konnte die KPD in der Sowjetunion ihre Führungsstrukturen sichern und erhielt materielle Unterstützung. Durch den mit ungeheuren Opfern erkämpften Sieg der UdSSR über Nazideutschland wurden unsere Genossen aus den KZs und Zuchthäusern befreit. Gestützt auf diesen Sieg und die Hilfe der Sowjetunion entstand die Möglichkeit, einen antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufzubauen. Und natürlich lagen die sowjetischen Initiativen gegen die Spaltung Deutschlands und die Remilitarisierung nicht nur im Interesse der Sowjetunion, sondern entsprachen unseren ureigensten Anliegen.


      Moskau-Hörigkeit?


      War das alles Ausdruck einer »Abhängigkeit« der KPD und DKP von Moskau, wie Oertzen und Jünke im Gleichklang mit den antikommunistischen Ideologen des Großkapitals behaupten, gar ein Zeichen von »Kadavergehorsam gegenüber einer fernen Zentrale«? Wer hätte KPD und DKP, ihre Mitglieder und Funktionäre denn zum »Kadavergehorsam« zwingen können? Haben deutsche Kommunisten etwa aus »Kadavergehorsam« an der Verbundenheit mit der Sowjetunion festgehalten und sind dafür in die KZs und Zuchthäuser der Nazis und die Gefängnisse des Adenauer-Regimes gegangen bzw. haben Berufsverbote in Kauf genommen? Eine seltsame Vorstellung!


      Die Verbundenheit mit der Sowjetunion war für uns Herzenssache. Sie entsprang tiefster Überzeugung. Ihr zugrunde lag die gemeinsame marxistisch-leninistische Weltanschauung, das gemeinsame sozialistisch-kommunistische Ziel, die Erkenntnis der herausragenden Rolle, die den Ländern des realen Sozialismus – und dabei besonders der Sowjetunion als dem ersten und dann stärksten sozialistischen Land – für unsere eigenen Kampfbedingungen und dem revolutionären Weltprozeß insgesamt zukam. Wir Kommunisten wurden und werden zu Recht nicht nur vom Klassengegner, sondern auch von den arbeitenden Menschen mit der Sowjetunion, der DDR, dem realen Sozialismus identifiziert. Ihre Leistungen haben unsere Kampfbedingungen verbessert, ihre Fehlentwicklungen haben sie erschwert und erschweren sie auch heute noch. Darum ist es unverzichtbar, die objektiven und subjektiven Ursachen, die geschichtlich bedingten Umstände der Fehlentwicklungen aufzudecken und daraus Schlußfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Zugleich müssen die weltgeschichtlichen Leistungen des realen Sozialismus wachgehalten werden.


      Errungenschaften des Sozialismus


      Trotz der unbestreitbaren Deformationen in der Entwicklung der Sowjetunion und dann auch der anderen sozialistischen Länder haben diese Bedeutendes zur Verwirklichung der Ziele einer sozialistischen Gesellschaft geleistet. Heinz Jung, der ehemalige Leiter des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt am Main, gehörte zu denjenigen, die sich schon sehr früh durch den Schock der Niederlage nicht den Blick für die Leistungen des zusammengebrochenen Sozialismus in Europa verstellen ließen. Anfang 1990 hat er in seinem Buch »Abschied von einer Realität« bei deutlicher Benennung der Fehlentwicklungen des Sozialismus in der DDR dessen historische Leistungen gewürdigt:


      Das auf Planung der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft bauende Wirtschaftswachstum; die Sicherheit und Geborgenheit des Individuums im Kollektiv; die Überwindung der Furcht vor den sozialen Wechselfällen des Lebens durch die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit; die Herauslösung der Grundbedürfnisse, wie des Wohnens, aus den Kreisläufen von Kosten und Rentabilität und der Versuch ihrer Befriedigung nach den Prinzipien der Bedarfswirtschaft; das (aus ökonomischen Gründen sicherlich zu hinterfragende, aber in seiner sozialen Ausrichtung zu würdigende) Subventionssystem, das Pauperisierung ausschloß und für die sozial Schwachen da war; die Stellung der Arbeiter und Angestellten in den Betrieben mit ihren weitgehenden Rechten; der Arbeitsplatz als Lebensraum, die Einrichtungen in den Betrieben von den Polikliniken bis zu den Kinderkrippen, von den Ferienheimen bis zu bevorzugt belieferten betrieblichen Einkaufseinrichtungen; die Beseitigung des an Geld gebundenen Bildungsprivilegs; die Befreiung der Kunst und Kultur von der Vorherrschaft des Kommerzes; die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen, nichtdiskriminierende, gleichberechtigte Wirtschaftsbeziehungen mit den Entwicklungsländern.


      Vieles könnte ergänzt werden: die Selbstbestimmung der Frauen bei der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs durch eine vorbildliche Fristenregelung und andere Fortschritte auf dem Wege, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Frauenemanzipation zu schaffen; die Fürsorge der Gesellschaft für die Kinder und Jugendlichen, die u.a. darin zum Ausdruck kam, daß jedes Kind einen Platz im Kindergarten erhalten konnte und jeder Schulabgänger eine Lehrstelle bekam; der das ganze gesellschaftliche Leben in der DDR durchdringende Antifaschismus u.a. Und vor allem muß hervorgehoben werden, daß es zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gelungen war, für vier Jahrzehnte die Macht des Großkapitals in einem Teil Deutschlands zu überwinden.


      Die für die DDR genannten Leistungen gelten mehr oder weniger für alle Länder des realen Sozialismus. Mit Blick auf die Sowjetunion müssen zusätzlich die Fortschritte im freundschaftlichen Zusammenleben der Nationen in diesem Vielvölkerstaat genannt werden, in dem nationalistische Exzesse vor dem Sozialismus gang und gäbe waren, die heute nach seiner Zerschlagung erneut das Land erschüttern; die enormen Leistungen, durch die eines der rückständigsten Länder Europas in kurzer Zeit zu einer führenden Weltmacht wurde.


      Der reale Sozialismus hat jedoch nicht nur in den Ländern dieses Gesellschaftssystems selbst gewaltige Errungenschaften für die arbeitenden Menschen gebracht, er hat auch in den übrigen Teilen der Welt die gesellschaftliche Entwicklung positiv beeinflußt. Ohne diese Systemalternative hätte die Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht den Lebensstandard und die demokratischen Rechte erringen können, über die sie verfügte und die ihr nach der Niederlage des Sozialismus wieder Stück für Stück durch die Bourgeoisie entrissen werden. Ebenso hätte sich der Prozeß der politischen Befreiung in den ehemaligen Kolonien und Halbkolonien kaum in dem Tempo vollzogen, in dem er sich durchgesetzt hat.


      Zu den unbestreitbaren Leistungen des Sozialismus gehören die Zerschlagung des Faschismus durch die Sowjetunion und die Tatsache, daß durch seine konsequente Friedenspolitik die Welt ein halbes Jahrhundert vor einem neuen Weltkrieg bewahrt werden konnte. Die Existenz des realen Sozialismus – und vor allem der Sowjetunion – hat dem ungehinderten Wirken der Raubtiergesetze des Imperialismus in bestimmten Bereichen und in gewissem Maße Schranken gesetzt. Was das für die arbeitenden Menschen überall in der Welt bedeutete, das wird erst heute in seinem ganzen Gewicht deutlich, da der Imperialismus nach der Niederlage seines Widerparts zur ungezügelten Alleinherrschaft zurückgekehrt ist.


      Prinzipielle Solidarität


      Trotz der unbestreitbaren Deformationen in der Entwicklung des realen Sozialismus und der Verbrechen, die es in einer bestimmten Periode der Entwicklung der UdSSR gegeben hat – und die niemanden mehr schmerzen als uns Kommunisten – hatten und haben wir allen Grund, auf die Leistungen der Kommunisten in diesen Ländern stolz zu sein und keinen Grund, wegen unserer engen Verbindung mit diesen Ländern vor »revolutionären Sozialisten« wie Oertzen oder Jünke uns erst einmal in Sack und Asche zu kleiden, bevor wir als Gesprächspartner anerkannt werden.


      Seit dem Sieg der russischen Oktoberrevolution haben die imperialistischen Mächte nichts unversucht gelassen, die sich real abzeichnende Alternative zu ihrem Ausbeutersystem wieder zu zerstören. Von der Intervention der 14 imperialistischen Staaten über den Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands und den Kalten Krieg bis zu der konterrevolutionären Konzeption des »Wandels durch Annäherung« reichen diese Versuche. Immer gehörte dazu auch das Bemühen, einen Keil zwischen die linken Kräfte in den imperialistischen Ländern selbst und die Sowjetunion bzw. später auch die DDR und die anderen sozialistischen Länder zu treiben, die Linken auf die imperialistische Seite der Barrikade zu ziehen. Die KPD und die DKP sind nie den »wohlwollenden Ratschlägen« gefolgt, sich von der Sowjetunion und der DDR zu distanzieren, im Wissen darum, daß sie damit unter den Bedingungen des internationalen Klassenkampfes zu Helfershelfern des Imperialismus geworden wären und unsere kommunistische Identität verloren hätten.


      Zugleich hätten wir allerdings – das sehe ich als ehemaliges Mitglied des Präsidiums der DKP jedenfalls heute so – bei Zusammenkünften mit den Führungen der regierenden Parteien in den sozialistischen Ländern kritischer und offener, als wir das getan haben, Probleme und Fehlentwicklungen, die für uns deutlich wurden, in die Gespräche einbringen müssen. Auch das hätte zu richtig verstandener kommunistischer Solidarität gehört.


      Wenn in diesem Beitrag von den Fehlentwicklungen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern nur ganz allgemein die Rede war und im wesentlichen über die Leistungen dieser Länder und ihre positive Rolle für die Fortschrittskräfte gesprochen wurde, so nicht darum, um erstere wegzuwischen. Die Ursache liegt darin, daß es hier vor allem darum ging, die Gründe für unsere enge Verbindung mit der Sowjetunion und dem realen Sozialismus deutlichzumachen.


      1 In dieser Weise habe ich mich mit der Thematik auch in der Broschüre »Der Sozialismus – Bilanz und Perspektive« befaßt, die kürzlich im Neue Impulse Verlag in Essen erschienen ist (Marxistische Blätter, Flugschriften 16).


      * In der kommenden Woche veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Diskussionsbeitrag von Manuel Kellner, Mitarbeiter der SoZ.


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      Avatar
      schrieb am 18.06.04 11:33:02
      Beitrag Nr. 9 ()
      junge Welt vom 02.06.2004

      Thema
      Materialismus statt Idealismus
      Eine Antwort auf Hans Heinz Holz’ Beitrag »›Linkssozialismus‹ oder Kommunismus?«
      Manuel Kellner

      * In den bislang veröffentlichten Reaktionen auf das Diskussionspapier von Christoph Jünke zum Thema »›Kommunismus‹ und ›Linkssozialismus« gestern und heute« (jW vom 12./13. Mai 2004) standen das Verhältnis deutscher Kommunisten zur Sowjetunion sowie die Beurteilung der politischen Herrschaft Stalins im Mittelpunkt (siehe die Beiträge von Hans Heinz Holz und Willi Gerns in jW vom 21. bzw. 26. Mai 2004). Im folgenden dokumentieren wir eine Antwort des SoZ-Mitarbeiters Manuel Kellner auf den Beitrag von Hans Heinz Holz.


      Hans Heinz Holz meint bei Christoph Jünke die »Stalinismus-Keule« wahrzunehmen, deren Zweck es sei, »Kommunisten moralisch und politisch totzuschlagen«. Jünke vertrete eine »bourgeoise politisch-theoretische Strategie«. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß ich nicht im geringsten Lust habe, an der kommunistischen Identität von Hans Heinz Holz zu kratzen und seine unversöhnliche Gegnerschaft zum kapitalistischen System und zum bürgerlichen Klassenfeind madig zu machen. Im Gegenteil: Soweit es in meinen schwachen Kräften steht, möchte ich vielmehr dazu beitragen, daß diese seine Einstellung auf ein solideres Fundament gestellt wird.


      Zur Einleitung meines Beitrags zum Thema »Übergangsforderungen« in der Karl-Liebknecht-Schule der DKP in Leverkusen habe ich gesagt: »Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten hat nicht nur die offizielle kommunistische Bewegung getroffen. Die gesamte Linke hat dadurch einen Rückschlag erlitten.«


      Es gilt Bilanz zu ziehen, Lehren für den Kampf der Gegenwart und die Ziele der Zukunft abzuleiten. Es gilt für Marxisten – wie dies Robert Steigerwald bei der erwähnten Tagung treffend gesagt hat –, sich auf die gemeinsamen Wurzeln zu besinnen, gleichberechtigte Diskussion und Zusammenarbeit zu entwickeln. Ich habe in meinem Beitrag unterstrichen: »Dabei möchte ich betonen, daß keine der bestehenden marxistischen Strömungen irgendeinen Grund hat, auf die anderen überheblich herabzublicken.«


      Das gilt für alle, sogar für den Genossen Holz, der es für angebracht hält, en passant abfällig vom »Trotzkismus« zu sprechen, dessen Positionen er offenbar nicht kennt. Im übrigen macht eine solche Feststellung vor allem Sinn, wenn man sie auf sich selbst bezieht. Die Idee, Recht zu haben oder immer Recht gehabt zu haben, taugt nicht zur Grundlage einer wirklich revolutionären Identität. Sie widerspricht der zutiefst kritischen und selbstkritischen Tradition, die mit Karl Marx‘ Lebenswerk eröffnet wurde. Ich zögere nicht, hier zu wiederholen, was ich in der Karl-Liebknecht-Schule zum Thema eines falsch verstandenen »Antistalinismus« gesagt habe: »Ich schäme mich, wenn ich daran denke, daß manche, die sich selbst für ›Trotzkisten‹ hielten, denjenigen ihre Solidarität verweigerten, die wegen ihrer aufrechten kommunistischen Gesinnung vom BRD-Staat im Gefolge des KPD-Verbots von 1956 verfolgt, eingesperrt oder in die Illegalität getrieben worden sind. Das ist falsch verstandener, in keiner Weise revolutionärer ›Antistalinismus‹, bei dem sich ein Trotzki im Grab umdrehen würde.«


      Der vielleicht etwas unglücklich in die Debatte hineingezogene linke Sozialdemokrat Peter von Oertzen (der mit manchen Teilpositionen der IV. Internationale sympathisiert, ohne Trotzkist zu sein oder sich als solchen zu verstehen) hat in einem Interview, das Christoph Jünke und ich mit ihm führten, als den schwerwiegensten Fehler seines Lebens bezeichnet, daß er Anfang der 70er Jahre Berufsverbote gegen DKP-Mitglieder mitgetragen hatte. Von Oertzen sagte wörtlich, daß er sich dessen »schäme«. Zugleich zog er eine recht finstere Bilanz seiner Tätigkeit in der SPD – seine Bemühungen, da gewisse linke Positionen hineinzutragen, seien letztlich für die Katz gewesen.



      Opfer der Repression


      Holz spricht von den Errungenschaften der Oktoberrevolution und der Sowjetunion. Er scheint aber nicht zu wissen, daß sich Trotzki bis zu seiner Ermordung durch einen stalinistischen Agenten (Ramón Mercader) immer für die Verteidigung der Sowjetunion ausgesprochen hat, sei es gegen die Restauration von innen, sei es gegen die imperialistische Aggression von außen. Das war auch bis zum Ende (der Sowjetunion) die Haltung der Organisation, der ich seit 32 Jahren angehöre – der IV. Internationale. Wer von »Trotzkisten« – so wenig mir dies Etikett zusagt – spricht, sollte zumindest anerkennen, daß diese gerade auch in dieser Frage unbeugsam blieben. Obwohl sie unter dem Stalin-Regime ausgegrenzt, grotesk verleumdet, verfolgt und zu Tausenden umgebracht wurden. Auf demselben Blatt steht, daß Hunderttausende Kommunistinnen und Kommunisten Opfer der stalinistischen Repression wurden, viele wegen angeblichem »Trotzkismus«, obwohl sie sich selbst keineswegs als »Trotzkisten« verstanden und auch nicht die Positionen der »trotzkistischen« linken Opposition teilten.


      Über diese Bilanz, die noch sehr viel finsterer ist als diejenige des linken Sozialdemokraten von Oertzen, geht der Genosse Holz recht leichtherzig hinweg, wenn er von zu verurteilendem »Unrecht« spricht, daß »Individuen« zugefügt wurde. Vor allem aber irrt er sich, wenn er glaubt, dieses »Unrecht« habe sich im Zuge der unvermeidlichen »revolutionären Härte« im Kampf gegen Konterrevolution und Weltbürgertum ergeben. Eine solche Härte gab es durchaus, aber das war ein wenig früher, insbesondere als Trotzki das Haupt einer Roten Armee von 5,4 Millionen Bewaffneten war, mit deren Hilfe die weiße Konterrevolution und die imperialistische Intervention gegen die junge Sowjetrepublik zurückgeschlagen wurde.


      Ich freue mich, daß es noch Philosophen gibt, die sich wie der Genosse Holz auf »Marxismus« berufen. Der Genosse Holz könnte sich allerdings mit mehr Berechtigung auf den »Marxismus« berufen, wenn er nicht idealistisch, sondern historisch-materialistisch argumentieren würde.


      Holz scheint im Ernst zu glauben, die Ermordung Hunderttausender von Kommunistinnen und Kommunisten sowie das Abwürgen von vielversprechenden revolutionären Entwicklungen wie in Frankreich zur Zeit der »Volksfront« und in Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg sei einer Mischung aus revolutionärer Unbeugsamkeit, großer weltpolitischer Weisheit und – warum nur – der Bereitschaft zu »Verbrechen« der Stalin-Führung entsprungen. Hat sich der Genosse Holz einmal gefragt, welche gesellschaftlichen Interessenkonflikte hinter den seit 1923 in der bolschewistischen Partei geführten Auseinandersetzungen standen?



      Privilegierte Kader


      Als bereits mundtot gemachtes herausragendes Mitglied der linken Opposition schrieb der Bolschewik Christian Rakowski (der später wie so viele umgebracht wurde) im Jahr 1928 in einem Brief an den Genossen G.N. Walentinow (später veröffentlicht unter der Überschrift »Die Ursachen der Entartung von Partei- und Staatsapparat«): »Sobald eine Klasse die Macht ergreift, verwandelt sich ein gewisser Teil dieser Klasse in Agenten der Macht. Auf diese Weise entsteht die Bürokratie. Im proletarischen Staat, in dem kapitalistische Akkumulation den Mitgliedern der herrschenden Partei untersagt ist, erscheint die genannte Differenzierung zunächst als funktionale, verwandelt sich aber dann in eine soziale. Ich sage nicht klassenmäßige, sondern soziale Differenzierung. Ich meine, daß die soziale Lage eines Kommunisten, der über ein Automobil, eine schöne Wohnung verfügt, geregelten Urlaub hat und das Parteimaximum verdient, sich von der Lage dessen unterscheidet, der ebenso Kommunist ist, aber in den Kohlengruben arbeitet, wo er monatlich 50 bis 60 Rubel verdient.« 1)


      Die junge Sowjetrepublik sah sich selbst in der Tradition der Pariser Kommune von 1871. Sie identifizierte sich auch mit den Lehren, die Marx im »Bürgerkrieg in Frankreich« aus der Erfahrung der Kommune gezogen hatte. Marx hob unter anderem positiv hervor, daß die Angestellten der Kommune – politische Mandats- und Funktionsträger – nicht mehr verdienten als Facharbeiterlohn. Die junge Sowjetrepublik mußte früh einer Reihe von Spezialisten materielle Konzessionen machen und ihnen gewisse Privilegien zugestehen. Doch die Bolschewiki nahmen sich selbst davon aus und beschlossen das »Parteimaximum« – ein Kommunist, egal in welcher Funktion – verdiente nicht mehr als ein Facharbeiter.


      Zwei Jahre nach der Oktoberrevolution, 1919, zählte der hauptamtliche Apparat der bolschewistischen Partei kaum 700 Köpfe. 1922 waren es bereits 15 300. Innerhalb weniger Jahre waren es mehrere hunderttausend. Von 1922 an entwickelte sich Zug um Zug sowohl eine Verschmelzung von Partei- und Staatsapparat wie auch die Institutionalisierung eines Systems abgestufter Privilegien für die Funktionsträger. Unter Stalin wurde Schluß gemacht mit dem »Parteimaximum«. Spitzenfunktionäre verdienten ein Vielfaches dessen, was Facharbeiter verdienten. Hinzu kamen Sachleistungen: Zugang zu Sonderläden, zu hochwertigen Konsumgütern und Genußmitteln, zu besonderen Schulen für den Nachwuchs, zu besonders gut ausgestatteten Krankenhäusern usw.


      In der Zeit, als sich dieses System herausbildete, war Stalin Generalsekretär und Haupt des Organisationsbüros der Kommunistischen Partei (wie sich die Bolschewiki seit 1917 nannten). Hauptzuständigkeit des Orgbüros war die Verteilung der Kräfte, die Personalpolitik, die Besetzung der Posten. Je ärmer eine Gesellschaft ist, desto mehr fallen Privilegien ins Gewicht. Sie wirkten als Disziplinierungsmittel – viel durchschlagender noch als die Repression. Wer Meinungsverschiedenheiten artikulierte konnte viel verlieren. Viel Komfort, viel Existenzsicherheit. Das erzeugte Konformismus. Das Rückfluten der selbstorganisierten Massentätigkeit nach den furchtbaren Opfern des Bürgerkriegs, nach dem Erdulden einer sehr harten materiellen Lage und nach Ausbleiben der ersehnten sozialistischen Weltrevolution (das heißt vor allem der Revolution in Deutschland und in den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern) – alles das begünstigte seinerseits die »Stellvertreterpolitik«, stärkte also Gewicht und Selbstherrlichkeit der Bürokratie. 2)


      Eine unvoreingenommene und materialistische – also eines Marxisten würdige – Analyse der Lage und der Auseinandersetzungen in den 20er und 30er Jahren kommt nicht um die Diagnose herum, was Stalin in diesem Zusammenhang war bzw. wurde: Der politische Ausdruck, der Repräsentant, die Verkörperung und der oberste Schiedsrichter jener neuen, gewaltig anschwellenden Schicht von privilegierten Bürokraten. Die wollte ihre Ruhe haben und Abstand gewinnen von den revolutionären »Hirngespinsten« der Revolutionsjahre und ihrer Pioniergeneration, die von der linken Opposition repräsentiert wurde. Diese Schicht wollte den gesellschaftlichen Status quo, sie haßte daher die »permanente Revolution« (Trotzki) bzw. die »Revolution in Permanenz« (Marx). Sie war daher für Stalins Losung vom »Aufbau des Sozialismus in einem Land«. Sie begrüßte daher die physische Ausrottung jedes lebendigen Bands zu den revolutionären Pionierjahren – mit Ausnahme von Stalin selbst, der diese Kontinuität allein für sich beanspruchen sollte.


      Das »revolutionäre« Wortgeklingel der zu rein pragmatischen Zwecken je nach Opportunität dies oder das Gegenteil beweisenden »marxistisch-leninistischen« staatsoffiziellen »Weltanschauung« trübt anscheinend noch heute manchen den Blick. Doch der ungeheuer konservative Zug des Stalinismus ist unübersehbar. Wo war die revolutionäre Außenpolitik der ersten Jahre der Kommunistischen Internationale geblieben? Wo die unglaublich lebendige und innovative kulturelle Atmosphäre der ersten Jahre der jungen Sowjetrepublik? Wo die lebendigen und kontroversen, öffentlich leidenschaftlich geführten Debatten dieser Zeit?



      Krise der Bürokratie


      Der idealistische Holz-Weg setzt sich beim Urteil über Gorbatschow fort: »Als die Sowjetunion sich auf die moralistische Diktion der OSZE einließ, hatte sie die ideologische Schlacht gegen die Bourgeoisie verloren. Dann wurden aus Klassenfragen Gorbatschows allgemeine Menschheitsprobleme. Die Internationale dagegen weiß, was das Menschenrecht ist, das sie erkämpft!«


      Welche »Internationale«? Vielleicht jene, die Stalin 1943 den Interessen nicht etwa des Proletariats, sondern denjenigen der verschmolzenen Partei- und Staatbürokratie der Sowjetunion opferte, die die Macht usurpiert hatte? Oder jene der ersten vier Kongresse zu Lebzeiten Lenins, die noch weltrevolutionäre Perspektiven vertrat, Perspektiven, die Stalin gegenüber einem US-amerikanischen Journalisten ein »tragi-komisches Mißverständnis« zu nennen beliebte? 3)


      Aber davon abgesehen. Glaubt Holz vielleicht, Breshnew und Andropow hätten die »ideologische Schlacht« gegen die Bourgeoisie gewonnen? Versteht er nicht, daß Gorbatschows Linie Ausdruck wirklicher und nicht eingebildeter Krisenmomente der bürokratischen Herrschaft und vor allem der bürokratischen Verwaltung der Wirtschaft waren? Gorbatschow war selbst Blut vom Blut und Fleisch vom Fleisch der Spitzen der Bürokratie, sogar des Geheimdienstapparats. Wie ist er das geworden, was er wurde? Zuwenig hartholzige, felsige, stählerne ideologische Wächter? Was für eine idealistische Kinderei! Was für ein »Marxismus«! Trotzki selbst sagte bereits 1936 voraus, daß große Teile der Bürokratie eines Tages zu Agenten der kapitalistischen Restauration werden (im Bemühen, die funktionsgebundenen Privilegien einzutauschen gegen die Stellung wirklicher Eigentümer), wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, die Sowjetdemokratie wieder herzustellen, die Macht wieder in die Hände zu nehmen. Das ist das, was eingetreten ist – wenn auch, gemessen an dem, was Trotzki dachte, nach reichlich langen Jahrzehnten, in denen die Bürokratie am nichtkapitalistischen Charakter der Sowjetwirtschaft festzuhalten schaffte. Trotzki sagte auch voraus, daß die Bürokratie zur Selbstreform in Richtung sozialistische Rätedemokratrie nicht fähig sei.


      »Wir sind doch keine Anhänger des Pluralismus, der meint, jede Variante habe den gleichen Wahrheitsanspruch«, schreibt der Genosse Holz. Wir leben zwar nicht mehr im »Mittelalter«. Und doch müssen wir dem Genossen Holz die Frage vorlegen, welche Instanz darüber entscheiden soll. Soll ich dem Genossen Holz etwa sagen: Wenn Du wissen willst, was die marxistische, die kommunistische, vulgo die Position mit dem höchsten »Wahrheitsanspruch« ist, bitte schön, frag’ mich das, ich habe Namen und Adresse? Oder soll ich irgendeine vom Weltgeist begünstigte Parteiführung als höchste Instanz anerkennen oder gar den metaphysischen Idealisten Holz?



      Herrschaft der Massen


      Marx sagte: Die Pariser Kommune, »das war die Diktatur des Proletariats«. Lenin griff diese Position in »Staat und Revolution« auf. Die junge Sowjetrepublik war eine Rätedemokratie und zugleich ein Mehrparteiensystem. Menschewiki und Sozialrevolutionäre wurden aus den Räten ausgeschlossen, weil sie sich – nicht bloß in Worten, sondern in Taten – auf die Seite der weißen Konterrevolution gestellt hatten. Mit Billigung Lenins, Trotzkis und der überwältigenden Mehrheit der führenden Bolschewiki wurde 1921 auf dem Zehnten Parteitag die Fraktionsbildung in der bolschewistischen Partei untersagt. Die Revolutionäre wollten ursprünglich weder eine Einparteienherrschaft noch eine »monolithische« Partei. Sie betrachteten diese Maßnahmen als vorübergehend, als aus der Not geboren. Und doch finden wir auch bei Trotzki in dieser Zeit Rechtfertigungen, Theoretisierungen einer Identifikation von Herrschaft der Arbeiterklasse und Herrschaft der Partei (die er später wieder revidierte). Im Rückblick ist klar, daß die Stalin-Fraktion daran anknüpfen konnte, um die Bürokratenherrschaft zu errichten. Deren historische Bilanz – nicht zu verwechseln mit der Gesamtbilanz des ersten großen Anlaufs zum Bruch mit der kapitalistischen Klassenherrschaft – ist verheerend. Sie macht einen großen Teil der anhaltenden Glaubwürdigkeitskrise der sozialistischen Alternative aus.


      Wenn der Genosse Holz helfen kann, diese Glaubwürdigkeitskrise zu überwinden, dann leistet er einen wichtigen Beitrag zum revolutionären Sturz der Bourgeoisie, hierzulande und weltweit. Dann muß er aber als erstes klarstellen, daß ein System des Übergangs zum Sozialismus wirkliche Herrschaft der Arbeiterklasse zusammen mit allen heutzutage Ausgebeuteten und Unterdrückten sein muß. Wirkliche Herrschaft einer großen Gesellschaftsklasse samt ihrer engsten Verbündeten, Herrschaft der großen Mehrheit der Bevölkerung, ist nur vorstellbar als sozialistische Demokratie. Nie wieder verfassungsmäßige Festlegung des »führenden« Charakters einer Partei! Nie wieder Einparteienherrschaft – dazu einer Partei, deren innere Demokratie erstickt wurde! Nie wieder bürokratische Bevormundung und Gängelung jener, deren »Selbstbefreiung« (laut Marx) allein einen universalen Prozeß der Emanzipation einleiten kann!


      Ist das nun »Linkssozialismus«, »Marxismus«, »Kommunismus«? Es ist jedenfalls Marx und Engels, Luxemburg und Lenin und auch Trotzki. Und es ist mit desto größerem Nachdruck heute zu vertreten, als nach allen diesen Erfahrungen mit der Verselbständigung bürokratischer Apparate in der Arbeiterbewegung und auch im ersten Arbeiterstaat keine Mehrheiten in der Arbeiterklasse zumal der Länder mit Jahrzehnten an Erfahrungen mit bürgerlichen Demokratien für die sozialistische Revolution gewonnen werden können, wenn die Position der marxistischen Revolutionäre dazu nicht klar ist wie Kristall: Die sozialistische Demokratie wird tausendmal demokratischer sein als die demokratischste bürgerliche Republik je sein kann. Die Masse der Menschen wird nicht nur alle demokratischen Rechte haben, sondern auch die materielle Möglichkeit, sie auszuüben.


      1 Rakowskis Beitrag ist abgedruckt in Leo Trotzki, Schriften Bd. 1.2, »Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940«, S. 1344ff


      2 Vgl. dazu Ernest Mandel, »Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie«, Köln 2000, S. 78ff


      3 Stalin interviewt von R. Howard, in: Rundschau Nr. 11, 5.3.1936


      -----------------------
      Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/06-02/004.php
      Avatar
      schrieb am 18.06.04 11:38:05
      Beitrag Nr. 10 ()
      Diskussionsverlauf gem. Erscheinungsdatum in der 1.Zeile des Beitrages.

      Verlauf im Thread etwas durcheinander.
      Avatar
      schrieb am 18.06.04 11:44:26
      Beitrag Nr. 11 ()
      #6

      Selber durchlesen bleibt dir leider nicht erspart.

      Man bekommt so einen guten Eindruck was in linken Kreisen gedacht wird.

      Insofern ist der Threadtitel nicht ganz exakt.
      Avatar
      schrieb am 19.06.04 22:46:52
      Beitrag Nr. 12 ()
      Praktische Fortsetzung :

      "Für Altstalinisten - Partei neuen Typs"

      Thread: Für Altstalinisten - Partei neuen Typs
      Avatar
      schrieb am 20.06.04 09:34:40
      Beitrag Nr. 13 ()
      Wie es scheint, scheint die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und dem Stalinismus immer noch eine sehr wichtige Frage zu sein.


      Vieles klingt akademisch. Weniger akademisch war die Aufteilung Polens mit Hilterdeutschland. So interessant die Frage auch ist, wie aus einem sozialistischen Staat ein stalinistisches Terrorregime hervorgegangen ist, es bleibt die Frage, warum 1968, als Breschenew die Theorie der begrenzten Souveränität aufstellte und damit den Einmarsch des Warschauer Paktes in der damaligen Tschecheslowakei rechtfertigte, warum wird darüber nicht gesprochen? Weil es einem DKPler zu peinlich ist, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen? Immerhin hatte sich damit die kommunistische Weltbewegung endgültig gespalten, in die Blöcke China/Albanien und SU und als 3. Teil der "reformistische" Tito. Diese Spaltung vollzog auch in der alten BRD. Die DKP stramm linientreu hinter der DDR und SU, und auf der anderen Seite die Neue Linke (KBW, KPD/AO und ML). Nun, wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Kritik durfte also von der DKP nicht erwartet werden. Ob dies so einfach sich vollzieht ist unklar. Es hat etwas mit Lagerbildung zu tun und dem Wunsch des Individuums Teil eines größeren Teils zu sein oder dem Herdentrieb. So brauchte die DKP die finanzielle und sonstige Unterstützung des Ostblocks, wie die Neue Linke den Segen Chinas oder Albaniens brauchte. Was dem einen sein CSSR war, war dem anderen sein Kambodscha. Bevor sich hier jemand ereifert, sei an das Kinderkrankenhaus in Kuweit erinnert.

      Die Neue Linke, allen voran der KBW hatte ein detailliertes Programm erarbeitet, das sich eng an das Kommunistische Manifest, Marx, Engels, Lenin und Mao-Tse-Tung anlehnte. (Da zum Zeitpunkt der Erstellung die Kulturrevolution das non-plus-ultra war, fand es entsprechend auch seine Würdigung im Programm des KBW als Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus). Heute wird die Große Proletarische Kulturrevolution als Großes Unglück bezeichnet. Bzw. schon kurz nach dem Tod des großen Lehrers wurde es runtergespült.

      Eine Lehre könnte sein, bzw. könnte man übernehmen, daß man erst 5 Jahre nach dem Tod eines großen Erdenbürgers eine Straße oder Platz nach ihm benennen darf. :laugh: Das verhindert, daß man die Irrungen und Wirrungen kommunistischer Geschichtsschreibung und Fotomontagen miterleiden muß.

      Im Goldenen Notizbuch von Doris Lessing findet sich eine "köstliche" Stelle. Ehemalige britische Kommunisten sitzen zusammen und erzählen aus dem Nähkästchen. Die Geschichte ging in etwa so: "In der SU stunden Arbeiter bei einem Traktor herum und bekamen die Maschine nicht mehr in Gang. Dann kam ein Mann, pfeifenrauchend, gesellte sich hinzu und sagte dann, habt Ihr das schon gemacht. Die Arbeiter schauten sich an und taten es, und tatsächlich die Maschine fing wieder an zu laufen. Als sie sich rumdrehten, war der Helfer fort.´He, war das nicht der Genosse Stalin?`. Im Roman ging es dann weiter: Im Kreml waren überall die Lichter aus, bis auf ein Zimmer: ah, Genosse Stalin arbeitet noch. Im Roman heißt es dann: sie sahen sich alle an und lachten. Wie wir diese Geschichten geliebt haben." Ende.


      Nicht nur die bürgerliche Gesellschaft hat ein Problem; auch die Kommunisten haben ein Problem. Wie konnte es geschehen, daß gerade in dem Land von Marx, Engels, Bebels und Luxemburg sich die finsterste Barbarei durchsetzen konnte, die Gefahr und der imperialistische 2. Weltkrieg seinen Brennpunkt hatte und Millionen Juden vergast wurden?




      Ein Problem ist auch, daß nach Erorberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse selbige dann auch tatsächlich die Macht hat. Für die herrschenden natürlich kein Problem - erst einmal. Da aber die Macht viel weitreichender ist als in der formalen bürgerlichen Gesellschaft, ist es durchaus ein Problem. Wer immer mit der Neuen Linke damals sympathisiert hat, sollte froh sein, daß sie nie in den Genuß der Staatsmacht gekommen ist.

      Auf der anderen Seite erleben wir breite und breiteste außerparlamentarische Bewegungen und Demokratie. Der moderne Bürger mischt sich in seine Stadtteilangelegenheiten in Form von Bürgerinitiativen ein. Die Arbeiter haben in den Betrieben Räte, Arbeitslose organisieren sich und zahlreiche Komitees bilden sich zu konfliktpunkten in der Gesellschaft. Eine Linke muß die Bewegungen unterstützen, fördern aber keineswegs übernehmen. Das Problem: die Linke ist nun mal politisch gebildet, aktiv und bereit und somit sind nicht immer die Engagiertesten Führer von Bewegungen, sondern provokativ ausgedrückt, Politkader!

      Auf der anderen Seite ist das Bewußtsein für Demokratie bedeutend weiter entwickelt als dies noch vor 100 oder 50 oder 30 Jahren der Fall war. Hier wird keiner mehr annehmen, daß das Wasser aus der Wand kommt, weil an der Wand ein Wasserhahn ist. Unglaube und Mystizismus ist weitgehend ausgerottet. Eine gewisse Bildung ist vorhanden, die aber auch durchaus als gefährdet erscheint.

      Der Konflikt zwischen der Nord- und Südhalbkugel scheint sich derzeit im Nahen Osten aufzuladen und im Kampf um die Ölquellen seinen Mittelpunkt zu finden, auch wenn er die Form eines religiösen Kampfes zwischen Islam und Abendland annimmt.

      Eine Linke in Deutschland sollte tatsächlich eine Kritik der politischen Ökonomie durchführen. Schwärmte Lenin noch von "Energie + Rätedemokratie = Sozialismus", so sagt das moderne Bewußtsein, daß vieles, was wir tun, nicht dem Bedürfnis unserer Biosphäre entspricht. Kernkraftwerke in kapitalistischer Regie = lebensgefährlich, aber Kernkraftwerke im Sozialismus = gut, wird man im Kindergarten noch vermitteln können, aber kaum noch klar denkenden Menschen. Und so wird die Technik insgesamt hinterfragt werden müssen, und der kindliche Glaube, daß es eine gute sozialistische technik gibt, wird abgelegt werden müssen.

      Ich bitte um Entschuldigung, daß ich vielfach einfach das eine zum anderen zusammensetze. Es ist erst einmal so.

      :)
      Avatar
      schrieb am 20.06.04 17:54:03
      Beitrag Nr. 14 ()
      Willi Géttel
      Stalin ist niemals gestorben
      Als die SED samt ihren westlichen Ablegern noch existierte, war die Situation übersichtlich: äußerliche Geschlossenheit und Linientreue auf der östlichen, Atomisierung der Linken auf der westlichen Seite. Mit dem staatlichen Zusammenbruch der DDR war es auch mit der sagenhaften Geschlossenheit der Linientreuen vorbei. Das "große Nachdenken" setzte ein, das nach Reue, Aufarbeitung, Katharsis und Erneuerung verlangte. Bei allem Eifer sezte es sich jedoch über die unangenehme Frage hinweg, warum es erst des Scheiterns bedurfte, um nun das sozialistische Gehirn zu aktivieren. So konnte es nicht ausbleiben, daß die Geläuterten förmlich vom Himmel fielen und Neues zur Hand hatten, das sie aus tiefster Einsicht gewonnen haben wollten.

      Die neue Führung der extrem zusammengeschrumpften, aus Zweckmäßigkeit umgetauften Mutterpartei reichte als Ergebnis großen Nachdenkens unverfroren Altes in neuer Verpackung. Gysis Spruch "Wo PDS drauf steht, muß auch PDS drin sein" trifft in unfreiwilliger Originalität den Kern der Sache. Neoreformismus und Etatismus verbunden mit parteistalinistischen Strukturen bilden heute die eine Seite des realsozialistischen Erbes. Die ebenfalls von dem erfinderischen Gysi kreierte und derzeit aktuelle Parole "Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sind" unterstreicht dabei ebenso unfreiwillig die immer noch recht lebendige feudal-stalinistische Arroganz der machtpolitisch abgehalfterten Nomenklatura - denn wer hat denn wen wo abzuholen und mit welchem Anspruch wohin zu bringen!

      In der westlichen Erbgemeinschaft (DKP) regte sich lange Zeit nichts. Von Gysis "modernen Sozialisten" wie eine Aussätzige gemieden verharrte sie in Lethargie. Ihr trotziges Festhalten an dem durch unzählige Rituale verinnerlichten "Kampfauftrag" wurde als "altes Denken" verworfen. Doch weil sie weder aufgeben noch wie die "Modernen" sich der Macht andienen wollte, notwendige theoretische Korrekturen aber wie immer schon unterlassen hatte, verfiel ein Teil ihrer geistigen Spitze auf ein aus der Geschichte bekanntes Phänomen: des "Darüberhinaus".

      Ausgangsposition dieser Richtung ist ein bereits vorhanden gewesener Sozialismus, der zwar zwischendurch als Versuch bezeichnet, dem jedoch durchweg die Systemqualität zugesprochen wird. Sein Scheitern wird einerseits mit wirtschaftlicher Unterlegenheit erklärt - forciert durch die Hochrüstungspolitik der Nato -, andererseits durch verräterische Tätigkeiten in den eigenen Reihen. Die Wurzel des Verrats wird hierbei wiederum in der indirekten Strategie des Westens, den Osten über seine vorhandenen Mißstände hinaus ökonomisch auszuhöhlen, verortet.

      Die behauptete Systemqualität ist somit Prämisse und logischer Kern neuer Überlegungen zur Fortsetzung einer Strategie, deren Scheitern nicht aus ihrer objektiven Unmöglichkeit erklärt, sondern auf widrige äußere Umstände und subjektives Versagen führender Leute zurückgeführt wird. Ihre Richtigkeit wird somit als unstrittig vorausgesetzt. Demnach war es zwingend, sie nicht nur aufzupolieren - sie mußte verschärft werden.

      Geleistet wurde diese Arbeit insbesondere von Hans Heinz Holz. In seinem Buch "Kommunisten heute" (Edition Marxistische Blätter, Neue Impulse Verlag, Essen 1995) holt er strategisch neu aus. Und wenn nicht alles trügt, behauptet sich hier nicht ein seniler Feierabend-Stalinismus, wie er in der Kommunistischen Plattform der PDS gepflegt wird. Was er in diesem Buch darlegt, ist die Konsequenz aus dem Entschluß, weder aufzugeben noch stehen zu bleiben. Holz plädiert für das "Darüberhinaus". Also räumt er mit Halbheiten auf und präsentiert den Epigonen den ersehnten neuen Hammer, der den Klassenfeind erschlägt - den Ultrastalinismus.

      Einige Bemerkungen zum Stalinismusbegriff

      In DKP, KPD, Kommunistischer Plattform und ähnlichen Gruppierungen ist Stalinismus als Kampfbegriff verpönt. Wer dagegen verstößt, fällt in der Regel unter das Verdikt des Antikommunismus und wird als feindlich eingeschätzt. Ausgenommen davon sind führende Kräfte der PDS, denen das aus taktischen Gründen zugebilligt wird. Das Tradieren der alten, sich auf Marxismus berufenden Legitimationsideologie schließt somit seine weitere Diskreditierung ein.

      Stalinismus ist allein unter Terror, Verbrechen, Personenkult usw. nicht zu fassen. Er bildet vielmehr ein Theorie- und Denkgebäude, eine in sich geschlossene Weltanschauung. Historisch verkörpert er sowohl die Thermidorisierung der russischen Revolution von 1917, die ihrer objektiven Bestimmung nach eine bürgerliche war, als auch die Konterrevolution der zur Macht gelangten Bürokratie, die ihre Herrschaft als Sieg des Sozialismus ausgab.

      Wesentliches Merkmal ist sein idealistischer Subjektivismus, der sich darin ausdrückt, die Realität nach politisch festgelegten Vorgaben gestalten zu wollen. In der Vergangenheit waren Terror und Verbrechen zwar die extremsten, letztlich aber auch nur subjektive Mittel im Kanon seiner voluntaristischen Praxis. Was er an Marxismen in sich aufgenommen hatte, geriet zur Scholastik. Dogmatismus wurde sein alles beherrschendes ideologisches Merkmal.

      Was unter Stalin seine Ausprägung fand, daher zurecht seinen Namen trägt, ist kein außerhalb der geschichtlichen Kontinuität existierendes Abstraktum. Die Problematik entsteht erst dann, wird diese als "Realsozialismus" bezeichnete, letzlich nicht progressive und daher gescheiterte Übergangsgesellschaft unter Mißachtung der Marxschen Theorie der ökonomischen Formation als sozialistisch bezeichnet.

      Wie eine Reihe neuer Veröffentlichungen als auch das Fortbestehen verschiedener Organisationen zeigen, ist die Frage des Stalinismus noch lange nicht erledigt. Und wie schon einmal erscheint er wieder in marxistischer Verkleidung, so daß seine Wesensverschiedenheit zur marxistischen Theorie weniger an der Oberfläche zu erkennen ist. Erst tieferes Hineindringen offenbart die erzwungene, negative Symbiose. Das "Darüberhinaus" enthüllt sich auch in dem Versuch, die marxistische Fassade zeitgemäßer, moderner, effizienter zu gestalten.


      Mit Holz zum Ultrastalinismus
      Hans Heinz Holz entspricht beileibe nicht dem Typus des "marxistisch- leninistischen" Höhlenvaters, wie er von Gysi vorsichtshalber in den halbpsychiatrischen Einrichtungen der PDS gehalten wird. Holz ist ein weltgewandter Mann und Literaturkenner. Seine Sprache ist klar, abgewogen; seine Argumente auf den ersten Blick bestechend. Er ist ein Ideologe erster Garnitur. Viele seiner Beschreibungen und Einzelanalysen sind nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Dennoch ist er ein Gefangener des stalinistischen Denkgebäudes geblieben. Unverkennbares Merkmal dieser babylonischen Gefangenschaft ist seine Prämisse, Stalins Theorie vom "Sozialismus in einem Land" habe zu einer Formation sozialistischer Systemqualität geführt, deren Scheitern im Prinzip auf Verrat zurückzuführen sei.

      Davon ausgehend unternimmt er im wesentlichen vier zusammenhängende Vorstöße, die sich auf die Frage der Organisation, der Weltanschauung, der "historische Mission der Arbeiterklasse" und die seiner Meinung nach immer noch gültige These vom "schwächsten Kettenglied" beziehen. Holz eröffnet mit harten Thesen.

      1.) "Das Individuum bleibt immer privat, wie sehr es auch von den Inhalten der Politik ergriffen und erregt werden mag. U n u s h o m o, n u l l u s h o m o - ein Mensch ist kein Mensch, sagten die Römer. Kommunistinnen und Kommunisten werden zu solchen in der Partei, darum ist die Organisationsfrage nicht nur eine praktisch-soziologische, sondern eine philosophische Wesensfrage." (1)

      Das meint er ernst und fährt fort: "Vor allem kommt es darauf an, in der nächsten Zeit der jungen Generation Wege in die Alternative zum Kapitalismus aufzuzeigen und ihr gedanklichen Rohstoff zu liefern...".(2)

      Im folgenden billigt er der jungen Generation zwar zu, ihre eigenen Ziele bestimmen zu können, fügt aber unmißverständlich hinzu, daß es dazu wiederum einer "weltanschaulichen Orientierung und eines organisatorischen Hauses" bedarf. Gleich darauf kommt er auf den historischen und dialektischen Materialismus und bezeichnet ihn als den "weltanschaulichen Rahmen, der wie kein anderer dem Wissensstand unserer Zeit entspricht...". (Ebenda)

      Mit diesem Zementsatz umreißt er die ehernen Grenzen und weist der "jungen Generation" die Pforte, durch die sie gefälligst in sein "organisatorisches Haus" zu schlüpfen hat, in dem sie Mensch wird und "Idealismus und Opferbereitschaft" entwickelt. Keine Frage, daß daraus wieder eine Avantgarde entsteht, die der Arbeiterklasse bei der Erfüllung ihrer "historischen Mission" vorangeht.(3)

      Zwischendurch ist zu bemerken, daß Holz nicht ungeschickt vorgeht, wenn er versucht, die Besonderheit der Kommunistischen Partei herauszustellen. Also fragt er selbst (4), worin sie bestehe und entwickelt eine Reihe von Grundsätzen, die er in einem "Erklärungsmodell" zusammenfaßt: "Diese Grundsätze, die alle aus dem ersten hergeleitet werden können, bilden das Gerüst eines Erklärungsmodells für die Menschheitsgeschichte, das als Historischer Materialismus bezeichnet wird. Die Stärke dieses einfachen Erklärungsmusters liegt darin, daß alle komplexeren geschichtlichen Vorgänge in diesen Rahmen eingebettet und unmittelbar oder über Zwischenstufen auf diese Grundlage zurückgeführt werden können."(5)

      In seinen Grundsätzen verlangt er zwar historische, ökonomische und politische Einsichten, die in Klassenkampf und "Ablösung von Herrschaftsstrukturen" gipfeln. Er setzt jedoch apriorisch einen Rahmen, den er zwangsläufig als historische Wahrheit ansehen muß und die es zu vollstrecken gilt. Weltanschauung und Partei verschmelzen somit zu einer unauflösbaren Einheit, denn die Anerkennung seines "Erklärungsmodells", das wiederum alle Grundsätze zusammenfaßt, ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, in seinem Sinne Kommunistin oder Kommunist zu sein.

      Eingeräumt werden muß dabei, daß sich Holz zumindest auf einige Sätze im "Manifest der Kommunistischen Partei" berufen kann, die die teleologische Herleitung seiner "Weltanschauungspartei" stützen. Dennoch äußern sich Marx und Engels in dieser Frage differenzierter, wenn sie im "Manifest" sagen: "Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien... Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen."(6)

      Wenn er nach ausführlicher Erörterung der Partei- und Organisationsfrage auf Seite 28 vorerst zum Stehen kommt, steht ein frisch bezogenes Prokrustesbett schon bereit. Wer sich hineinlegt, wird der Verheißung nach zum Menschen. Er muß allerdings in Kauf nehmen, solange bearbeitet zu werden, bis er die richtigen Parteimaße angenommen hat und hineinpaßt. Schließlich ist "ein Mensch kein Mensch", zu dem er mit anderen Worten erst dadurch wird, indem er auf ein einheitliches Maß zurechtgestutzt wird. Mit dieser Art neuer Menschwerdung übertrifft Holz die alte Maxime der "Einheit und Geschlossenheit" des stalinistischen Parteityps, der diese Form der Heilsbotschaft noch nicht kannte. Majakowskis Hymnen auf die Partei verblassen dagegen.

      2.) Wie oben zitiert, erklärt Holz den "historischen und dialektischen Materialismus" zum "weltanschaulichen Rahmen". Dies gedanklich weitergeführt liefe darauf hinaus, die in diesem Rahmen geformte kommunistische Partei stände in ihrer weltanschaulichen Geschlossenheit und ideologischen Einheit der übrigen Gesellschaft als etwas Abgetrenntes, Fremdes gegenüber, wobei sie naturgemäß die Minorität bildete. Hier zeigt sich bereits die Sackgasse. Denn wie will sie die Gesellschaft erreichen, durchdringen und gewinnen, ohne sie dabei modeln zu wollen? Wie immer sie auch unter besonderen Umständen zur Macht käme, sie müßte mit staatlichen Mitteln der Gesellschaft ihr politisches Programm oktroyieren, weil ihre Besonderheit zugleich die Kluft bildet, die sie von der Gesellschaft trennt. Wie das in der Praxis aussieht, hat die stalinistische Herrschaft anschaulich gezeigt.

      Ein anderer Aspekt ist, daß Holz den historischen und dialektischen Materialismus zum "weltanschaulichen Rahmen" umdefiniert, ihn somit dogmatisiert. Handelt es sich nach marxistischer Auffassung kategorial-methodisch um Erkenntnismittel, geraten sie bei ihm ebenso wie schon bei Stalin zur Weltanschauung. Dazu erstarrt, erübrigt sich für ihn, Methodik und Kategorien des historischen und dialektischen Materialismus auf seine eigene Prämisse samt ihren Ableitungen anzuwenden. Nach allem, was Marx und Engels für die definitorische Eingrenzung des Sozialismusbegriffs hinterlassen und neuere Arbeiten hinzugefügt haben, stimmt sie nicht. Sie stimmt eben nur innerhalb einer dogmatischen Festlegung. Wenn er in seinem oben zitierten "Erklärungsmodell" sagt, daß "alle diese Grundsätze aus dem ersten hergeleitet werden können", unterstreicht er das nur. Den historischen und dialektischen Materialismus zur Weltanschauung zu erklären, ihn damit seines Wesens - der Dialektik - zu berauben, war der einleitende und entscheidende Schritt, den Marxismus zu verunstalten und in die dogmatische Herrschaftsideologie der konterrevolutionären stalinistischen Bürokratie zu verwandeln.

      Den entscheidenden Satz, mit dem Holz das Besondere seiner kommunistsichen Partei verdeutlicht und den Widerspruch zur Gesellschaft für aufgelöst erklärt, formuliert er so: "Sie vertritt nicht die Interessen irgendeiner Gruppe oder ist die Plattform, auf der divergierende Gruppeninteressen miteinander versöhnt werden; sie kann vielmehr nur kommunistisch sein, wenn sie das Wohl aller erstrebt. Das Wohl aller ist aber nicht aus dem Bedürfnis und Interesse einzelner abzuleiten, sondern nur durch die allgemeine Theorie zu bestimmen, die alle einzelnen aufeinander bezieht und als ein Ganzes auffaßt."(7)

      Damit ist jeder Zweifel ausgeräumt. Das alte Wahrheitsmonopol ist wieder da. Nach dieser Logik kann eine Partei, die das Wohl aller zum Ziel hat, nicht im Widerspruch zur Gesellschaft stehen, weil sie sie als ein "Ganzes" auffaßt, dessen noch nicht erfolgte Herstellung sie bereits geistig vorweggenommen hat. Sie denkt also auch für den Teil "allgemeine Theorie" schon besagt, ist Holz` Partei allerneusten Typs Trägerin einer allgemeinsten, somit für alle gültigen Wahrheit. Wer dieser Wahrheit widerspricht, manifestiert damit nicht etwa ihren immanenten Widerspruch, sondern artikuliert im mildesten Fall nur seine eigene Dummheit. Wenn er ein Stück weiter sagt, "es wäre ein Irrtum zu meinen, die Ablösung einer Gesellschaftsformation durch eine neue könne durch eine dirigistische Minderheit bewirkt werden"(8), klingt das wie ein Witz. Er hat ja recht, wenn er gleich danach sagt, "Revolution ist immer nur als eine demokratische möglich"(ebenda), aber was will er dann mit seiner Partei?

      Wenn nämlich diese Partei dank ihrer "allgemeinen Theorie" das Wohl aller bereits kennt, tritt sie nicht als suchende, um Wahrheit und Erkenntnis ringende, sondern als schon alles wissende Gruppierung in den gesellschaftspolitischen Diskurs. Dies wirft vor allem die Frage auf, wie dieses Wissen zustande kommt, wer es besitzt, wie es vermittelt und verteidigt wird.

      Wie Holz klar erkennen läßt, sind gedanklicher Rohstoff, weltanschaulicher Rahmen, Parteimodell, Prämisse und Ziel bereits vorhanden. Das Lehrgebäude mit allem Drum und Dran steht also schon bereit. Wer die Praxis der DKP, der KPD und der Kommunistischen Plattform kennt, weiß, daß beispielsweise die Prämisse nicht diskutiert wird, sondern wie ein unanfechtbarer Glaubenartikel hinzunehmen ist. Genau das, was er selber verlangt, weil sein ganzes Gebäude auf diesem dogmatisch festgelegten Fundament steht. Damit wird schon ein Teil seiner "allgemeinen Theorie" deutlich, mit der er "das Wohl aller" erringen will.

      Wenn Holz die heutigen Auswirkungen des Kapitalismus beschreibt und daher seine Ablösung fordert, hat er mit vielen seiner Beschreibungen nicht unrecht. Auch seine Forderung nach Ablösung des kapitalistischen Systems ist richtig. Aber womit will er ihn ab lösen und wodurch ersetzen? Es ist nicht nur die Frage nach der Tauglichkeit seiner Mittel. Es ist auch zu fragen, welche Gefahren sie in sich bergen; denn seine Theorie ist keine qualitative Überwindung des stalinistischen "Parteimarxismus", sondern seine Wiederbelebung und Modernisierung. Er schöpft aus einer Theorie, die im Geiste der Konterrevolution geboren wurde und in Stagnation und Niedergang endete, die vor allem Unterdrückung begründete und nicht Befreiung. Seine angeblich neue leninistische Partei aber steht und fällt mit seiner Prämisse. Fällt sie, ist klar, daß es eine sozialistische Revolution und damit die neue Systemqualität nicht gegeben hat. Dann aber tritt zutage, daß es eine nicht progressive, deformierte Übergangsgesellschaft zwischen Feudalismus und Kapitalismus war. Wo aber bleibt dann ihre Beispielhaftigkeit, ihre Kompetenz? Werfen wir also noch einen weiteren Blick auf diese wichtige Frage.

      3.) In der Organiationsfrage liegt eine bis heute nicht bewältigte Problematik. Die meisten Überlegungen kreisen immer noch um das Zentralgestirn Partei. Die einen wollen sie noch reiner, straffer, schlagkräftiger, die anderen offener, pluralistischer usw. Weniger diskutiert wird die Frage, welchen Ursprungs die immer wieder bemühte "Partei Leninschen Typs" eigentlich ist, welche Umstände zu ihrer spezifischen Formung geführt haben und ob sie ihrem Wesen nach überhaupt die politische Trägerin der dialektischen Negation des hochentwickelten Spätkapitalismus sein kann.

      Die Annahme, die russische Revolution von 1917 sei eine sozialistische gewesen, spielt dabei immer noch die überragende Rolle, wobei Lenin als Zeuge bemüht wird. Doch nirgendwo ist eine in sich geschlossene Theorie Lenins zu finden, die ihren sozialistischen Charakter belegt. In These 8 seiner Aprilthesen heißt es: "Nicht Einführung des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten."(9) Selbst Stalin hat 1924 noch in seinen Vorlesungen über Leninismus an der Universität von Swerdlow den Sieg des Sozialismus in einem Land nicht für möglich gehalten: "...dazu ist der Sieg der Revolution wenigstens in einigen Ländern notwendig."(10)

      Die russische Revolution aber blieb isoliert. Nur Monate trennten sie von der zaristischen Selbstherrschaft. Politisch und militärisch gesiegt hatte sie in einem rückständigen, halbfeudalen Land, dessen Kolonialkapitalismus sich auf wenige Zentren beschränkte. Einer sozialistischen Revolution fehlten alle wesentlichen Voraussetzungen. Ihrer objektiven Bestimmung nach konnte sie nur eine bürgerliche sein, deren Besonderheit darin lag, daß die russische Bourgeoisie zu ihrer Durchführung nicht fähig war. Die Einführung der NEP hat dieser Realität nur Rechnung getragen. Daß die unter Stalin immer stärker hervortretende Legitimationsideologie die Revolution als "Große sozialistische Oktoberrevolution" apostrophierte, somit sowohl ihre Autorität als auch die eigene aus ihr abgeleitete Legitimation erhöhte und bewahrte, gehört zu den aus politischen Gründen erzeugten großen Trugbildern der Geschichte.

      Die Partei der Bolschewiki hatte also eine ganz andere Aufgabe zu lösen, als ihr im nachhinein zugeschrieben wurde, was nicht bedeutet, daß ihr und Lenin der strategische Wille zur sozialistischen Revolution fehlten. Ihre unverkennbar jakobinischen Züge kamen aber nicht von ungefähr - sie trugen der realen Situation Rechnung.

      Der Bolschewismus hat die Methoden der marxistischen Klassenanalyse übernommen, aber er hat sie auf die konkreten Verhältnisse angewandt, die objektiv für eine sozialistische Umgestaltung nicht reif waren. In diesem Prozeß wurden die Kategorien der marxistischen Theorie inhaltlich verändert. Als schließlich kein Zweifel mehr darüber bestand, daß mit dem Eintritt der Weltrevolution nicht mehr zu rechnen ist, begründeten Stalin und Bucharin die These vom "Sozialismus in einem Land". Als diese Theorie unter Stalins Führung exekutiert wurde, erfuhr die marxistische Theorie über inhaltliche Veränderungen hinaus ihre völlige Entstellung und wurde zur stalinistischen Legitimationsideologie. Erst in dieser Form war sie für Stalins Herrschaft und Politik verwendbar.

      Die Schlußfolgerung aus dem hier nur knapp skizzierten Charakter der russischen Revolution legt nahe, die Bolschewiki in ihrer wirklichen Rolle zu sehen, aus der sich zugleich ihr Jakobinismus erklärt: die historische Aufgabe der bürgerlichen Revolution im feudalistisch-kapitalistischen Rußland zu lösen.(11) Ihre militärisch-straffe Organisationsweise war auf die Eroberung der Staatsmacht und die daraus folgende eigene Machtausübung ausgerichtet. Wenn Lenin sich auch vieles anders vorgestellt hatte, unter dem Diktat der realen Bedingungen entschwand der Traum von der sozialistischen Demokratie. Sie wurde nur als Legende existent.

      Aus dieser Legende schöpft Holz, wenn er den "Leninschen Parteitypus" aufarbeitet und auf die Verhältnisse des hochentwickelten Kapitalismus extrapoliert, wobei er ihn eigentlich mit dem "Stalinschen" verwechselt. "Lenins Partei", wie sie die Apologetik noch immer beschwört, taugt aber schon deswegen noch viel weniger für heutige Verhältnisse, weil sie unter Stalin eine rückwärtsgewandte Totalisierung erfuhr, in der sowohl ihr Jakobinismus als auch ihre marxistischen Elemente verloren gingen. Holz knüpft also im Grunde nicht bei der "Alten Garde der Revolution" an, sondern am Typus der kommunistischen Partei Stalinscher Prägung, somit am Stalinismus selbst.

      4.) Wenn Holz seine anfangs beschriebene und von ihm selbst vorgestellte kommunistische Partei aus dem stalinistischen Theoriegebäude entwickelt und in neuer Totalität vorstellt, drängen sich Fragen und Zweifel auf. Er selbst mag glauben, sie sei das geeignete Instrument des Klassenkampfes und der Systemüberwindung. Aber sie trägt von vornherein etatistische und administrative Grundzüge, so daß von ihr nicht zu erwarten ist, daß sie sich für den Subjektstatus der Massen und die freie Assoziation der Produzenten wirklich einsetzt. Gerade weil die ideologische Geschlossenheit innerhalb eines "weltanschaulichen Rahmens" und einer "allgemeinen Theorie" einen permanenten Prozeß der ideologischen Reinigung mit der irrationalen Zielvorstellung eines von allen Irrtümern befreiten lupenreinen weltanschaulichen Kristalls erzwingt, muß sich eine inquisitorische Dynamik nach innen ergeben. Auch wenn Holz zwischendurch konzediert, dieser Rahmen dürfe keine statische Größe sein, bildet er dennoch die Grundlage der Verkirchlichung, wie es schon beim Altstalinismus der Fall war.

      Daß Holz sich nicht weiter mit subjektwissenschaftlichen Fragen aufhält, erhellt daraus, daß die in der hochkomplexen Gesellschaft des Spätkapitalismus vielfältig geprägten subjektiven Verarbeitungsweisen nicht in sein Organisationsschema passen. Mit dem Eintritt in seine Partei hält er diese Frage anscheinend für gelöst. Doch unabhängig davon existiert sie in aktueller Form, so daß es ohne Nivellierungs- und Infantilisierungsstrategien kaum möglich sein dürfte, innerhalb dieses "weltanschaulichen Rahmens" Harmonie und Übereinstimmung herzustellen. Ein Prozeß, in dem sich mit absoluter Gleichzeitigkeit das Niveau der Mitglieder aufgrund einer idealen diskursiven Meinungsbildung ständig hebt, so daß auf dieser Grundlage auch der weltanschauliche Rahmen jeweils an Weite und Tiefe gewinnen kann, gehört ins Reich des Glauben. In der Praxis hat sich dieses Modell allemal als der ideale Boden für selbstherrliche Führungseliten und kultisch verehrte Führergestalten erwiesen. 98,9 % Zustimmung sind auf dieser Erde nur unter Maßgabe hinreichender Verblödung der Parteibasis zu haben. Erstaunliche Tatsache bleibt dabei, daß der Stalinismus solche Rekorde vorzuweisen hatte.

      Natürlich ist bei Holz nirgendwo zu lesen, daß er sich so etwas noch einmal wünscht. Es ergibt sich aus der Logik seines Modells. Das ist der Punkt. Der kontraproduktive Gehalt seiner Organisationsstrategie liegt sowohl in der Distanznahme zur Gesellschaft wie in der Verabsolutierung des Stellvertreterprinzips, denn kein nachdenklicher Mensch wird ihm abnehmen, daß sein Modell ohne Lehrgebäude und damit verbundenem Vordenkertum funktioniert. Diese Strategie führt nicht in die Gesellschaft hinein, sondern separiert sich von ihr und treibt die Entmündigung der Individuen auf die Spitze, weil es wieder die organisatorische und ideologische Spitze der Hierarchie sein wird, die für die Mitglieder spricht und sie vertritt. Es ist einfach nicht denkbar, daß sich ein widerspruchsfreier Idealtypus auf der Grundlage einer gegebenen Weltanschauung ohne gleichzeitige geistige Sterilisierung der Basis und Abtöten innerparteilicher Demokratieentwicklung herstellen läßt. Weil aber die innere Logik einer solchen Weltanschauungspartei auf den idealen Zustand der widerspruchsfreien Einheit hinwirkt, ergibt sich im realen Leben immer wieder das Bild eines riesigen Karteikastens mit dem Kopf eines Maikäfers. Der Anspruch auf dialektische Gestaltung muß dabei verbal bleiben, denn innerhalb eines starren Rahmens bei priesterlicher Überwachung triumphiert naturgemäß der Dogmatismus.

      Holz ist zuzustimmen, wenn er dem modischen Diskurs entgegentritt, der das Proletariat nur noch als marginale Restbestände wahrnimmt und sein endgültiges Verschwinden prophezeit. Im Marxschen Sinne definiert war es nie verschwunden und brauchte daher nicht in Gestalt der "Proletarität" (Roth) wiederzukehren. Die von ihm bemühte "historische Mission der Arbeiterklasse" erscheint den heutigen Verhältnissen gegenüber jedoch wenig differenziert. Wie oben erwähnt, verzichtet er im wesentlichen auf die notwendige Darstellung der Objekt-Subjekt-Dialektik unter den Bedingungen hoher Produktivkraftentwicklung und den damit verbundenen hochkomplexen Strukturen des metropolitanen Kapitalismus. Neuere subjekttheoretische Erkenntnisse moderner Marxisdiskurse über die Vielschichtigkeit und Spezifik der Verhaltensmuster im subjektiven Verarbeitungsprozeß finden in seinem Modell einer kommunistischen Partei, die ja die Arbeiterklasse organisieren soll, keinen Niederschlag.(12)

      Statt dessen setzt er mit einer gewissen Vorliebe als Subjekt so etwas wie ein "unbeschriebenes Blatt" in Gestalt einer abstrakten "jungen Generation". Die Widerspruchsentfaltung im Prozeß der kapitalistischen Systemreproduktion verschärft aber nicht nur den Grad der Ausbeutung. Der objektive Zwang zur permanenten Steigerung der Arbeitsproduktivität impliziert die Verflachung von Hierarchien (lean production, Toyotismus usw.), was andererseits immer größere Qualifikation und Eigenständigkeit der Lohnabhängigen nach sich zieht. Nehmen wir die Frage vorweg, wer denn die Produktionssphäre einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft gestalten und organisieren soll, erscheint es wenig sinnvoll, den Typus des wissenschaftlich qualifizierten Hightech-Arbeiter erst einmal in das Korsett eines "weltanschaulischen Rahmens" zu zwängen. Den Unterschied zwischen Fremdbestimmung im kapitalistischen und Subjektstatus im sozialistischen Produktionsprozeß begreift er von selber, unabhängig davon, ob er ein eventuelles Bedürfnis nach Mystik in einem exotischen Sektentempel oder einem christlichen Gebetshaus befriedigt. Unter der Aufsicht eines stalinistischen Ordens wird er sich wahrscheinlich ähnlich verhalten wie einst die hochgelobte Arbeiterklasse des "Realsozialismus".

      Eine wirklich neue und moderne sozialistische Organisationsstrategie muß in die Gesellschaft hineinführen, was voraussetzt, sie in ihrer Komplexität zur Kenntnis zu nehmen. Sie kann nicht unter Maßgabe eines weltanschaulichen Rahmens einen gesellschaftsfremden Organismus heranzüchten, der dann bei passender Gelegenheit anderen seine Anschauung wie einen Sack über den Kopf stülpt. Anders verhält es sich mit der marxistischen Theorie als Erkenntnismethode im Prozeß revolutionärer Aufklärung und kritischer Systemanalyse. Die Aufhebung des Kapitalismus erfordert ein kritisches, kreatives, nach Freiheit und Selbstverwirklichung strebendes Subjekt, das Theorien nicht in weltanschauliche Dogmen verwandelt, sondern als Mittel der Befreiung nutzt. Lenins "sozialdemokratischer Jakobiner" und Stalins gläubiger Parteisoldat sind Figuren vergangener Zeiten, die organisatorisch straffe und weltanschaulich-ideologisch monolithische Partei ein Anachronismus. Die revolutionäre Bewegung des 21. Jahrhunderts muß die Elemente und Strukturen ihres Gesellschaftsmodells schon in ihrem eigenen Entwicklungsprozeß herausbilden. Das ist ihr wirklicher emanzipatorischer Impuls.

      5.) Mit seinem vierten Vorstoß erweckt Holz den Eindruck, er sei von allen guten Geistern verlassen. Nachdem er an der Phrase festgehalten haben will, "daß die Oktoberrevolution kein historischer Fehler war", präsentiert er den Höhepunkt seines "kleinen Büchleins".

      "Weil aber der Kapitalismus auch heute noch wie 1917/18 stark genug ist, um sich gegen revolutionäre Kräfte - durch ideologische Manipulation und durch repressive Gewalt - zu behaupten, besteht wieder wie 1917 die Möglichkeit, daß die Kette an einem schwachen Glied bricht, das heißt in einem Land mit unreifen Bedingungen, aber offenen, zugespitzten Widersprüchen."(13)

      Und weiter:
      "Jede Revolution heute wird aber der Tendenz nach eine sozialistische sein, denn es gibt in den Entwicklungsländern keine Möglichkeit mehr, die bürgerliche Revolution nachzuholen, um den historischen Weg durch die bürgerliche Gesellschaft zur sozialistischen zu gehen..."(Ebenda)

      Diese Konzeption ist bekanntlich schon einmal schiefgegangen. Damals gingen die Bolschewiki von der Vorstellung aus, der Sozialismus stehe auf der Tagesordnung, die Welt befinde sich in einem revolutionären Prozeß. In der Stalinschen Interpretation wurde daraus die These vom schwächsten Glied in der Kette der imperialistischen Staaten, wonach das Land den Anfang mache, in dem die Widersprüche am größten sind, wo sie reißt. Lenins Arbeit über die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus wurde entsprechend ausgelegt. Aber die so gesetzte Prämisse entfiel, die Weltrevolution blieb aus, die russische Revolution somit isoliert. Diese Isolation wurde aber dann die Grundlage der oben erwähnten "Theorie vom Sozialismus in einem Land", die 1989/90 auf ganzer Linie gescheitert ist, obwohl nach dem 2. Weltkrieg noch weitere Kettenglieder gerissen und in den Machtbereich der Sowjetunion gelangt sind.

      Holz greift diese These wieder auf und formt sie zu einer neuen strategischen Option, wobei er wie Stalin den Marxschen und inzwischen historisch bestätigten Hinweis mißachtet, daß "der Kommunismus empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig möglich ist, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt."(14)

      Wieder ist es die dieselbe Prämisse: "Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch in Zukunft die Gesellschaft, die den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus vollziehen wird, wie die Sowjetunion 1917 den Sprung aus einem quasi kolonialen Kapitalismus in den Sozialismus wird wagen müssen..." (Ebenda)

      Spätesetens an dieser Stelle wird klar, daß Holz, der sicherlich die marxistische Theorie quantitativ in hohem Maße akkumuliert hat, sie tatsächlich nur als "weltanschaulichen Rahmen" begreift. Denn daß sein "real existierender Sozialismus" kein Sozialismus war und obendrein noch gescheitert ist, scheint ihm nicht einzuleuchten.

      Im Zuge dieser bizarren Theorie erklärt er Kuba wiederum unter Mißachtung marxistischer Kriterien zur sozialistischen Bastion und konstruiert ein bedrohliches Revolution-Szenario, das möglicherweise den Hintergrund seiner Organisationsstrategie bildet: "Mit jeder Revolution, die stattfinden wird oder heute noch dem Druck des Kapitalismus widerstehen kann (wie Cuba), ist die Gesamtheit der kommunistischen Weltbewegung herausgefordert. Nicht nur zur Solidarität, sondern zu einer internationalistischen Konzeption des Klassenkampfes, frei von allen Klassenkompromissen, die stets Siege der herrschenden Klasse sind."(Ebenda)

      Daß Sozialismus nur auf der Grundlage des voll ausgereiften, an seine Systemgrenzen stoßenden Kapitalismus möglich ist und daß eben sein "Sozialismus" aufgrund dieser fehlenden Voraussetzung keiner war, spielt in Holz` Überlegungen keine Rolle. Mit einem schon grauenhaften Bild läßt er die Katze aus dem Sack: "Zu den Erfahrungen unserer Geschichte wie zu den dialektischen Erkenntnissen von den strukturellen Widersprüchen in jedem Gesellschaftsaufbau gehört es, sich der Fortdauer des Klassenkampfes auch während des Aufbaus des Sozialismus (verschärft durch äußere Bedrohung) bewußt zu sein. Stalin wie auch Mao haben diese Seite der Dialektik der Geschichte betont."(15)

      Das soll genügen!
      Genau mit der These von der Verschärfung des Klassenkampfes hat Stalin seinen Terror begründet, der wiederum in der Unreife der Bedingungen seine Wurzel hatte, die er mit einem voluntaristischen Gewaltakt der ursprünglichen Akkumulation in einem historisch extrem verkürzten Zeitraum überwinden wollte. Die erschreckende Konsequenz dieser Überlegungen liegt darin, Parteidiktatur und Terror mit einzukalkulieren. Denn wenn es "keine Möglichkeit mehr gibt, die bürgerliche Revolution nachzuholen", die Revolution im schwächsten Kettenglied der "Tendenz nach nur eine sozialistische sein wird", müßte sich das alles wiederholen, sollte noch einmal versucht werden, die Voraussetzungen des Sozialismus aus dem Boden stampfen zu.

      In seinem Szenario mag Holz an das atomar bewaffnete Rußland gedacht haben, das, nachdem seine kommunistische Partei im Verein mit patriotischen Kräften das korrupte Jelzin-Regime gestürzt hat, mit China, Kuba, den GUS-Staaten, Vietnam, Iran, Indien, Restjugoslawien, Nordkorea, Irak eine wirtschaftliche Zone und geostrategische Militärunion bildet und den Westen eindämmt. Moskau oder Peking wären dann die neuen Zentren der "Weltrevolution". Und wie zu Zeiten der Komintern gäbe es dann wieder Weisungen und Befehle an die nationalen kommunistischen Parteien. Zu nichts anderem als zu einer solchen ausgerichtete, militärisch straff geführte Partei. Für die dialektische Negation des Kapitalismus taugt sie ebenso wenig wie seine gesamte ultrastalinistische Strategie. Eine sozialistische Revolution kann nur von den kapitalistischen Metropolen des Westens ausgehen, worin auch die Voraussetzung läge, die unterentwickelten Länder dieser Welt zu unterstützen und zu fördern.


      Die doppelte Abgrenzung ist notwendig
      Die Erben des "Realsozialismus" haben seit dem Untergang ihres Systems nichts Brauchbares und nichts Neues geboten. Sie sind Relikte des Stalinismus mit jeweils verschiedenen politischen Ausrichtungen geblieben. Während die PDS Holz` Prämisse negativ anerkennt und in Richtung Neoreformismus umgeschwenkt ist, bilden sich in anderen Teilen der Erbgemeinschaft unter positiver Besetzung dieser Prämisse neo- und ultrastalinistische Tendenzen heraus. Eine originäre neue sozialistische Politik ist bei den Relikten nicht zu erkennen. Will die marxistische Linke eine noch einmal gegebene historische Chance nicht verspielen, muß sie sich sowohl von der dogmatischen als auch von der neoreformistischen Seite des "realsozialistischen" Erbes abgrenzen und die Organisationsfrage sowie alle anderen Fragen der Strategie unter den Bedingungen und Möglichkeiten der Gegenwart diskutieren. Sie muß neue Wege finden, indem sie Marxismus als Erkenntnismethode, nicht als Weltanschauung begreift.


      © Willi Gettél, Berlin1997




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      Anmerkungen:
      (1) Hanz Heinz Holz: Kommunisten heute, S. 8
      (2) ebenda: S. 8
      (3) ebenda, S. 19, 69
      (4) ebenda: S. 10
      (5) ebenda: S. 12
      (6) Marx/Engels: Manifest, S. 63, 64
      (7) ebenda: S. 14
      (8) ebenda: S. 20 (9) Lenin, Werke, Bnd. 24, Dietz-Verlag 1959, S. 6
      (10) Stalin: Fragen des Leninismus, S. 38
      (11) Anton Pannekoek, Paul Mattick u.a.: Thesen über den Bolschewismus, S. 19 - 43, Ca ira Verlag 1991
      (12) vgl. Hartmut Krauss: Das umkämpfte Subjekt. Widerspruchsverarbeitung im `modernen`Kapitalismus, trafo verlag 1996
      (13) ebenda: S. 51 ff.
      (14) K. Marx, F. Engels: Deutsche Ideologie, ausgewählte Werke, Bnd. I, S. 226
      (15) ebenda: S. 52

      http://www.glasnost.de/autoren/gettel/holz.html
      Avatar
      schrieb am 24.06.04 16:51:43
      Beitrag Nr. 15 ()
      Anmerkung
      "Der heimliche Aufmarsch (gegen die Sowjetunion)" entstand anläßlich des ersten internationalen Antikriegstages am 1. August 1929. Das ursprünglich von Wladimir Vogel vertonte Gedicht von Erich Weinert wurde in der von Hanns Eisler 1938 vertonten und von Ernst Busch vorgetragenen Fassung berühmt.


      Es gewährt einen Einblick in die Gefühlswelt díeser Zeit!










      Es geht durch die Welt ein Geflüster:
      Arbeiter, hörst du es nicht?
      Das sind die Stimmen der Kriegsminister:
      Arbeiter, hörst du sie nicht?
      Es flüstern die Kohle- und Stahlproduzenten,
      Es flüstert die chemische Kriegsproduktion,
      Es flüstert von allen Kontinenten:
      Mobilmachung gegen die Sowjetunion!

      Refrain:
      Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre,
      Nehmt die Gewehre zur Hand.
      Zerschlagt die faschistische Räuberherde,
      Setzt eure Herzen in Brand!
      Pflanzt eure roten Banner der Arbeit
      Auf jede Rampe, auf jede Fabrik.
      |: Dann steigt aus den Trümmern
      Der alten Gesellschaft
      Die sozialistische Weltrepublik! :|

      Arbeiter horch, sie ziehn ins Feld,
      Und schreien für Nation und Rasse.
      Das ist der Krieg der Herrscher der Welt
      Gegen die Arbeiterklasse.
      Denn der Angriff gegen die Sowjetunion
      Ist der Stoß ins Herz der Revolution.
      Und der Krieg der jetzt durch die Länder geht,
      Ist der Krieg gegen dich, Prolet-!
      Refrain:
      Und während sie schon zum Schlag ausholen
      Betrügen sie dich mit Friedensparolen.
      Der Krieg der jetzt vor der Türe steht
      Ist der Krieg gegen dich, Prolet!

      Es rollen die Züge Nacht für Nacht:
      Maschinengewehre für Polen.
      Für China: deutsche Gewehre Null-Acht,
      für Finnland Armeepistolen!

      Schrappnells für die Tschechoslowakei,
      Für Rumänien Gasgranaten!
      Sie rollen von allen Seiten herbei,
      Gegen die roten Soldaten!






      Avatar
      schrieb am 24.06.04 18:01:07
      Beitrag Nr. 16 ()
      Dass hier unheilbare kommunistische Triebtäter ausgerechnet auf dem Kapitalisten-Board w.o. ihre freiheits- und menschenverachtenden Theorien auszubreiten versuchen, ist der Gipfel der Unverfrorenheit. Massenmord und brutale Geschichtsfälschung gehörten schon immer zum Repertoire der kommunistischen Kader-Verbrecher, hierin eingeschlossen das menschenquälende Stasi-Gesindel der ehemaligen Ostzone.
      Avatar
      schrieb am 27.08.04 21:06:11
      Beitrag Nr. 17 ()
      junge Welt vom 24.06.2004

      Thema
      Wo bleibt Marx?
      Überlegungen zur Diskussion um »Kommunismus« und »Linkssozialismus«
      Gerhard Zwerenz

      * Im Rahmen der Kontroverse um Christoph Jünkes Diskussionspapier »›Kommunismus‹ und ›Linkssozialismus‹ gestern und heute« (jW vom 12. und 13. Mai) setzt sich Gerhard Zwerenz, Schriftsteller und von 1994–1998 Mitglied der PDS-Bundestagsfraktion, mit den Argumenten seiner Vorredner auseinander und blickt auf die gegenwärtige politische Situation.


      Die Debatte um eine marxistische Analyse linker Zustände glich vor Uwe-Jens Heuers Beitrag dem Streit um des Kaisers (Marxens) Bart. Indem Hans Heinz Holz seinen Vorredner Christoph Jünke so ganz nebenbei des Trotzkismus bezichtigte, erntete er allerlei Durcheinander. Holz, der als Philosoph subtile Erkenntnisse zu verbreiten versteht, ging als Sprecher der DKP weit unter sein Niveau, was nicht verwundern sollte, setzte er doch eine fatale Tradition fort. Wie Wilfriede Otto in ihrer gescheiten Mielke-Biographie herausfand, bewährte sich der 1931 nach dem Berliner Polizistenmord in die SU geflüchtete Erich Mielke in Moskau umgehend als strenger Antitrotzkist, und noch drei Jahrzehnte später, im März 1950, beschuldigte er Kurt Müller, den inhaftierten westdeutschen stellvertretenden KPD-Vorsitzenden, des hochgefährlichen Trotzkismus. Wer diese Linie bis heute durchzieht, muß wissen, welche Wunden er aufreißt. Ich schlage den Kontrahenten vor, sie begnügen sich mit dem Vorzeigen ihrer bekannten Argumente. Die Trotzkisten können nachweisen, daß Leo Trotzkis Analysen und Prognosen zu ca. 75 Prozent zutrafen. Die Stalinisten mögen vorbringen, daß Hitler durch Josef Stalin besiegt wurde und nach ihm die Sowjetunion zerfiel. Beides beantwortet allerdings nicht die primäre Frage nach den tieferen Ursachen der Niederlage von KPdSU, SU, DDR und des gesamten »sozialistischen Lagers«.


      Heuer ist Jurist und wurde in der DDR früh schon gemaßregelt, was ihn scharfsinnig machte. Der Jurist blickt auf Recht und Ordnung, und sei es die gewünschte sozialistische Menschenrechtsordnung. Ich bin Heuer dankbar für seinen Beitrag. Mir fehlt darin nur eines: die revolutionäre Haltung mit dem Ziel einer Revolution der Revolution, die in den Industrieländern nicht mehr auf der Straße stattfindet, sondern in den Köpfen oder gar nicht.

      Der notwendige Streit um Analysen ist ein Anfang. Wie man die Linken aber kennt, werden sie statt um Analysen um Begriffe streiten. So droht die Linke im Zerfall ein Opfer ihrer destruktiven Energien zu werden. Entweder bringt sie einen Diktator hervor oder sektiererhaftes Chaos. Hier fehlen Maß und Weisheit.



      Historische Schismen


      Man blickt zurück. Der Bruch zwischen Sozialdemokratie und Kommunisten als Folge des Krieges von 1914 –1918 kehrte 1924 beim Tode Lenins als Schisma innerhalb der Bolschewiki wieder, indem Stalins »Sozialismus in einem Land« gegen Trotzkis »permanente Revolution« installiert wurde. Jetzt war Trotzki der internationale Revolutionär und Stalin der Zaren-Nachfolger, ein russischer Cäsar nachholender östlicher Moderne. Bei der Einschätzung dieses Josef Wissarionowitsch bleiben zwei Vorgänge meist unterbewertet. Erstens die erzwungene Ausreise Trotzkis 1929 und zweitens Stalins frühe Information über Hitlers Kriegsabsichten, die dieser vier Tage nach seiner Machtübernahme am 30.1.1933 in einer geheimen Rede vor hohen Reichswehr-Generälen in der Berliner Dienstwohnung des Generals von Hammerstein verkündete. Stalins Diktatur galt vor 1933 der internen Festigung seiner Macht, und die Ermordung Trotzkis im Jahr 1940 war zugleich symbolischer Endpunkt der revolutionären sowjetischen Alternative. Ab Anfang 1933 aber diente Stalins Politik der Vorbereitung auf die Abwehr des bis ins Detail angesagten Hitlerschen Eroberungskrieges. Fragt sich, was bei allen diesen Aspekten noch zur Geschichtslinie des Marxismus gehört. Vom Schlußakkord der Jahre 1989/90 aus betrachtet, als sich das sowjetische Imperium infolge innerer Stagnation auflöste, gibt es so viele Gestaltwandel, daß die Antwort auf die Frage, was von der Oktoberrevolution 1917 bis 1990 überhaupt als Marxismus gelten kann, offenbleiben muß. Aus deutscher Sicht enthüllt sich dabei die Tragödie unserer Kommunisten, die mit Hitler und Stalin zwischen Hammer und Amboß gerieten. Die Kommunisten sind abgeräumt, die Sozialisten randständig, die Sozis im Endstadium. Aus der Ost-West-Konfrontation wurde ein religiös getarnter ökonomischer Krieg etablierter US-Staatsterroristen gegen sich etablieren wollende religiös-terroristische Nationalisten und Freischärler. Die Frage nach dem Anteil Marxismus an diesem Stück Weltgeschichte bleibt ungeklärt. Was also ist über Heuers Diskursangebot hinaus noch zu raten?



      Revolutionärer Imperativ


      In Marxens »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« steht geschrieben, daß »der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...« Mit dem kategorischen Imperativ setzt Marx gezielt bei Immanuel Kant an: »Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Vom kategorischen wie moralischen Imperativ Kants zum sozialistischen und revolutionären Imperativ des Karl Marx verläuft hier die Entwicklung dieses Begriffs. Ernst Bloch folgerte daraus die Forderung nach dem »aufrechten Gang«, was die Umsetzung der Theorie in die Praxis bedeutet. Freilich wandte Blochs Sohn Jan Robert ein: »Wie können wir verstehen, daß zum aufrechten Gang Verbeugungen gehören?«


      Das ist unsere Situation, kurzgefaßt in wenigen gescheiten Sätzen, die meist von Myriaden Druckseiten und langatmigen Reden zugedeckt werden. Ich behaupte: Mehr an Theorien braucht es nicht. Es wird eh nur die Klugscheißerei einer verwirrten, verzagten Intelligenzija daraus.


      Noch einmal Bloch: »Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?« Diese fünf Fragen stehen im Vorwort zu Band 1 des Hauptwerkes »Das Prinzip Hoffnung« und stellen eine bewußte Parallele zum »sozialistischen Imperativ« von Karl Marx her. Und nun zurück zum Angebot von Uwe-Jens Heuer und seiner Anregung zum Diskurs der Analytiker, der einen Marxisten erst einmal auf Marx selbst verweist, dessen Weigerung, sich als Marxisten zu bezeichnen, mit der Differenz zwischen Analytik und Ideologie zu tun hat. Seine Analysen haben Bestand, soweit die analysierten Fakten Bestand haben. Wo das nicht der Fall ist, werden sie zu geschichtlichem Material. So erweist sich spätestens mit dem Ende der Sowjetunion die Marxsche Revolutionstheorie als historisches Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Wir aber leben im 21. Jahrhundert und brauchen eine Revolution der Köpfe und Herzen.



      Linken-freie Zone?


      Am Abend der Europawahl vom 13. Juni suchte der TV-Moderator der Berliner Runde, Thomas Roth, dem für die PDS anwesenden Rolf Kutzmutz mit der Frage zuzusetzen, was er von einem auf der Kandidatenliste aufgeführten »Stasi-Spitzel« hielte. Für künftige derartige Fälle schlage ich der PDS als Erwiderung vor: »Ihre Erkundigung ist erst dann legitim, wenn Sie den anwesenden CDU-Vertreter fragen, was er zu Filbinger, dem Deserteurshinrichter und CDU-Ehrenvorsitzenden von Baden-Württemberg, zu sagen hat.«


      Ebenso sollte man bei der ARD Richtung Werner Höfer insistieren oder bei der FDP zur Schönheit des Ritterkreuzes am Hals von Erich Mende sowie zur Führertreue ihres Abgeordneten und Judenverfolgers Ernst Auerbach. Nicht zu vergessen Herbert Wehners Moskauer Denunziationen von Genossen oder Manfred Stolpes Stasi-Kontakte. Auch das sechs Jahre nach dem Kriegsende 1945 erlassene 131er Gesetz ließe sich anführen, das 730 000 während der Entnazifizierung entlassene Beamte in der BRD wieder in Amt und Würden brachte, damit die seit 1945 unterbrochene Kommunistenverfolgung endlich weitergehen könne. Was immer gegen die Rolle des MfS einzuwenden ist, und ich bin da als gebranntes Kind nie zurückhaltend gewesen, eines bleibt unbedingt klärungsbedürftig: Vorhergegangen war die von Noske bis Hitler betriebene Verfolgung der Kommunisten. Vonwegen das sei überwundene Vergangenheit – Filbinger durfte den neuen Bundespräsidenten mitwählen, mit den Opfern der Nazijuristen aber wird Schindluder getrieben wie in meinem sächsischen Geburtsort Gablenz, wo der Deserteur Alfred Eickworth zu DDR-Zeiten ein Denkmal erhalten hatte, das im Zuge deutscher Vereinheitlichung blitzschnell verschwand, so wie die sächsische Landesregierung sich stur und kriegstoll gegen die Rehabilitierung von Wehrmacht-Deserteuren ausspricht. Wenn das die deutsche Einheit sein sollte, dann gute Nacht, du liebes Vaterland.


      Soweit einige Details zur Gegenwartsanalyse. Nun stellen wir uns noch vor, in den USA gewönne der irre Kriegs-Bush die kommenden Präsidentenwahlen und in Berlin regiere Angela Merkel im Sinne der Handtaschen-Thatcher an der Spitze einer Chaoten-Riege, die mit Stoiber Prag bedroht, was auch in Polen alles andere als Ruhe schafft, und dann darf sich die Bundeswehr am nächsten völkerrechtswidrigen, idiotischen Bush-Feldzug beteiligen.

      Schöne Aussichten, Genossinnen und Genossen. So kommen wir von Marx über die eiserne Lady Angela zur PDS. Zweifellos gibt es viele Möglichkeiten, mit ihr unzufrieden zu sein. Ihr Potential, den Unwillen der Mitglieder zu erregen, ist unbegrenzt. Ihre Kunst, die Wähler zu enttäuschen, erreicht fast SPD-Format. Erwägenswert sind die Bedenken der radikalen Linken, doch aus den Kommunisten von gestern wurden ebenso viele Antikommunisten und aus den linken Jusos, Spontis und Fundis die opportunistischen Joschkas und Gerhards von heute. Und wo werden sie sich morgen positionieren? Gar nicht zu wählen hätte auch gute Gründe angesichts der Disproportionen von Kapitalmacht und Ohnmacht der Parlamente. Beides aber ist selbst verschuldet. Endlich finden sich Motive, der PDS trotz vagabundierender Zweifel doch noch seine Stimme zu geben. Erstens hatten wir in Deutschland schon mal ein Parlament, das als Reichstag die gewünschte Linkenlosigkeit erreichte. Der Zustand ist eingedenk gewisser Folgen nicht erstrebenswert, zweitens erstreckt sich links von der Mitte ein gähnend leerer Raum, den zu besetzen nur die PDS reale Chancen hat. Parteien sind eben keine Kirchen, in denen aus purer Trägheit nur zwischen Gott und Teufel zu entscheiden ist. Wer noch über ein Gedächtnis verfügt, der weiß, die Nichtwähler von 1932/33 wählten in lasziver Borniertheit ihr späteres Schicksal mit. Wer Lust auf Wiederholung verspürt, darf das vergessen. Ein Deutschland als Linken-freie Zone wäre allerdings ein Rückschritt. Mag sein, die Zeit der alten Parteien geht zu Ende. Noch aber besetzen ihre Zerfallsprodukte den öffentlichen Raum. Sozialisten sollten dort sagen, was Sache ist: Es bestand und besteht eine Kultur, die sich nicht unterwirft. Eine Politik, die auf Rationalität setzt. Ein meist verschwiegener antifaschistischer Widerstand, der zu 75 Prozent kommunistisch, zu zehn Prozent sozialdemokratisch und zu drei Prozent christlich-bürgerlich war. Das ist die medial verschwiegene Wahrheit der Geschichte. Eine Partei, die diese Fakten energisch, einfallsreich und selbstbewußt vertritt, sollte den Wahlgang wert sein. Die Resultate vom 13. Juni 2004 brachten es mit sich, daß PDS-Obere durch unverhoffte Erfolge aufgemotzt wurden. Von den Gemeinden und Ländern her kann die Partei sich jedoch regenerieren. Die geringen Einbußen wegen Regierungsbeteiligung in Berlin und Schwerin sind durch Zugewinne per oppositioneller Energie und Phantasie in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg auszugleichen. Am 15.6. warnte die besorgte FAZ schon vor einer PDS, die sich als »Gegenstück« zu den »Sozialabbau-Reformern« präsentiere. Tatsächlich sucht Schröder die vormalige Arbeiterpartei SPD ganz und gar zur Industriepartei umzuformen, und wenn ihm auch das restliche anderthalb Dutzend Prozent von Wählern davongelaufen ist, wird endlich die schwarze Angela zur Kanzlerin erhoben, damit der Export von Arbeitsplätzen die Höhen der Warenausfuhr erreiche und die Löhne und Renten ukrainisches Niedrigniveau.

      Kam der SPD mit der permanenten Entfernung von Marx die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse abhanden, kann die PDS heimatlose Wähler einsammeln, ringt sie sich zu einer alternativen intellektuellen Konzeption durch, die der SPD fehlt und die zu verwirklichen es der PDS bisher an Selbstbewußtsein mangelte.


      Das eben ist es. Die Sozialordnung ist falsch und ungerecht betoniert. Die SPD wagt nur ihrer eigenen Klientel Einbußen des Lebensstandards zuzumuten, was sie aber nicht offen eingesteht, sondern als Reform deklariert. Ihre Westwähler reagieren vergrätzt mit Wahlstimmenverweigerung. Die Hälfte der Ostdeutschen glaubt noch an den schwarzen Klapperstorch, ein Viertel aber votiert zum Schrecken der Medien und ihrer Besitzer für die PDS. Wird die schwarze Angela erst am Ruder sein, bleiben auch ihre Wähler im Osten daheim, denn wenn mit Reformen nur Lohnraub und Rentenklau gemeint ist, muß Merkel gar noch Schröder übertreffen.


      Die Ostdeutschen sind dabei, durch Schaden klug zu werden. Selbst im Scheitern vermittelte der Sozialismus eine Ahnung davon, daß es auch besser gehen könne. Jetzt sehen sich die Menschen in den sogenannten neuen Ländern enteignet, ausgegrenzt, getäuscht, mißverstanden und verlästert. Ihre Arbeitsplätze sind plattgemacht, Berufe und Titel oft ungültig, die Jugendlichen verdingen sich als Gastarbeiter im Westen, mit dem es auch steil abwärts geht. An den Universitäten wurde das eigene Personal durch fremdes ersetzt. Manche Hochschulbelegschaft ließe sich mit den evaluierten, abgestraften Professoren und Assistenten glatt verdoppeln – virtuelle Unis im Untergrund des okkupierenden Hochmuts West.


      Wo bleibt da Marx?



      Radikale Heiterkeit


      Rosa Luxemburgs Alternative Sozialismus oder Barbarei verwandelte sich nach dem Sieg über einen Sozialismus, der nicht halten konnte, was er versprach, in den Anspruch der USA auf Weltherrschaft. Das ist die moderne Barbarei des amerikanischen Steinzeitkapitalismus. Die deutsche Industrie glaubt daran wie 1933 an den Führer und beauftragt Schröder & Merkel, das Land zu amerikanisieren. Sollte es gelingen, tritt erneut ein, was Marx in »Die Heilige Familie« analysierte: »Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in Gesellschaft der Freiheit, am Tage ihrer Beerdigung.« Ich denke an 1848, 1870/71, 1914/18, 1933, 1989/90 und könnte heulen.


      Am 13.5.1989, noch vor der ausbrechenden Einheit, schrieb ich in der Welt: »Wollten wir eine Wiedervereinigung, dann nähmen wir die Gefahr von Krisen und Krieg in Kauf. Wollen wir Veränderungen und Verbesserungen, ist der Wiedervereinigungsverzicht Voraussetzung. Allerdings stehen in beiden Staaten starke Bremskräfte bereit, denn es fehlt auf beiden Seiten an innovativ-revolutionärer Phantasie und Energie.« Weil das so ist und weil ich mit meinen Warnungen recht hatte, was einen nicht freuen kann, stelle ich mir vor, wir wären alle klüger gewesen oder geworden und hätten als erstes unsere alten eintrainierten Feindschaften überwunden. F. J. Strauß rettete einst die DDR mit dem kleinen Kredit einer einzigen Milliarde vor dem Bankrott. Stellen wir uns vor, die mehr als 1 000 Milliarden, die dem besiegten Staat bislang »geschenkt« wurden, hätte man der DDR zukommen lassen. Statt des heutigen Notstandsgebiets erstreckten sich dort, das walte Marx, die gewünschten blühenden Landschaften. Zum Schluß ein schönes Wort von Bloch: »Auch in die revolutionäre Bewegung muß eine Heiterkeit hineingebracht werden, die ihr bisher größtenteils gefehlt hat.«


      Diese radikale Heiterkeit werden wir benötigen, geht es darum, Adornos Diktum, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, zu widerlegen: Es ist durchaus ein richtiges Leben im falschen möglich, man muß es nur wissen, wollen und wagen.


      * Die bisherigen Beiträge zur Debatte erschienen am 21.5., 26.5., 2.6., 11.6. und 18.6. auf den Thema-Seiten


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      Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/06-24/005.php
      Avatar
      schrieb am 28.08.04 13:09:56
      Beitrag Nr. 18 ()
      Kleines Lexikon des Sozialismus:


      Kapitalismus: "Wirtschaftssystem, das durch Ausbeutung die Regale bis zum Bersten füllt, die Menschen bis zur Fettleibigkeit ernährt und alle mit Wahlmöglichkeiten erdrückt. Ungesund und deshalb böse."


      Sozialismus: "Einzige real existierende Alternative zum Kapitalismus. Wer in böswilliger Weise anführt, dass durch den Sozialismus mindestens 110 Millionen Menschen umgekommen sind, nimmt damit nur den Kapitalismus in Schutz und hätte damit selbst nichts Besseres als den Gulag verdient - sollte also gefälligst den Mund halten. Außerdem waren die Gulags bei weitem nicht so schlimm wie KZs, denn letztere waren rassistisch, während in ersteren alle, unabhängig von Rasse, Geschlecht, und Zugehörigkeit massakriert wurden, auch Faschisten und andere Rechte. Das ist eindeutig guter."

      Eigentum: "Egoistische Ausrede von Assozialen, warum man ihnen nicht alles wegnehmen dürfen soll."

      Recht: "Früher: Hindernis, das von der rechten Justiz allen sozialen Verbesserungen in den Weg gelegt wird, wenn sie Enteignung oder Körpergewalt beinhalten. Heute: Alles, was ich immer schon haben wollte und mir der Staat gefälligst bezahlen soll."
      Avatar
      schrieb am 28.08.04 13:17:08
      Beitrag Nr. 19 ()
      Das kann doch keiner lesen.
      Bring doch Deine Meinung auf den Punkt.
      Avatar
      schrieb am 28.08.04 13:24:56
      Beitrag Nr. 20 ()
      Von der Wiege bis zur Bahre, Sozialismus ist das einzig Wahre

      PS: Der Weg von der Wiege bis zur Bahre vergeht bei Sozilaismus auch noch besonders schnell. Deshalb besser als alles andere.


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