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    Der wahre Grund für den Niedergang der Börsen von La Rochefoucauld: - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 20.03.01 22:10:17 von
    neuester Beitrag 23.07.01 18:54:15 von
    Beiträge: 17
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      schrieb am 20.03.01 22:10:17
      Beitrag Nr. 1 ()
      "Luxus und allzu große Verfeinerung in den Staaten sind ein sicheres Zeichen ihres Untergangs, weil die einzelnen sich selbst nur so weit fördern konnten, wenn sie das allgemeine Wohl aus den Augen verloren"

      La Rochefoucauld

      Alte Weisheit, die Römer sind schon daran zu Grunde gegangen - aktuell beispielhaft umgesetzt von Präsi Bush.

      Nur ein Beispiel (ich kenne hundert). In California wird wohl die Stromversorgung bald zusammenbrechen, weil die Amis im Sommer nicht auf ihre Klimaanlagen verzichten wollen.

      Der Arsch ist ab und wir sind uns darüber im Klaren. Aber wir sind auch tolle Verdrängungskünstler.

      Nach uns die Sinnflut, dass ist jetzt 40 Jahre lang gut gegangen - viel länger als Gruhl, Jonas, Jungk, Meadows, Schumacher, H. Stern, V. Dithfurth, Eppler, Schmidheiny und Co. prognostiziert haben - aber jetzt kommt die Pay-back-Phase wirklich - und wir warten auf Kursziel "dausend" - so ein Schwachsinn!

      Schaut Euch die globalen Trends an - ein Wunder, dass wir nicht in Panik verfallen! Die Börse sinkt weil die fundamentalen Weltdaten sauschlecht aussehen- und dann Bush - es ist nicht zu fassen. Der verpulvert jetzt das Tafelsilber um uns noch eine weitere Dekade einzunebeln - unglaublich was zur Zeit geschieht. Die halbe Welt vereckt und wir sorgen uns darum, dass die Amis den Schrott den sie nicht brauchen nicht mehr kaufen - totaler Wahnsinn!

      Energieversorgung, Weltbevölkerung, Aids, einen Scheiß haben wir im Griff - aber Hauptsache der 6-Zylinder Diesel läuft ruhig - vollkommen behämmert wie wir drauf sind.
      Wenn dass in ein paar hundert Jahren noch jemand kommentieren kann werden die Zuhörr wegen so viel Bescheuertheit ihrer Vorfahren einen Lachflash kriegen. So unglaublich ist unsere selektive Wahrnehmung und fatalistische Verdrängung. EMTV kaufen! Update aussichtsreich! Die Analysten, alles monokausal dekende Fachidioten! Brainpool strong buy - cash mit trash und der Planet säuft ab!

      Ich spinne nur herum? Kauft Euch den aktuellen Report des Worldwatch Instituts. Informiert Euch bevor mir nur die Lust am Untergang unterstellt wird. Ich kann die vielen unreflektierten Pushversuche hier nicht mehr ertragen - verblödet durch Bild und Big Brother, unfähig auch nur in Ansätzen vernetzt zu denken.

      Kapiert es endlich es gibt kein unendliches Wachstum und wir können der Enthropie nicht entgehen. Nachhaltiges wirtschaften wäre möglich - aber nicht in diesem HaudraufundSchlußshareholdervalueNichtsblicker-System!
      - und ich gehöre selbst dazu!

      Ich bin nicht krank - aber erschrocken - auch über mich selbst!


      Macht doch die Augen auf, ihr glaubt doch selber nicht, dass auf die Entwicklung der letzen 20 Jahre noch was draufzusetzen wäre. Wenn wir Glück haben gibt es ein lange seichte abwärtsbewegung, an die man sich anpassen kann mit Entschleunigung, Bescheidenheit und Sparsamkeit und Rückkehr der menschlichen Werte. Das ist unwahrscheinlich - fast alle sind auf schneller, höher, weiter dressiert - durch eine regelrechte Gehirnwäsche. "Consumo ergo sum". Wenn es runter geht, so wie jetzt, glaubt die meisten, das wäre das Luftholen für den nächsten Hype. Vielleicht klappt es sogar in einem wahnsinnigen Zucken ein letztes mal für die westliche Welt. Nach Afrika opfern wir dann Russland und Südamerika - aber dann ist das Pulver endgültig verschossen.

      Denkt doch mal nach!!!!!!!!!

      Ich habe es schon mal versucht - aber dies ist definitiv mein Abschiedsbeitrag - ich werde die Screen-Sucht überwinden. Schon bescheuert, dass ich eine Zeit lang mehr vor der Kiste gesessen hab als mich um meine Kinder zu kümmern!

      Ab jetzt gilt first things first!

      und auch wenn morgen die Welt unter geht pflanze....

      Gute Nacht

      stormy
      (expecting stormy times)
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 22:13:28
      Beitrag Nr. 2 ()
      Na endlich mal einer der Recht hat.

      Endlich weg mit Greenspan !!
      Dem Totengräber der westlichen Welt :(:(
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 22:18:07
      Beitrag Nr. 3 ()
      In Ansätzen absolute Zustimmung. Allerdings: Gier frißt Hirn, immer noch.

      Abschied vom Screen ist schon mal ein Ansatz.
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 22:27:02
      Beitrag Nr. 4 ()
      @Batman, was hast Du gegen AG, der hat doch den Börsianern 10 Jahre lang die Taschen voll gemacht. Warst Du nicht dabei?Ich auch nicht. Wer hat das Geld verdient? Jetzt über Greensp. zu meckern ist idiotisch. Der Mann ist doch kein Spielautomat mit Gewinngarantie. Hier posten die geleimten Aktionäre, die von den 0190 er Gurus und den Aktienblättchen a la Boerse Online usw. spitz gemacht wurden und nun auf ihren Verlusten sitzen. Wen interessiert die geldgeile Gemeinde? Niemand.
      J2
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 22:30:02
      Beitrag Nr. 5 ()
      stormy

      im grossen und ganzen gebe ich dir voll recht.

      du hast noch vergessen das unsere lebensmittel auch im ars.. sind.

      wie war der spruch vom indianer:

      erst wenn der letzte baum usw usw.

      werdet ihr feststellen das man geld nicht essen kann.

      und wenn die börse wieder steigt ist alles wieder vergessen.

      wetten.

      ciao
      schade

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      Avatar
      schrieb am 20.03.01 22:31:56
      Beitrag Nr. 6 ()
      auch wenn es einfach nur fatalistisch daherkommen mag..
      die grundthese stimmt... wir haben und leben noch immer über unsere
      verhältnisse.. lenken den fokus auf dinge, die an trivialität
      nicht mehr zu unterbieten sind.. ob nun bush oder feldbusch,
      allesamt intonieren sie die unterhaltungsmusik, um die sirenen
      nur möglichst lange zu übertönen. man sehe sich nur die letzten tage
      an.. schaue nur auf die börse.. welche banalen kausalketten hier
      von den laien und - schlimmer noch - von den angeblichen
      profis geknüft worden sind, um sich wieder mut zu machen..
      es ist schlicht zum kotzen.. fist thinks first.. stormy..
      recht hast du... viele von denen, die sich hier seit tagen,
      wochen, monaten stundenlang mit analysen, prognosen und
      sonstigen ergüssen betätigen, sollten tatsächlich mal für einige tage
      den pc auslassen... es wirkt verdammt relativierend..
      habe es selbst erfahren..

      das von meiner seite..

      gruss think
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 23:11:42
      Beitrag Nr. 7 ()
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 23:19:32
      Beitrag Nr. 8 ()
      something to think about...
      > >
      > > If we could shrink the earth`s population to a village of precisely 100
      > > people, with all the existing human ratios remaining the same,it would
      > > look
      > > something like the following:
      > >
      > > There would be:
      > > 57 Asians
      > > 21 Europeans
      > > 14 from the Western Hemisphere, both north and south
      > > 8 Africans
      > >
      > > 52 would be female
      > > 48 would be male
      > >
      > > 70 would be non-white
      > > 30 would be white
      > >
      > > 70 would be non-Christian
      > > 30 would be Christian
      > >
      > > 89 would be heterosexual
      > > 11 would be homosexual
      > >
      > > 6 people would possess 59% of the entire world`s wealth and all
      > > 6 would be from the United States.
      > >
      > > 80 would live in substandard housing
      > > 70 would be unable to read
      > > 50 would suffer from malnutrition
      > > 1 would be near death; 1 would be near birth
      > > 1 (yes, only 1) would have a college education
      > > 1 would own a computer
      > >
      > > When one considers our world from such a compressed perspective,the need
      > > for
      > > acceptance,understanding and education becomes glaringly apparent.
      > >
      > > The following is also something to ponder...
      > >
      > > If you woke up this morning with more health than illness...you
      > > are more blessed than the million who will not survive this week.
      > >
      > > If you have never experienced the danger of battle, the
      > > loneliness of imprisonment, the agony of torture, or the pangs of
      > > starvation
      > > you are ahead of 500 million people in the world.
      > >
      > > If you can attend a church meeting without fear of harassment,
      > > arrest,torture, or death...you are more blessed than three
      > > billion people in the world.
      > >
      > > If you have food in the refrigerator, clothes on your back, a
      > > roof overhead and a place to sleep...you are richer than 75% of this
      > > world.
      > >
      > > If you have money in the bank,in your wallet, and spare change
      > > in a dish someplace ... you are among the top 8% of the world`s
      > > wealthy.
      > >
      > > If your parents are still alive and still married ... you are
      > > very rare, even in the United States and Canada.
      > >
      > >
      > >
      > > Someone once said: What goes around comes around.
      > >
      > > Work like you don`t need the money.
      > > Love like you`ve never been hurt.
      > > Dance like nobody`s watching.
      > > Sing like nobody`s listening.
      > > Live like it`s Heaven on Earth.
      > >
      > >
      Stormy hat recht, es gibt wichtigeres
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 23:27:42
      Beitrag Nr. 9 ()
      @stormy

      wenn du zufällig einen BMW fährst, dann kenn ich dich 100%ig aus einem anderem Board.
      Kann aber auch ein Zufall sein.
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 23:34:25
      Beitrag Nr. 10 ()
      Nein, ich fahre einen "neuen Käfer"
      Avatar
      schrieb am 20.03.01 23:39:27
      Beitrag Nr. 11 ()
      In Zeiten von Big Brother und Girlscamp (Millionen der Spaßgesellschaft beobachten andere, die erwiesenermasen weniger Spaß als Kakerlaken in Plattenbauten im Osten haben); in Zeiten wo ein Günther Jauch für den neuen, intelligenten (???) Fernsehanspruch gerühmt wird ("UI, ist der aber BLÖD, das weiß doch jeder!!!"), in Zeiten, in denen jedes Kleinkind schon mühelos den Unterschied zwischen Parma- und Serranoschinken erkennt...in diesen Zeiten macht Ihr Euch Gedanken um Umweltverschmutzung, Kosovokrieg, BSE, AIDS, Afrika, Kinderprostitution, Rechtsradikalismus...???

      Mutig, mutig!!!!

      Und das alles ausgelöst von einem kleinen, sehr alten, sehr wichtigen Mann...Nur weiter so, Mr. Greenspan!!! Durch Sie werden wir alle sehr arme, aber sehr redliche Leute...

      Nur noch eine kleine Frage: Wenn der Markt heute explodiert wäre, nach oben, versteht sich; hätte einer von Euch Philosophen seinen Gewinn geteilt??? Mit den Ärmsten dieser Welt????? - Ich hab da ein paar Spendenkonten-Nr., stelle sie gerne für Interessierte hier ins Netz!!!!! (Geh nur mal schnell KOTZEN !!!!)
      Avatar
      schrieb am 22.03.01 15:18:38
      Beitrag Nr. 12 ()
      In seiner Rede »Zur Lage der Nation« vom 27.01.2000 sprach US-Präsident Bill Clinton davon, daß sich alle Amerikaner glücklich schätzen könnten, in dieser Zeit der Geschichte zu leben. Niemals zuvor habe es für die Nation so großen Wohlstand und sozialen Fortschritt bei derart wenigen inneren Krisen und Bedrohungen von außen gegeben. Die Amerikaner begännen das neue Jahrhundert mit der niedrigsten Arbeitslosenquote und dem stärksten Wirtschaftswachstum seit 30 Jahren. Alles scheint auf ein neues »goldenes Zeitalter« der amerikanischen Wirtschaft hinzudeuten.

      Im folgenden Text sucht der amerikanische Wirtschaftsprofessor Fred Moseley nach Erklärungen für diesen »Boom« und betrachtet vor allem seine auffälligen Widersprüchlichkeiten, wie z.B. niedrige Inflationsraten bei extrem geringer Arbeitslosigkeit. Das Papier erschien im Sommer 1998 in Capital & Class Nr. 67, ist also nicht mehr ganz aktuell. In seiner Einschätzung erwartet er entgegen allen überschwenglichen Hoffnungen eine Rezession der US-Wirtschaft 1999 oder 2000. In einer aktuelleren Einschätzung meint er, diese Rezession könnte durchaus auch etwas - aber nicht viel - später einsetzen. Obwohl er (wie damals sicher viele - wir selbst eingeschlossen) die Dramatik der asiatischen Krise überschätzt zu haben scheint, macht Moseley wichtige Ausführungen zur Stabilität des amerikanischen »Booms«. Moseleys Einschätzungen zur Abhängigkeit der amerikanischen Wirtschaft von weiteren Kapitalimporten werden inzwischen auch von anderen Autoren unterstützt.

      Wenn Moseley Recht behält, könnte die Eingangs erwähnte Rede Clintons historisch neben der Rede des US-Präsidenten Hoover stehen, der 1928 - ein Jahr vor dem Zusammenbruch des US-Aktienmarktes und damit dem offenen Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. - noch verkündete: »Wir haben gezeigt, daß unser System empfindlich genug reagiert, um jeder neuen und schwierigen Entwicklung in unserem wirtschaftlichen und geschäftlichen Leben zu begegnen ... Wir sind heute dem Ideal der Verbannung von Armut und Furcht aus dem Leben von Männern und Frauen näher gekommen als jemals zuvor in irgendeinem Land.«


      --------------------------------------------------------------------------------

      In diesem Text wird die These diskutiert, daß die US-Ökonomie sich nicht am Beginn einer neuen Blütezeit befindet - hauptsächlich, weil die Profitrate 30-40 Prozent unterhalb der Werte der Nachkriegszeit liegt, obwohl die Reallöhne seit Anfang der 70er Jahre um 20 Prozent gesunken sind. Unter diesen Bedingungen ist es unwahrscheinlich, daß die Reallöhne in den nächsten Jahren steigen werden. Außerdem wird gezeigt, daß ein wichtiger Grund für das beschleunigte Wachstum der US-Ökonomie seit 1995 ein starker und schnell wachsender Netto-Zustrom an ausländischem Kapital ist (wodurch auch die Verschärfung der asiatischen Krise weiter beschleunigt wurde). Daraus wird geschlußfolgert, daß 1999 die Chancen einer Rezession in den USA hoch sind, und daß solch eine Rezession die Weltwirtschaft wahrscheinlich in eine tiefe Depression treiben würde.



      Die US-amerikanische Wirtschaft am Ende des Jahrhunderts:
      Am Beginn einer neuen Ära der Prosperität?
      Fred Moseley (in: Capital & Class, No. 67, Sommer 1998)

      In den ersten 25 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich die US-Ökonomie sehr gut. Die Wachstumsrate betrug durchschnittlich vier bis fünf Prozent pro Jahr, die Arbeitslosenquote war selten über fünf Prozent, Inflation existierte fast nicht (ein bis zwei Prozent), es gab jährliche Produktivitätssteigerungen von durchschnittlich zwei Prozent oder mehr und der durchschnittliche Reallohn der Arbeiter wuchs bedeutend (um ungefähr 60 Prozent über den gesamten Zeitraum). Wegen dieser außergewöhnlichen Entwicklung werden diese Jahre oft als das »goldene Zeitalter« der US-Ökonomie bezeichnet (z.B. Marglin und Schor, 1990).

      Diese lange Periode des Wachstums und der Prosperität endete jedoch in den 70er Jahren. Seitdem hat sich das Wachstum verlangsamt (zwei bis drei Prozent jährlich), und sowohl die Arbeitslosenquote als auch die Inflationsrate sind gestiegen. Um diese schwächere ökonomische Entwicklung und die beispiellose Kombination von höherer Arbeitslosigkeit und gesteigerter Inflation zu beschreiben, wurde der Ausdruck »Stagflation« geprägt. Während dieser Zeit sank das Produktivitätswachstum auf weniger als ein Prozent pro Jahr, und die Reallöhne der Arbeiter gingen um ungefähr 15 Prozent zurück. Der »Amerikanische Traum« von ewig wachsendem Lebensstandard hörte für viele Arbeiter auf, Realität zu sein. Zum ersten mal in der Geschichte der USA befürchteten viele junge Arbeiter, daß sie einen niedrigeren Lebensstandard haben würden als ihre Eltern. Wallace Petersons Buch über diese Zeit heißt: »Stille Depression: das Schicksal des amerikanischen Traumes«.

      Die entgegengesetzten Entwicklungen der Reallöhne dieser beiden Perioden - 60 Prozent Steigerung und dann 17 Prozent Rückgang - sind vielleicht das deutlichste Zeichen für den Übergang von der Prosperität zur Stagflation. Diese Trends sind in Abbildung 1 grafisch dargestellt. Harrison und Bluestone (1986) haben diese Umkehrung der Entwicklung die »große Wende der Löhne« genannt. Man kann sehen, daß die durchschnittlichen Reallöhne 1995 auf ungefähr dem gleichen Niveau sind wie 1965. Das erneute Anwachsen der Reallöhne hat nur einen kleinen Teil der Verluste seit 1973 wettgemacht.




      Abbildung 1: Durchschnittliche Reallöhne in der US-Wirtschaft, 1947-1997

      Mit einem Wechsel von der Prosperität zur Stagflation der US-Wirtschaft und dem damit verbundenen Rückgang der Reallöhne hatte in den 60er Jahren niemand gerechnet. Hermann Kahn z.B., ein bekannter Zukunftsforscher, sagte 1967 voraus, daß sich die Reallöhne bis zum Jahr 2000 in der US-Wirtschaft verdreifachen würden (Kahn, 1967: 176-180). Eine ähnliche Vorhersage - nämlich daß die Reallöhne bis zum Jahr 2000 um 150 Prozent wachsen würden - wurde in einer Sonderausgabe des Forbes Magazine desselben Jahres gemacht. Vom Optimismus der 60er Jahre aus gesehen (der von den Entwicklungen des »goldenen Zeitalters« der frühen Nachkriegsperiode ausging) war das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts eine schreckliche Enttäuschung für die US-amerikanische Wirtschaft.

      Während der letzten zwei oder drei Jahre scheint sich die US-Ökonomie erholt zu haben. Das Wachstum ist etwas beschleunigt (auf drei bis vier Prozent), die Arbeitslosenquote liegt das erste Mal seit den 60er Jahren unter fünf Prozent, die Inflation ist sehr gering (um zwei Prozent), und die Reallöhne sind ein wenig gestiegen (zwei bis drei Prozent). Der Aktienmarkt ist über alle Erwartungen gewachsen. Man hört heute immer öfter das Wort »Boom«, um die US-Wirtschaft zu beschreiben. Im Ergebnis haben eine wachsende Zahl von Ökonomen, marxistische und radikale Ökonomen eingeschlossen, die Schlußfolgerung gezogen, daß diese letzten paar Jahre einen Wendepunkt im Ablauf der langen Wellen des US-Kapitalismus markieren. Der letzte Anstieg im Wachstum wäre danach der Anfang einer neuen »langen Welle«, einer Periode von Wachstum und Erfolg, ähnlich dem »goldenen Zeitalter« der Nachkriegszeit. Die nächsten Jahrzehnte brächten niedrige Arbeitslosigkeit, wenig Inflation und beständig wachsende Reallöhne. Business Week schrieb, daß die US-Ökonomie zu einer »new economy« (»neuen Ökonomie«) geworden wäre, in der neue Technologien, vor allem die Informationstechnologie, schnelles Wachstum und schnelle Reallohnsteigerungen für eine mehr oder weniger unbestimmte Zeit ermöglichten.

      In diesem Text versuche ich zu bestimmen, ob die US-Wirtschaft tatsächlich am Beginn einer neuen Ära der Prosperität steht, die dem »goldenen Zeitalter« vergleichbar ist, oder ob sich die letzten beiden Jahre lediglich als ein vorübergehender Impuls in der langen Periode von Stagflation herausstellen werden, die die USA seit den 70er Jahren quält und die sich bis ins 21. Jahrhundert fortsetzen könnte.

      1. Der Fall der Profitrate
      Zunächst möchte ich kurz meine Erklärung der Ursachen der Stagflation der letzten Jahrzehnte zusammenfassen (eine genauere Ausführung findet sich in Moseley, 1991 und Moseley, 1997). Danach soll untersucht werden, was diese Erklärung hinsichtlich der notwendigen Bedingungen für ein Ende der Stagflation und eine Rückkehr zu Prosperität bedeutet.

      Radikale Ökonomen, ich selbst eingeschlossen, haben versucht zu zeigen, daß die Hauptursache der Stagflation der letzten Jahrzehnte ein bedeutender Fall der Profitrate in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg war (Weisskopf, 1979; Bowles, Gordon und Weisskopf, 1983; Wolff, 1986; Duménil und Levy, 1993; Shaikh, 1992; Brenner, 1998; ein vergleichbarer Fall der Profitrate trat in fast allen Ländern auf, für die die entsprechenden Daten vorliegen). Es gibt verschiedene Methoden, die Profitrate zu bestimmen, aber alle zeigen im Kern den selben starken Abwärtstrend in dieser Periode. [1] Nach meinen Schätzungen, die in Abbildung 2 dargestellt sind, sank die Profitrate um 45 Prozent - von 22 Prozent Ende der 40er Jahre auf 12 Prozent Mitte der 70er Jahre. [2]




      Abbildung 2: Die Profitrate in der US-Wirtschaft, 1947-1994

      Wie in vorhergehenden Perioden der Depression führte der Fall der Profitrate zu einer Abnahme der Investitionen und zu höherer Arbeitslosigkeit. Ein neuer Faktor der Nachkriegsperiode ist, daß in den 70er Jahren viele Regierungen eine keynesianische Politik der Ausgabenausweitung praktizierten (höhere Regierungsausgaben, niedrige Zinsraten und so weiter...), um die steigende Arbeitslosigkeit einzudämmen. Diese Versuche der Regierungen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, führten jedoch im allgemeinen zu höheren Inflationsraten, weil die kapitalistischen Unternehmen auf die Ankurbelung der Nachfrage durch die Regierung mit Preiserhöhungen reagierten, um den Verfall ihrer Profitraten umzukehren. In den 80er Jahren revoltierten die Finanzkapitalisten gegen diese höheren Inflationsraten und zwangen die Regierungen gewöhnlich zu einer restriktiveren Politik (weniger Staatsausgaben, höhere Zinsen und ähnliche Maßnahmen). Das Ergebnis waren eine geringere Inflation, aber eine höhere Arbeitslosenquote und ein stark reduzierter Lebensstandard. Die Regierungspolitik hatte also das besondere Verhältnis von Arbeitslosigkeit und Inflation angegriffen, aber die grundlegende Ursache dieser beiden »Zwillings-Übel« war der Fall der Profitrate.

      Ich habe bereits gezeigt (Moseley, 1991 und 1997), daß gemäß der Marxschen Theorie die beiden Hauptursachen für den deutlichen Fall der Profitrate der US-Wirtschaft der Nachkriegszeit folgende waren: (1) ein Anwachsen der organischen Zusammensetzung des Kapitals (d.h. des Verhältnisses von konstantem zu variablem Kapital) um 40 Prozent, wie es die Marxsche Theorie vorhergesagt hatte; und (2) eine Verschiebung des Verhältnisses von unproduktiver Arbeit zu produktiver Arbeit um 80 Prozent. [3] Nach Marx hat eine Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals einen negativen Einfluß auf die Profitrate, weil diese Steigerung bedeutet, daß ein geringerer Teil des Gesamtkapitals in Arbeitskraft investiert wird, die die Quelle des Profites ist. Ähnlich bedeutet eine relative Verschiebung des Verhältnisses von unproduktiver zu produktiver Arbeit, daß ein größerer Teil des Mehrwertes, der durch die produktive Arbeit produziert wird, aufgewendet werden muß, um die unproduktive Arbeit zu bezahlen. Daher bleibt ein geringerer Teil des Mehrwertes als Profit der Kapitalisten. Dieser Erklärung folgend, ergibt sich, daß das relative Anwachsen der unproduktiven Arbeit zu ca. 60 Prozent in den Fall der Profitrate der US-Ökonomie dieser Zeit eingeht, während die steigende Zusammensetzung des Kapitals den größten Teil der verbleibenden 40 Prozent ausmacht. [4]

      Aus diesem marxistischen Blickwinkel ergibt sich, daß der kritische Faktor, der bestimmt, ob die Periode der Stagflation beendet ist oder nicht, ob für die US-Ökonomie tatsächlich eine Periode anhaltender Prosperität beginnt oder nicht, darin besteht, ob die Profitrate seit den 70er Jahren entscheidend erhöht und auf dem Level der hohen Nachkriegsprofitraten stabilisiert werden konnte oder nicht.

      2. Versuche, die Profitrate durch Lohnkürzungen zu steigern
      In den letzten Jahrzehnten haben kapitalistische Unternehmen auf verschiedene Weise versucht, die Profitrate wiederherzustellen. Am wichtigsten war dabei die Kürzung der Arbeitslöhne. Dazu wurden verschiedene Strategien benutzt: direkte Kürzung von Lohn (und Sozialleistungen), der Übergang zu prekären Jobs (wie Teilzeitarbeit, befristete Arbeit usw.), zweischichtige Lohnsysteme (bei denen neue Arbeiter zu viel niedrigeren Anfangslöhnen eingestellt werden als bereits beschäftigte Arbeiter), und die Auslagerung von Produktion in Billiglohnländer (der Wunsch, die Löhne zu drücken, war die Hauptantriebskraft der »Globalisierung« der letzten Jahrzehnte). Der Erfolg dieser Strategien wurde durch die seit den 70er Jahren herrschende hohe Arbeitslosigkeit noch unterstützt.

      Aus der Perspektive der Arbeiter haben sich diese Versuche, die Profitrate wiederherzustellen, in den letzten Jahrzehnten in einem Trend zu fallenden Reallöhnen, wie er in Abbildung 1 dargestellt ist, niedergeschlagen. Also ist der Verfall der Reallöhne seit den 70er Jahren kein Zufall und kein Rätsel, sondern das zu erwartende Ergebnis der wohlüberlegten Versuche der Kapitalisten, die Profitabilität durch Lohnkürzungen wiederherzustellen, was durch eine höhere Arbeitslosigkeit unterstützt wurde.

      Ein anderer Maßstab für die Lohnsenkungen der letzten Jahrzehnte wurde von Mishel et al. (1997) vorgeschlagen: der Anteil der Arbeiter in »Niedriglohnjobs«, wobei »Niedriglohn« definiert ist als der notwendige Stundenlohn, um eine vierköpfige Familie über der offiziellen Armutsgrenze zu halten (das war 1995 ein Stundenlohn von 7,28 Dollar). Nach Mishel et al. hat sich der Anteil von Arbeitern in solchen »Niedriglohnjobs« beständig erhöht, von 23,5 Prozent 1973 auf 29,7 Prozent 1997 (Mishel et al., 1997: 149-156; dieses Buch ist eine exzellente und umfassende Quelle zu den aktuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen der US-amerikanischen Arbeiter, und es wird alle zwei Jahre aktualisiert).

      Die Einkommen der Haushalte sind nicht im gleichen Masse gefallen wie die Reallöhne, sondern seit den frühen 70er Jahren mehr oder weniger konstant geblieben (mit zyklischen Fluktuationen). Der Hauptgrund, daß sich die Haushaltseinkommen nicht so schlecht wie die Reallöhne entwickelten, ist, daß der Anteil von Haushalten mit zwei Verdienstpersonen über diesen Zeitraum angestiegen ist. Für viele Familien war der einzige Weg, ihren Lebensstandard zu halten, mehr Familienmitglieder in die Lohnarbeit zu schicken. Bluestone und Rose (1997) schätzen, daß die durchschnittliche Arbeitszeit in Haushalten, in denen Frau und Mann lohnarbeiten, von 1971 bis 1988 um 20 Prozent angestiegen ist (zur weiteren Analyse des Anstieges der Familienarbeitszeit siehe auch. Mishel et al.: 79-94). Überdies beschreiben die Zahlen über die Haushaltseinkommen das durchschnittliche Einkommen. Wie wir weiter unten sehen werden, haben sich die Haushaltseinkommen in den 80er und 90er Jahren stark auseinanderentwickelt. Daher mußte in diesem Zeitraum eine große Zahl, vielleicht die Mehrheit der US-Haushalte, einen Rückgang der Einkommen hinnehmen.

      Eine Art, wie der Konsum der Haushalte trotz fallender Reallöhne und Haushaltseinkommen aufrechterhalten wurde, ist die steigende private Verschuldung. Die Privatverschuldung als Anteil des Nettoeinkommens hat von ca. 70 Prozent in den 70er Jahren auf den historischen Höchstwert von fast 100 Prozent 1997 zugenommen. [5] Doch die größere Schuldenlast macht die Haushalte auch anfälliger gegen eigene Bankrotte, vor allem wenn es mit der Wirtschaft bergab geht. Tatsächlich hat sich die Zahl der privaten Bankrotte seit den frühen 80ern stetig gesteigert. Dieser Prozeß hat sich während der vergangenen »Boom«-Jahre mit außergewöhnlich niedrigen Zinsraten sogar noch beschleunigt und hat die Zahl auf Rekordwerte wachsen lassen (über sechs von 100 Haushalten). Wenn die Zinsraten steigen würden und / oder die Einkommen aufgrund einer Rezession fallen würden, würde sich die Zahl der privaten Bankrotte wahrscheinlich deutlich erhöhen. Viele Familien würden ihre Autos, Häuser usw. verlieren, die sie auf Kredit angeschafft haben.

      Ein anderer Weg für die Haushalte, den Konsum trotz fallender Reallöhne zu erhalten, ist es gewesen, einen größeren Anteil des verfügbaren Einkommens auszugeben, d.h. einen geringeren Anteil zu sparen. Die Sparrate in der US-Wirtschaft war immer niedriger als in den meisten anderen entwickelten Industrieländern (um fünf Prozent), wie Deutschland (15 Prozent) oder Japan (20 Prozent). In den vergangenen Jahren hat sich die Sparrate in den USA weiter auf ca. zwei bis drei Prozent verringert, und im letzten Quartal (3. Quartal 1998) ist sie sogar negativ geworden! [6]

      Ein wichtiges Ergebnis der fallenden Reallöhne und Familieneinkommen ist der steigende Teil der Bevölkerung, der in Armut lebt. Nach Regierungsangaben hat sich der Anteil der US-Bevölkerung mit Einkommen unterhalb der offiziellen »Armutsgrenze« von ca. 11 Prozent 1973 auf ca. 14 Prozent Mitte der 90er Jahre erhöht, was einen langen Trend sinkender Armutsraten von ca. 25 Prozent in den 50er Jahren umkehrte. Darüberhinaus wenden viele Forscher ein, diese Zahlen unterschätzten sowohl das absolute Ausmaß der Armut wie auch die Stärke des vergangenen Anstieges. Alternative Schätzungen, die auf einem realistischeren und vernünftigeren Maßstab der Armutsgrenze basieren, legen nahe, daß der Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, in den letzten Jahrzehnten um mehr als 50 Prozent gestiegen ist: von ca. 17 Prozent 1973 auf ungefähr 26 Prozent 1989 (Ruggles, 1990: 55). Dieser Anteil hat sich ziemlich sicher seitdem noch erhöht (die offiziellen Armutszahlen sind von 11,7 Prozent 1989 auf 13,8 Prozent 1995 gestiegen). [7] Das heißt, daß in diesen letzten Jahrzehnten der Stagflation der Fortschritt der US-Wirtschaft in der Reduzierung der Armut gestoppt wurde und sich ins Gegenteil verkehrt hat. Das Ausmaß der Armut im angeblich reichsten Land der Welt ist beschämend.

      Die sinkenden Reallöhne haben auch dazu beigetragen, daß die Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen in der US-Wirtschaft rapide angestiegen ist. Der Anteil der Einkommen, die auf die reichsten 20 Prozent der Haushalte entfallen, ist von 41,1 Prozent 1973 auf 46,5 Prozent 1995 gewachsen. Der Teil, der den reichsten 5 Prozent der Familien zufließt, ist in dieser Zeit von 15,5 Prozent auf 20 Prozent angestiegen. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der ärmsten 40 Prozent der Haushalte am Gesamteinkommen von 17,4 Prozent auf 14,5 gesunken (Daten vom US-Büro für Statistik). (Wir sehen, daß die reichsten fünf Prozent deutlich mehr Einkommen haben als die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung.) Von 1979 bis 1994 stieg das durchschnittliche Realeinkommen der reichsten 20 Prozent der Bevölkerung um 30 Prozent und das der reichsten fünf Prozent um 50 Prozent. Während der selben Periode sank das durchschnittliche Realeinkommen der ärmsten 20 Prozent um zehn Prozent. Für die wohlhabende Elite mag die US-Wirtschaft tatsächlich boomen, aber für die Mehrzahl der US-amerikanischen Arbeiter, vor allem für die mit den am schlechtesten bezahlten Jobs boomt sie definitiv nicht. Marx` »allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« - das die Akkumulation des Reichtums der Kapitalisten mit der Akkumulation der Armut der Arbeiter verbindet - scheint in den letzten Jahrzehnten in den USA (und tatsächlich weltweit) nur allzu wahr gewesen zu sein.

      Es ist bereits gesagt worden, daß es ein weitverbreitetes Mittel der Lohnsenkung (und damit der Wiederherstellung der Profitabilität) war, den Anteil der verschiedenen Arten von prekären Arbeitsverhältnissen [»contingent« jobs], wie Teilzeitarbeit, Leiharbeit und ähnliche Jobs, zu erhöhen. Nach einer Schätzung hat sich der Anteil solcher Jobs in der US-Ökonomie von ca. 18 Prozent in den 70er Jahren auf heute ca. 25 Prozent erhöht (Tilly, 1996, Kapitel 1). 80 Prozent dieser prekären Jobs sind Teilzeitjobs. Manche Arbeiter bevorzugen Teilzeitjobs aus den verschiedensten Gründen (fehlende Kinderbetreuung eingeschlossen), aber fast das gesamte Wachstum von Teilzeitjobs in den letzten 20 Jahren geht auf unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung zurück. (Tilly bietet eine vorzügliche Analyse der wachsenden Bedeutung der Teilzeitarbeit für die US-Ökonomie). Leiharbeit ist eine der am schnellsten wachsenden Kategorien in der Klassifizierung des Büros für Arbeitsstatistik [Bureau of Labour Statistics]: sie ist seit 1980 zehnmal so schnell gewachsen wie die Gesamtbeschäftigung und zwar von fast 0 auf über 2 Prozent des Gesamtarbeitsvolumens. [8]

      Im Allgemeinen sind diese prekären Jobs viel unsicherer als feste Vollzeitjobs. Aus diesen Jobs werden die Leute in der nächsten Rezession wahrscheinlich als erstes entlassen. Daher ist trotz niedriger Arbeitslosigkeit ein großer Teil der Arbeiter ökonomisch unsicher, frustriert über ihre Jobs und besorgt über die Zukunft. Dieses tiefe untergründige Gefühl wirtschaftlicher Besorgnis zeigt sich jedesmal deutlich, wenn eine große Firma ankündigt, sie würde für ein paar hundert »gute« Jobs - d.h. Vollzeit und annehmbar bezahlt - Leute suchen, und sich tausende von Arbeitern bewerben.

      Die wachsende Bedeutung von prekärer Beschäftigung in der US-Wirtschaft ist eine teilweise Eklärung dafür, warum die Inflation in den letzten Jahren trotz der niedrigen Arbeitslosenrate so gering geblieben ist. In der Vergangenheit hätten sich die Lohnsteigerungen bei einer solch niedrigen Arbeitslosenrate beschleunigt und hätten so die Inflationsrate hochgetrieben. Doch diese umgekehrte Proportionalität zwischen der Arbeitslosenrate einerseits und der Lohnsteigerungsrate andererseits (was Makro-Ökonomen die »Phillips-Kurve« nennen) hat anscheinend für die US-Wirtschaft der letzten Jahre nicht gegolten. Die Arbeitslosenrate ist gesunken und ist nun im historischen Maßstab sehr niedrig, aber die Lohn- und Preissteigerungen haben sich nicht beschleunigt.

      Die offiziellen Schätzungen der Arbeitslosenrate unterscheiden aber nicht zwischen Teilzeit- und Vollzeitjobs. So hat ein wachsender Teil der Beschäftigten trotz niedriger offizieller Arbeitslosenrate Teilzeitjobs. Deshalb ist das Angebot an Arbeitskraft alles andere als erschöpft. Das Überangebot an Arbeit von Arbeitern mit Teilzeitjobs setzt die Löhne weiterhin unter Druck. Bluestone und Rose (1997) haben eine ähnliche Erklärung für das Ausbleiben von Lohnsteigerungen und Inflation unter den derzeitigen Bedingungen niedriger offizieller Arbeitslosenrate gegeben.

      Deshalb haben die Versuche der kapitalistischen Unternehmen, ihre Profitabilität durch Lohnsenkungen wiederherzustellen, einen hohen Tribut von den Arbeitern verlangt. Ihre Löhne und die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze haben abgenommen. Für viele ist der »amerikanische Traum« von guten Jobs und ewig steigendem Lebensstandard eine Illusion geworden.

      Doch es ist überraschend - und alarmierend - daß trotz dieser allgemeinen Reallohnsenkungen die Profitrate in der US-Wirtschaft sich bisher nur um ein Drittel ihres vorherigen Abfalls erhöht hat, so daß die Profitrate heute immer noch 35-40 Prozent unterhalb ihrer Spitzenwerte der Nachkriegszeit liegt, wie es Abb. 2 zeigt (für weitere Erörterungen dieser Zahlen siehe Moseley, 1997). Mit anderen Worten: die ausgedehnten Versuche der kapitalistischen Unternehmen, ihre Profitrate zu erhöhen, die derartig negative Wirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter hatten, haben bisher nur Teilerfolge gebracht. [9] Das ist der kritische Faktor, den Business Week in ihrer Ankündigung einer »new economy« übersieht. Alle neuen Technologien haben bisher nicht zu einer vollständigen Erholung der Profitrate geführt. [10] Diese schwache Erholung der Profitrate ist der Hauptgrund, warum die Stagflation sich in den 90er Jahren fortgesetzt hat und warum sie sich wahrscheinlich in absehbare Zukunft fortsetzen wird. [11]

      In Moseley (1997) habe ich angeführt, daß nach der Marx`schen Theorie der Hauptgrund für diese schwache Erholung der Profitrate bei sinkenden Reallöhnen ein anhaltendes Wachstum der unproduktiven Arbeit im Verhältnis zur produktiven Arbeit gewesen ist. Eine genaue Analyse der Gründe für die schwache Erholung der Profitrate wird in Moseley (1997) vorgestellt und ist jenseits der Möglichkeiten dieses Papiers. Hier soll es genügen zu sagen, daß aus dieser unvollständigen Erholung der Profitrate der Schluß gezogen werden kann, daß die lange Periode der Stagflation der US-Wirtschaft nicht vorbei ist und daß der Druck auf die Reallöhne wahrscheinlich anhalten wird, weil die Unternehmen weiterhin versuchen, die Profitabiltät bis auf das Nachkriegsniveau zu restaurieren.

      3. Steigende Abhängigkeit von ausländischem Kapital
      Warum hat sich aber das Wachstum der US-Wirtschaft während der letzten zwei Jahre beschleunigt, obwohl die Wirtschaft schon seit vier Jahren boomt, so daß man normalerweise eine Abschwächung des Wachstums erwarten würde, vor allem da die Erholung der Profitraten so schwach und unvollständig war? Ich habe keine vollständige Antwort auf diese Frage, aber ich will auf einen wichtigen Faktor hinweisen, der anscheinend generell übersehen wird: es gab seit 1993 einen deutlichen Anstieg des Nettozuflusses von ausländischem Kapital in die US-Wirtschaft. Seit den frühen 80er Jahren (als die USA das erste mal seit dem Vorabend des ersten Weltkrieges zu einer »Schuldnernation« - d.h. einem Nettoimporteur von Kapital - wurden) ist die Abhängigkeit der US-Wirtschaft von ausländischem Kapital immer weiter gewachsen. Der jährliche Nettokapitalzufluß (also der Zufluß von ausländischem Kapital minus dem Abfluß amerikanischen Kapitals) betrug von 1983 bis 1993 im Durchschnitt 88 Mrd. Dollar - eine Gesamtsumme von fast einer Billion Dollar. Diese wachsende Abhängigkeit der reichsten Nation der Welt von ausländischem Kapital ist historisch beispiellos. Sie steht in scharfem Kontrast zur US-Wirtschaft während des langanhaltenden Nachkriegsbooms und besonders zur Wirtschaft Großbritanniens im 19. Jahrhundert, als das Vereinigte Königreich die reichste Wirtschaft der Welt war.

      Aber was auffällt, ist das wirklich starke Wachstum des Kapitalzuflusses seit 1993. Der Nettokapitalzufluß stieg von 59 Mrd. Dollar von 1990-93 auf rund 140 Mrd. Dollar 1994 und 1995 und wuchs dann noch einmal auf 195 Mrd. Dollar 1996 und noch einmal auf 216 Mrd. 1997. Die Zahlen für 1996 und 1997 stellen ungefähr 20 Prozent der privaten Bruttoinlandsinvestionen der US-Wirtschaft während dieser Jahre dar. Das ist selbst nach US-Maßstäben eine gewaltige Menge an Kapital. Es scheint höchst wahrscheinlich, daß dieses starke Steigen des Kapitalzuflusses deutlich zum beschleunigten Wachstum der US-Ökonomie während der letzten zwei Jahre beigetragen hat. Im Folgenden werden verschiedene Wege vorgestellt, auf denen der Zufluß ausländischen Kapitals zum beschleunigten Wachstum der US-Wirtschaft beigetragen hat.

      Ein wichtiger Grund für das aktuelle starke Anwachsen des Kapitalzuflusses in die US-Wirtschaft ist ein gestiegenes wahrnehmbares Risiko bei Investitionen in die »emerging markets«, vor allem in Lateinamerika und aktueller in Asien. Die Wahrnehmung des erhöhten Risikos in diesen Ländern haben die USA als einen »sicheren Hafen« für Kapital attraktiv gemacht. Mehr als die Hälfte dieses Zuflusses an ausländischem Kapital sind in US-Schatzbriefe geflossen (derzeit der sicherste aller Häfen für Kapital). Eine anderer großer Teil dieses Wachstums ausländischen Kapitals ging in den US-Wertpapiermarkt (zum Verhältnis dieses Zuflusses und dem jüngsten Wertpapierboom weiter unten).



      Tabelle 1: Nettokapitalzufluß in die USA, 1983-1997

      Jahr US-Kapitalexport US-Kapitalimport Netto-Kapitalimport

      1983 61,573 83,380 21,807
      1984 36,313 113,932 77,619
      1985 39,889 141,183 101,294
      1986 106,753 226,111 119,358
      1987 72,617 242,983 170,366
      1988 100,087 240,265 140,178
      1989 168,744 218,490 49,746
      1990 74,011 122,912 48,181
      1991 57,881 94,241 36,360
      1992 68,622 154,285 85,663
      1993 194,609 250,996 56,387
      1994 150,695 285,376 134,681
      1995 307,207 451,234 144,027
      1996 352,444 547,555 195,111
      1997 426,938 690,497 263,559

      Wahrscheinlich hat der große Zufluß ausländischen Kapitals auf verschiedenen Wegen zum schnelleren Wachstum der US-Ökonomie beigetragen. In erster Linie hat der Kapitalzufluß das Angebot an Kapital in den USA erhöht, was zu niedrigeren als den sonst zu erwartenden Zinsraten geführt hat. [12] Die niedrigeren Zinsraten regten wiederum die Investitionen an, was durch den üblichen »Multiplikationseffekt« ein höheres Bruttosozialprodukt und beschleunigtes Wachstum nach sich zog. Außerdem kam es durch das schnellere Wachstum des BSP zu höheren Steuereinnahmen und damit zu einem geringeren Haushaltdefizit als erwartet. Die sehr schnelle Reduzierung des Bundeshaushaltdefizits war eine weitere angenehme Überraschung der letzten Jahre. Das geringere Haushaltsdefizit machte eine weitere Verringerung der Zinsraten möglich - ein richtiger Kreislauf, der teilweise durch das vermehrt einströmende ausländische Kapital verursacht wurde.

      Ein weiterer wichtiger Weg, wie der Kapitalzufluß wahrscheinlich zu beschleunigtem Wachstum der US-Ökonomie geführt hat, ist der Wertpapierhandel. Die kräftige Erholung des Aktienmarktes, die in den letzten Jahren stattfand, erklärt sich zum Teil aus den niedrigeren Zinsraten, wie sie oben diskutiert wurden (und die Aktien im Verhältnis zu festverzinslichen Wertpapieren attraktiver macht (Schuldverschreibungen, Anleihen etc.)). Zusätzlich ging, wie bereits gesagt, ein großer Teil des Kapitalzuflusses in den Aktienmarkt, was die Nachfrage nach Aktien weiter erhöhte. Der Nettokauf amerikanischer Aktien durch ausländische Käufer stieg rapide von 12,6 Mrd. 1996 auf 66,9 Mrd. 1997 an. Das war mehr als das dreifache des bisherigen Höchstwertes von 19,0 Mrd. 1993.

      Infolge dieser und anderer Faktoren, sind die Aktienkurse in den letzten zwei Jahren ungefähr um 50 Prozent gestiegen (um 150 Prozent seit 1993). Dieser sehr schnelle Kursanstieg hat den Wohlstand der kleinen Minderheit der US-Bevölkerung, die nahezu alle US-amerikanischen Aktien besitzt, stark gesteigert (1983 gehörte den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 89 Prozent der Aktien in privatem Besitz; das reichste Prozent besaß 62 Prozent der Aktien; und die reichsten 0,5 Prozent besaßen 47 Prozent; Quelle: Joint Economic Comittee of the US Congress; 1986.) Nach herkömmlicher Volkswirtschaftslehre hat dieser Wohlstand einen positiven Effekt auf die Konsumausgaben (der »Wohlstandseffekt«) - auf die Konsumausgaben der Reichen, das heißt derer, die an dem glücklichen Reichtum teilhatten. Die gesteigerten Konsumausgaben haben einen Multiplikationseffekt auf das BSP und die Wachstumsrate, analog den gesteigerten Investitionen, wie sie weiter oben besprochen wurden. Dieses beschleunigte Wachstum hat wiederum die Steuereinnahmen erhöht, das Haushaltsdefizit verringert und so weiter, im selben Kreis, der schon angesprochen wurde. Außerdem waren die größer als erwartet ausgefallenen Kapitalerträge, die direkt aus den steigenden Börsenkursen resultieren, eine weitere wichtige Quelle unerwarteter Steuereinnahmen der letzten Jahre, und trugen dadurch weiter dazu bei, Haushaltsdefizite zu verringern und Zinsen zu senken.

      Ein weiterer wichtiger, aber selten erwähnter positiver Effekt der niedrigen Zinsraten ist, daß sich die Schuldtilgungen von US-Unternehmen außerhalb des Finanzsektors in den 90er Jahren stark reduziert haben. In den späten 80ern litten viele US-Unternehmen unter hohen Schuldenlasten. Viele Ökonomen und die Wirtschaftspresse waren sehr besorgt, weil die gestiegene Schuldenlast die Wirtschaft anfälliger für die Ausbreitung von Bankrotten und Liquidationen und damit für einen ernsthaften wirtschaftliche Niedergang machte (Friedman, 1988, Bernanke und Campbell, 1988). Der Umfang dieser Unternehmensschulden ist in den 90ern nicht reduziert worden, aber die zu tätigenden Zinszahlungen sanken wegen des allgemeinen Zinsratenverfalls stark ab. [13] Dadurch wurde die Gefahr von Bankrotten und ernsthafter Rezession reduziert. Somit hat der ziemlich große Zufluß ausländischen Kapitals in den 90er Jahren der US-Wirtschaft (zumindest bis jetzt) geholfen, eine ernsthaftere Finanzkrise zu vermeiden, indem er zu den niedrigen Zinsraten beitrug.

      Natürlich sind diese positiven Effekte des Kapitalzuflusses für die US-Wirtschaft auf der anderen Seite von all den gegensätzlichen negativen Auswirkungen in den Ländern, die in den letzten Jahren eine Kapitalabwanderung erleiden mußten, begleitet. An erster Stelle hat die Kapitalabwanderung aus Asien teilweise zu einer strengen und sich verschlimmernden Depression geführt. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Krise in Asien tiefe und innere Ursachen hat (deren genauere Diskussion jenseits der Möglichkeiten dieses Textes liegt). Aber die unmittelbare oder »auslösende« Ursache für den Zusammenbruch der asiatischen Wirtschaft in den letzten zwei Jahren war der massive Abfluß von Kapital aus dieser Region. Dieselben internationalen Kapitalflüsse, die in den USA zu einem »Boom« beigetragen haben, haben eine Depression in Asien ausgelöst.

      4. Wohin geht es?
      Wie lange können diese stark abweichenden Entwicklungen der Weltwirtschaft noch weitergehen? Wie lange noch können die Kapitalflüsse aus den »emerging markets« in die USA auf dem sehr hohen Niveau der letzten Jahre bleiben und dadurch sowohl zum Boom in den USA als auch zur Vertiefung der Krise in den Ländern der »emerging markets« beitragen? Vielleicht können diese Kapitalflüsse noch ein paar Jahre auf diesem hohen Level bleiben. Wenn sich die Krise in Asien weiter verschlechtert, wird wahrscheinlich noch mehr Kapital in den »sichern Hafen« USA fliehen, was die Krise in Asien noch weiter verschlimmern würde (obwohl nicht mehr viel ausländisches Kapital in Asien ist, das fliehen könnte). Dennoch kann die wachsende Polarisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht ewig weitergehen. In nicht allzu langer Zeit würde die sich verschlechternde asiatische Krise die US-Wirtschaft (und den Rest der Weltwirtschaft) mit sich reißen. Auf welche Weise, soll nun besprochen werden.

      Wenn andererseits diese Kapitalzuflüsse auf ihr vorheriges Niveau, sagen wir 100 Mrd. pro Jahr, zurückgehen würden, würde die Wachstumsrate der US-Wirtschaft wahrscheinlich auf die zwei bis zweieinhalb Prozent zurückfallen, die in den frühen 90er Jahren vorherrschend waren.

      Darüber hinaus zeigt die asiatische Krise auch schon negative Auswirkungen auf die US-Wirtschaft - bisher hauptsächlich durch die Abnahme der Exporte in asiatische Länder. Die meisten Ökonomen sagen vorher, daß dieser negative Effekt auf die US-Wirtschaft sich nur wenig auswirken wird, weil die Exporte in ihrer Gesamtheit lediglich 12 Prozent des BSP ausmachen und die Exporte in asiatische Länder (einschließlich Japan) davon nur 30 Prozent ausmachen. Bisher hat die Abnahme der US-Exporte nach Asien ca. 20 Prozent betragen. Wenn das der gesamte Rückgang ist, wie viele Ökonomen zu glauben scheinen, wäre der negative Effekt für die US-Wirtschaft geringer als ein Prozent. Aber wenn der Rückgang weiter anhält, wären die Auswirkungen auf das US-Wachstum größer. Wenn z.B. die US-Exporte nach Asien um 30 Prozent fallen würden, und die restlichen weltweiten Exporte als indirekte Folge der Asienkrise gleichfalls sinken, dann könnte das das Wachstum mit zwei bis drei Prozent des BSP belasten, was die US-Wirtschaft ziemlich sicher in eine Rezession treiben würde.

      Außerdem scheinen die wachsenden Ängste wegen der Asien-Krise in den letzten Wochen den Aktien-Boom in den USA gebremst zu haben. Es gibt die reale Möglichkeit eines deutlichen Rückganges am Akteinmarkt in der nahen Zukunft (das scheint an jedem Tag, an dem ich diesen Text schreibe, wahrscheinlicher zu werden; August 1998). Wenn ein ernster Rückgang am Aktienmarkt auftreten sollte, würde der Konsum drastisch zurückgehen (vor allem der Konsum sehr teurer Produkte, wie Häuser, Autos, Computer, Fernseher, Stereoanlagen, Restaurants und Urlaubsreisen), was die US-Wirtschaft noch tiefer in die Rezession treiben würde.

      Wenn die asiatische Krise sich wirklich weiter verschlimmert, wächst außerdem die Gefahr, daß ein oder mehrere asiatische Länder ihre Schuldzahlungen an US-Banken und andere US-amerikanische Geber aussetzen (oder genauer: daß asiatische Banken und private Unternehmen ihre Schulden nicht zurückzahlen werden). Die meisten dieser Schulden, die ursprünglich kurzfristige Kredite waren, wurden neu festgesetzt und ihre Laufzeit auf zwei bis drei Jahre verlängert. Ob die asiatischen Schuldner die Kredite werden zurückzahlen können, wenn sie Anfang des nächsten Jahrtausends fällig sind, hängt davon ab, wie sich die asiatische Krise in Zukunft entwickelt. Wenn das Schlimmste vorbei ist, und diese Wirtschaften sich in den nächsten zwei Jahren zu erholen beginnen, sollten die meisten Schuldner in der Lage sein, ihre Schulden zu zahlen. Doch wenn sich die Krise weiter verschlimmert, werden viele Schuldner gezwungen sein, die Zahlungen für die nächsten paar Jahre auszusetzen.

      Die aktuellere Frage ist aber, ob diese asiatischen Schuldner in den nächsten ein oder zwei Jahren in der Lage sein werden, ihre Schulden zu zahlen. Die Zinsrate der verlängerten Schulden ist zwei bis drei Prozent höher als vorher, so daß es schwieriger wird, diese Schulden zu tilgen. Noch wichtiger ist, daß die fünfzigprozentige (oder höhere) Abwertung der asiatischen Währungen, die Forderungen, die in Dollar gestellt werden, in den Heimatwährungen gerechnet die Schulden mindestens verdoppelt haben. Eine vollständige Tilgung dieser Zinszahlungen scheint nicht sehr wahrscheinlich. [14] Zahlungsverzüge würden natürlich Verluste für US-Banken bedeuten. Wenn diese Verluste bedeutend genug wären, würde dies zu einer »Kredit-Krise« und zu höheren Zinsraten in den USA führen (weil die Banken ihre Kredite einschränken würden, um die Verluste, die sie in Asien machen, zu kompensieren), was die US-Wirtschaft weiter in die Rezession treiben würde. Die »Freikauf-Kredite« des IWF an asiatische Staaten sind genau darauf abgestimmt, daß asiatische Schuldner ihre amerikanischen und anderen ausländischen Gläubiger bezahlen können. Aber es ist nicht sicher, daß das auch funktionieren wird. Alles hängt davon ab, wie schlimm die asiatische Krise wird.

      In den vergangenen Monaten ist eine andere »Kredit-Krise« in den USA aufgetaucht - eher durch den Handel mit Schuldverschreibungen als durch die Banken hervorgerufen. Kreditgeber sind durch die Zahlungsunfähigkeit Russlands im August und durch den Beinahe-Bankrott von langfristig angelegtem Kapital (ein großer Hedge Fond, der mehr als 100 Mrd. US$ von großen Banken in den USA und weltweit geliehen hatte) heimgesucht worden. Das hat zu einer »Flucht in die Sicherheit« geführt und dazu, daß Kreditgeber dem Kauf von Schuldverschreibungen, abgesehen von US-Schatzbriefen, immer ablehnender gegenüberstehen.

      Eine weitere Gefahr besteht darin, daß japanische Banken aufgrund ihrer eigenen Wirtschaftskrise gezwungen sein könnten, die Kapitalausfuhr in die USA einzustellen und sogar beginnen könnten, Kapital aus den USA abzuziehen, um ihre lokalen Liquiditätsprobleme zu lösen. Dieser Abzug japanischen Kapitals aus den USA (oder auch nur der Stop weiterer Kredite) hätte ähnliche Auswirkungen auf die amerikanische Wirtschaft wie ein Zahlungsstop der asiatischen Schuldner - Kreditkrise, höhere Zinsraten, usw. - und das wäre ein weiterer Faktor, der die US-Wirtschaft in eine Rezession (oder schlimmeres) treiben würde. [15]

      Falls es in den nächsten ein oder zwei Jahren zu einer Rezession der US-Wirtschaft kommen sollte, hätte das verheerende Folgen für die übrige Wirtschaft weltweit, und ganz besonders für die asiatischen Länder. Die wichtigste Hoffnung der asiatischen Länder bei der Bewältigung ihrer Krise ist, ihre Exporte in den »boomenden« US-Markt zu verstärken (vorher bestand eine Hoffnung darin, die Exporte nach Japan zu verstärken, aber diese Hoffnung hat sich verflüchtigt, als Japan selbst in eine Rezession fiel). Falls die US-Wirtschaft in eine Rezession geht, würde die Nachfrage nach asiatischen Exporten in den USA zurückgehen statt zu wachsen. Ohne diese wichtigste Chance zur Erholung würden die asiatischen Wirtschaften wahrscheinlich für die nächsten Jahre in einer ernsthaften Depression steckenbleiben. Und wenn sich die asiatische Krise fortsetzt, werden diese Länder ziemlich sicher nicht in der Lage sein, ihre Schulden zu begleichen und ihre Kredite an US-Banken zurückzuzahlen.

      Wenn andererseits eine ernsthafte Krise der US-Wirtschaft verhindert wird, würde die asiatische Krise US-Firmen die Möglichkeit bieten, die Konkursmasse der bankrotten asiatischen Firmen zu Niedrigstpreisen zu kaufen. Die Wirtschaftszeitungen sind voll mit Stories von US-Managern, die ganz Asien abfliegen, und nach den besten Angeboten und den niedrigsten Preisen suchen. Nach Kim und Cho (1998) hat es die südkoreanische Regierung selbst übernommen zu entscheiden, welche der bankrotten koreanischen Firmen abgewickelt wird und welche ausländischen Investoren zum Kauf angeboten wird. In diesem Fall wäre ein Resultat der Krise die steigende Zahl asiatischer Firmen in US-amerikanischem Besitz, d.h. die wachsende Dominanz US-amerikanischen Kapitals über die Weltwirtschaft. (Tabb, 1998, legt besondere Betonung auf dieses mögliche Ergebnis der asiatischen Krise.) Dieser Aufkauf bankrotter Firmen durch überlebende Firmen findet in jeder Depression statt. Aber dieses mal wird dieser Prozeß der Liquidation und Konzentration von Kapital wahrscheinlich zum ersten mal eine deutliche internationale Dimension haben. Der niedrige Kaufpreis der asiatischen Firmen würde auch die weltweite Profitrate der US-Firmen erhöhen und damit vielleicht zu einer zumindest teilweisen Lösung der Profitabilitätsprobleme des US-Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten beitragen.

      Die Wahrscheinlichkeiten dieser verschiedenen Ergebnisse sind schwierig abzuschätzen, aber es scheint ziemlich sicher, daß der jüngste »Boom« der US-Wirtschaft zu einem großen Teil auf einen temporären Zufluß von ausländischem Kapital zurückgeht und fast sicher, daß dieser »Boom« nur kurz sein wird. Der aktuelle »Boom« ist kein Zeichen dafür, daß die lange Periode der Stagflation vorbei ist. Die US-Wirtschaft wird sicherlich sehr bald auf das langsame Wachstum zurückfallen, wie es in den 80er und Anfang der 90er Jahre vorherrschend war. Die kritische Frage ist, ob dieses langsamere Wachstum in die Krise führt oder nicht. Im besten aller Fälle mit langsamen Wachstum aber ohne Rezession, ist es nicht wahrscheinlich, daß die Reallöhne wachsen, wenn überhaupt, dann so wie während der Stagflation seit den 70er Jahren. Der amerikanische Traum wird schwer zu haben bleiben, wenn der US-Kapitalismus weiter versucht, seine Profitrate auf die Nachkriegswerte hochzutreiben. Wenn das langsame Wachstum zu einer Rezession führt, wächst die Gefahr, daß diese Rezession eine weltweite kapitalistische Krise auslöst. Ich glaube, es ist sehr wahrscheinlich, daß im nächsten Jahr (also 1999) eine solche Rezession der US-Wirtschaft auftritt.

      Ich zögere, Vorhersagen für die US- und Weltwirtschaft über längere Zeiträume zu machen, aber wenn man der Geschichte (und Marx` Theorie) folgt, wird die Nachkriegsperiode mit sinkender Profitabilität und wachsender Verschuldung durch eine Zeit der Depression abgelöst, die von bedeutenden und häufigen Zusammenbrüchen gekennzeichnet ist, die die Profitrate für die überlebenden Firmen steigern und einen großen Teil der existierenden Schulden vernichten, und dadurch die Voraussetzungen für eine weitere Periode von Wachstum und Prosperität schaffen. Mit anderen Worten: eine Rückkehr zur Prosperität erfordert eine vorherige Depression. Es ist vielleicht möglich, daß eine solche Depression auch in den nächsten paar Jahren verhindert wird, aber ohne eine solche Krise ist eine Rückkehr zu den erfolgreichen Bedingungen des »goldenen Zeitalters«, wie die frühe Nachkriegsperiode genannt wird, nicht sehr wahrscheinlich.

      Es ist sogar noch schwieriger vorherzusagen, wie die Antwort der US-Arbeiter auf die anhaltende wirtschaftliche Stagnation und die (bestenfalls) stagnierenden Reallöhne oder gar eine weltweite kapitalistische Depression ausfallen wird. Bisher waren die amerikanischen Arbeiter sehr zurückhaltend, haben sinkende Reallöhne und sinkende Jobsicherheit hingenommen. Doch einem guten Teil dieser Passivität liegt die optimistische Aussicht zugrunde, daß die Jahre der »Qual« bald vorüber sein werden und daß die US-Wirtschaft bald zu ihrem Erfolg der frühen Nachkriegsjahre zurückkehren wird, ihre Jobsicherheit und steigenden Reallöhne inbegriffen. Eine anhaltende Stagnation oder Schlimmeres würde diese Aussicht vernichten. Vielleicht wird Hinnahme dann in Widerstand umschlagen.
      Avatar
      schrieb am 23.03.01 17:19:20
      Beitrag Nr. 13 ()
      Angst vor dem Crash


      Die Börse taumelt
      Die New Economy zerbricht
      Die Konjunktur kippt




      VON RAINER HUPE

      Tapfer stemmen sie sich noch gegen den Abwärtssog. Keine Hiobsbotschaft der Weltwirtschaft kann den Bundeskanzler und seinen Finanzminister aus der Ruhe bringen - scheinbar. Rezession in den USA? Niedergang der Börsen? Die New Economy ein Trümmerhaufen? Weniger Wachstum und vielleicht mehr Arbeitslose in Deutschland? Keine Sorge, wir richten das schon.

      So als wäre Deutschland eine Insel der Seligen in einer wild schlingernden Weltwirtschaft, widersprechen Gerhard Schröder und Hans Eichel allen Schwarzmalern. Natürlich ist das politisches Kalkül vor den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, doch es ist auch Ausdruck der Hoffnungen der Regierenden in Berlin. Nur mit einer stabilen Wirtschaft, die ihnen weniger Arbeitslose und weniger Schulden beschert, können sie die Bundestagswahl 2002 sicher gewinnen.

      Was bislang völlig ungefährdet erschien, wird indes immer fraglicher. Denn die schlechten Nachrichten wachsen zur Lawine an:


      Bevor sich Computer-, Telefon- und Internet-Firmen diese Woche auf ihrer weltweit größten Messe, der Cebit in Hannover, präsentierten, mussten sie ihre Geschäftserwartungen drastisch zurückschrauben. Nicht nur Internet-Start-ups agieren am Rande des Abgrunds, auch Weltkonzerne wie Siemens, Nokia oder Ericsson revidierten Gewinn- und Umsatzziele oder entlassen Mitarbeiter.

      Die Börsen haben allem Optimismus der Analysten getrotzt und sind so tief gefallen wie seit Jahren nicht mehr. Binnen zwölf Monaten sind an den US-Börsen 4,9 Billionen Dollar "verbrannt" worden. Ob US-Notenbankpräsident Alan Greenspan sie mit seiner dritten Zinssenkung in diesem Jahr zu neuer Blüte erweckt, ist eher zweifelhaft. Bislang folgte auf Kurserholungen nach Zinssenkungen stets ein tieferer Absturz.

      Vor allem aber ist fraglich, ob es der als Magier des amerikanischen Jahrhundert-Booms gefeierte Greenspan tatsächlich schafft, die US-Wirtschaft in eine weiche Landung und einen neuen Aufschwung im nächsten Jahr zu bugsieren. Das wäre bitter nötig, denn in diesen Tagen wird klarer denn je: Es gibt nur eine Lokomotive für die Weltwirtschaft. Japan ist nach jahrelangem Siechtum schwächer denn je. Und Europas Wirtschaft kann nicht prosperieren, wenn es in Amerika abwärts geht. Im Gegenteil: Da Konzerne wie Daimler-Chrysler und Branchen wie die Chemie die Hälfte oder mehr ihres Umsatzes in den USA machen, ist die Abhängigkeit größer denn je.

      Die meisten professionellen Auguren haben darauf längst reagiert: Banken und Wirtschaftsinstitute reduzierten ihre Wachstumsprognosen für die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr von knapp 3 auf nur noch gut 2 Prozent. Was wie Spitzfindigkeit von Experten anmutet, hat politisch höchste Brisanz. 0,5 Prozent weniger Wachstum bedeutet 5 Milliarden Mark geringere Steuereinnahmen, die Hälfte beim Bund.

      Kein Wunder, dass Hans Eichel daran gar nicht denken mag. Er muss in diesem Jahr ohnehin eine Lücke von rund 4 Milliarden Mark schließen. Alles kein Problem, heißt es noch aus Berlin, deshalb müssten weder mehr Schulden gemacht noch gar ein Haushaltssicherungsgesetz erlassen werden, mit dem Eichel Ausgaben der Kabinettskollegen sperren könnte. Solche Vokabeln, die eher Not als finanzielle Souveränität signalisieren, stehen einstweilen auf dem Index.

      Doch gilt das auch noch nach den Landtagswahlen, wenn Eichel womöglich noch größere Lasten verkraften muss als nur die konjunkturbedingten Ausfälle? Die Kosten für BSE und Maul- und Klauenseuche sind längst nicht verlässlich berechnet. Und mit jedem Tag, an dem die Konjunktur schwächelt und die Wiederwahl unsicherer wird, werden auch in der Koalition neue Begehrlichkeiten sprießen.

      Geringeres Wachstum aber gefährdet vor allem das überragende politische Ziel des Kanzlers: den Abbau der Arbeitslosigkeit. Die magische Ziffer soll wenigstens unter 3,5 Millionen liegen - daran möchte er bei der Wahl gemessen werden. Noch ist Schröder ein gutes Stück von seinem Ziel entfernt. Kommt die Wirtschaft aus dem Tritt, verwandelt sich die Erfolgsgeschichte des Kanzlers und seines Sparministers schnell in eine Zitterpartie.

      Was aber passiert erst, wenn die US-Wirtschaft nicht schon im Herbst wieder zu alter Stärke zurückfindet? Wenn sie, trotz Greenspans Zinsmedizin und der massiven Steuersenkungen des neuen Präsidenten, bis ins nächste Jahr hinein kränkelt? Wenn dann auch die Wachstumsraten in Deutschland weiter einbrechen, die Steuerausfälle steigen und damit der Nimbus des eisernen Hans Eichel endgültig zerstört wird? Gewissheit gibt es erst im nächsten Jahr. Dann aber kann es zu spät sein.

      Denn Gerhard Schröders eigene Handlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Natürlich kann die Europäische Zentralbank die Zinsen senken und der Kanzler die bis 2005 geplanten Steuersenkungen vorziehen. Doch bis das wirkt, vergeht viel Zeit, die der Wahlkämpfer dann nicht mehr hat. Schlimmstenfalls steht Schröder das Schicksal der Börsen-Analysten bevor: Unbeeindruckt empfahlen sie Aktien, während die Kurse immer tiefer sackten. Bis ihre Glaubwürdigkeit dahin war. Neben dem ökonomischen droht dem Kanzler dann auch noch der politische Crash.






      © DIE WOCHE Zeitungsverlag 2001
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      schrieb am 29.03.01 16:56:04
      Beitrag Nr. 14 ()
      W I R T S C H A F T S W A N D E L



      Weltwirtschafts-Beben

      Erstmals seit 1974 könnten Japan und USA zugleich in die Rezession rutschen. Was Deutschland und die EU tun müssen

      Von Josef Joffe



      Die Landtagswahlen an Rhein und Neckar sind vorbei, der Status quo wurde hier wie dort aufs schönste bestätigt. Genau das aber ist das Problem. Welches? "It`s the economy, stupid!", "auf die Wirtschaft kommt es an, Blödmann!" Dies war das Mantra der ersten Clinton-Kampagne; es hing an allen Pinnwänden. Nach dem Sieg von 1992 machten die Clintonisten weiter, wo die Reaganauten begonnen hatten: Sie deregulierten, flexibilisierten und entfesselten so den längsten Boom der amerikanischen Geschichte. Der Triumph von 1996 war süßer noch als der von 1992.

      Und Gerhard Schröder, der im nächsten Jahr bundesweit antreten muss? Dessen Reform-Elan ist erlahmt; auf dem Stockholmer Beschäftigungsgipfel der EU wähnte er, dass Europa die "Wachstumslokomotive" der Weltwirtschaft sei. Ähnlich der EU-Währungskommissar Pedro Solbes: "Wirtschaftlich ist Europa derzeit die feste Burg der Industriewelt." Dahinter schwingt eine doppelte Überzeugung mit, die doppelt falsch sein kann. Die eine: Die EU sei im Konjunkturzyklus auf dem Weg nach oben. Die zweite: Abkoppeln könne sich diese "Lokomotive" von den beiden anderen Kolossen, Japan und USA, die nun Dampf ablassen.

      Bloß: Die Lokomotive keucht schon wieder; das Wachstumstempo im vorigen Jahr lag bei 2,5 Prozent, in diesem, so der Konsens der Auguren, werde es auf knapp über zwei sinken. Eine "feste Burg"? Es ist schon richtig, dass die EUler hauptsächlich untereinander handeln und nur zwölf Prozent ihrer Produktion an den Rest der Welt verkaufen. Aber schauen wir genauer hin. Allein USA und Japan nehmen der EU Exporte im Wert von über 400 Milliarden Mark ab. Brechen diese Märkte weg, wird auch in Lokomotivland so manches Auge nicht trocken bleiben. Die Tränen werden noch heftiger fließen, wenn man den zweiten Teil des Horrorszenarios betrachtet. Wenn die beiden Giganten 2001 tatsächlich in die Knie gehen, wäre es das erste Mal seit einem Vierteljahrhundert, dass USA und Japan zusammen in die Rezession torkeln. Beide auf einmal? Das wäre ein Freudenfest für Japan- und Amerika-bashers, aber nicht für die Weltwirtschaft.

      Der dritte Teil: Die Lehrbuchweisheit, wonach Europas niedrige Exportquote einen hohen "Seuchenschutz" biete, führt bei fast perfekt globalisierten Finanzmärkten in die Irre. Denn die Ansteckungsgefahr lauert heute eher auf den Geld- als auf den Gütermärkten. Ein simples Beispiel: Der Dow Jones fiel, doch der Xetra-Dax fiel noch schneller - ganz rasant im Zwölf-Monats-Zeitraum, etwas gemächlicher im Februar und März, aber trotzdem dezidierter als Wall Street. So oder so: Der Dow steuert den Dax, ganz gleich, wie beherzt wir die Unabhängigkeit vom amerikanischen Markt für reale Werte wie BMWs und Zeiss-Gläser beschwören.

      Wenn die US-Dotcoms sich auflösen, leidet auch die Welt

      Kein Wunder, dass der Geschäftsklima-Index des Münchner Ifo-Instituts im Februar um fast drei Punkte gefallen ist - deutlicher als erwartet. Alles bloß Psycho-Hokuspokus oder Kapitalistengeschwätz? Nicht ganz. Wenn das Vertrauen der Wirtschaft fällt, investiert sie weniger, gibt es weniger Arbeit und weniger Konsum. Konsequent fällt denn auch seit Jahresbeginn die Industrieproduktion in Euroland.

      Schließlich die Implosion der New Economy, deren Epizentrum Silicon Valley ist. Können sich Deutschland, die EU - die Altarwächter einer schnurrenden Old Economy - gelassen zurücklehnen? Natürlich nicht. Wenn die US-Dotcoms sich in Milliardenschulden auflösen, leiden auch Cisco, Intel und Co., die daheim den Start-ups die Hard- und Software verkauften und andererseits großzügig in den asiatischen Tiger- und Drachenstaaten produzieren ließen. Und die haben mit ihren Dollar in Europa eingekauft. Folglich siecht schon die südkoreanische Wirtschaft; andere können folgen und es Europas Produzenten rasch spüren lassen. Ein Hauch von Weltwirtschaftskrise hängt in der Luft.

      Was also muss Europa tun, um eine globale Rezession abzuwettern? Vorweg: was die EU nicht tun sollte - etwa einen "Beschäftigungsgipfel" wie den von Stockholm abhalten, der gegen Beschäftigung und Wachstum votiert hat. Gewiss, Schröder musste etwas für die französischen Freunde tun, die seit Monaten systematisch streuen, wie die "Ehe" von einer Krise in die andere torkelt. Also hat er ihnen eine Pause auf dem Weg zum EU-Binnenmarkt gegönnt, indem er nachgab: kein festes Datum für die preissenkende und wachstumsbeflügelnde Liberalisierung der Energiemärkte. (Die kalifornische Dunkelheit ist leider kein Gegenargument, weil dort nicht wirklich liberalisiert wurde: Dekretiert blieben niedrige Verbraucherpreise, die Bevölkerung explodierte, und die Politik konterkarierte seit zehn Jahren den Bau von Großkraftwerken.)

      Was die EU, was Berlin tun sollte? Die Antwort ist uralt, aber sie wird durch Wiederholung nicht schlechter, zumal wenn sie regelmäßig mit neuen Daten versehen wird - wie jüngst von der Investmentbank Lehman Brothers (Structural Economics Research Papers No. 3). Wo es um wachstumstreibende Strukturpolitik geht, um die Entkrustung der Arbeitsmärkte und die Schleifung von Wettbewerbsmauern, kriegt Deutschland abermals schlechte Zensuren. In einer Liste von 21 Industrieländern landet es auf Platz 15, weit hinter dem "Volksheim" Schweden, sogar hinter Frankreich, das unter dem 14. Ludwig den Etatismus und Merkantilismus erfand. Zitat: "Die Franzosen sind die Besten unter den Großen Drei in Euroland."

      Der Economist notiert: "Frankreich hat auf dem Weg zur Arbeitsmarkt-Deregulierung noch einen weiten Weg vor sich, aber immerhin stimmt die Richtung." Die Regierung Schröder habe zwar eine Zeit lang kühn agiert, etwa mit der Steuersenkung, aber inzwischen habe sie dem Arbeitsmarkt ein noch engeres Korsett verpasst, "um die Gewerkschaften zu besänftigen". Fazit: Im letzten Quartal 2000 schlich die deutsche Wirtschaft mit nur 0,8 Prozent Wachstum voran, derweil die französische mit fast vier Prozent davonpreschte.

      Die Überraschung kommt nicht von ungefähr, wenn man die Strukturpolitik der beiden Länder vergleicht. Merkwürdig: Eigentlich müsste Schröder der Reformismus leichter fallen als dem Kollegen Jospin. Der muss sich mit einem Präsidenten aus dem anderen Lager herumschlagen; der Kanzler aber kann mit zwei Koalitionären wuchern: den Grünen, die er schon hat, den Liberalen, die er jederzeit einwechseln könnte.

      Er kann sich also bewegen. Muss er es auch? Zurück zum Motto der Clintonisten: "It`s the economy, stupid!" Wenn die Weltwirtschaft tatsächlich absäuft und die deutsche in den Sog gerät, wird Schröder der Wahlsieg 2002 nicht mehr ganz so leicht fallen, wie es derzeit aussieht - angesichts einer CDU/CSU, die er jüngst als nicht einmal "oppositions-", geschweige denn "regierungsfähig" verspottet hat.
      Avatar
      schrieb am 29.03.01 17:00:39
      Beitrag Nr. 15 ()
      W I R T S C H A F T S W A N D E L



      Weltwirtschafts-Beben

      Erstmals seit 1974 könnten Japan und USA zugleich in die Rezession rutschen. Was Deutschland und die EU tun müssen

      Von Josef Joffe



      Die Landtagswahlen an Rhein und Neckar sind vorbei, der Status quo wurde hier wie dort aufs schönste bestätigt. Genau das aber ist das Problem. Welches? "It`s the economy, stupid!", "auf die Wirtschaft kommt es an, Blödmann!" Dies war das Mantra der ersten Clinton-Kampagne; es hing an allen Pinnwänden. Nach dem Sieg von 1992 machten die Clintonisten weiter, wo die Reaganauten begonnen hatten: Sie deregulierten, flexibilisierten und entfesselten so den längsten Boom der amerikanischen Geschichte. Der Triumph von 1996 war süßer noch als der von 1992.

      Und Gerhard Schröder, der im nächsten Jahr bundesweit antreten muss? Dessen Reform-Elan ist erlahmt; auf dem Stockholmer Beschäftigungsgipfel der EU wähnte er, dass Europa die "Wachstumslokomotive" der Weltwirtschaft sei. Ähnlich der EU-Währungskommissar Pedro Solbes: "Wirtschaftlich ist Europa derzeit die feste Burg der Industriewelt." Dahinter schwingt eine doppelte Überzeugung mit, die doppelt falsch sein kann. Die eine: Die EU sei im Konjunkturzyklus auf dem Weg nach oben. Die zweite: Abkoppeln könne sich diese "Lokomotive" von den beiden anderen Kolossen, Japan und USA, die nun Dampf ablassen.

      Bloß: Die Lokomotive keucht schon wieder; das Wachstumstempo im vorigen Jahr lag bei 2,5 Prozent, in diesem, so der Konsens der Auguren, werde es auf knapp über zwei sinken. Eine "feste Burg"? Es ist schon richtig, dass die EUler hauptsächlich untereinander handeln und nur zwölf Prozent ihrer Produktion an den Rest der Welt verkaufen. Aber schauen wir genauer hin. Allein USA und Japan nehmen der EU Exporte im Wert von über 400 Milliarden Mark ab. Brechen diese Märkte weg, wird auch in Lokomotivland so manches Auge nicht trocken bleiben. Die Tränen werden noch heftiger fließen, wenn man den zweiten Teil des Horrorszenarios betrachtet. Wenn die beiden Giganten 2001 tatsächlich in die Knie gehen, wäre es das erste Mal seit einem Vierteljahrhundert, dass USA und Japan zusammen in die Rezession torkeln. Beide auf einmal? Das wäre ein Freudenfest für Japan- und Amerika-bashers, aber nicht für die Weltwirtschaft.

      Der dritte Teil: Die Lehrbuchweisheit, wonach Europas niedrige Exportquote einen hohen "Seuchenschutz" biete, führt bei fast perfekt globalisierten Finanzmärkten in die Irre. Denn die Ansteckungsgefahr lauert heute eher auf den Geld- als auf den Gütermärkten. Ein simples Beispiel: Der Dow Jones fiel, doch der Xetra-Dax fiel noch schneller - ganz rasant im Zwölf-Monats-Zeitraum, etwas gemächlicher im Februar und März, aber trotzdem dezidierter als Wall Street. So oder so: Der Dow steuert den Dax, ganz gleich, wie beherzt wir die Unabhängigkeit vom amerikanischen Markt für reale Werte wie BMWs und Zeiss-Gläser beschwören.

      Wenn die US-Dotcoms sich auflösen, leidet auch die Welt

      Kein Wunder, dass der Geschäftsklima-Index des Münchner Ifo-Instituts im Februar um fast drei Punkte gefallen ist - deutlicher als erwartet. Alles bloß Psycho-Hokuspokus oder Kapitalistengeschwätz? Nicht ganz. Wenn das Vertrauen der Wirtschaft fällt, investiert sie weniger, gibt es weniger Arbeit und weniger Konsum. Konsequent fällt denn auch seit Jahresbeginn die Industrieproduktion in Euroland.

      Schließlich die Implosion der New Economy, deren Epizentrum Silicon Valley ist. Können sich Deutschland, die EU - die Altarwächter einer schnurrenden Old Economy - gelassen zurücklehnen? Natürlich nicht. Wenn die US-Dotcoms sich in Milliardenschulden auflösen, leiden auch Cisco, Intel und Co., die daheim den Start-ups die Hard- und Software verkauften und andererseits großzügig in den asiatischen Tiger- und Drachenstaaten produzieren ließen. Und die haben mit ihren Dollar in Europa eingekauft. Folglich siecht schon die südkoreanische Wirtschaft; andere können folgen und es Europas Produzenten rasch spüren lassen. Ein Hauch von Weltwirtschaftskrise hängt in der Luft.

      Was also muss Europa tun, um eine globale Rezession abzuwettern? Vorweg: was die EU nicht tun sollte - etwa einen "Beschäftigungsgipfel" wie den von Stockholm abhalten, der gegen Beschäftigung und Wachstum votiert hat. Gewiss, Schröder musste etwas für die französischen Freunde tun, die seit Monaten systematisch streuen, wie die "Ehe" von einer Krise in die andere torkelt. Also hat er ihnen eine Pause auf dem Weg zum EU-Binnenmarkt gegönnt, indem er nachgab: kein festes Datum für die preissenkende und wachstumsbeflügelnde Liberalisierung der Energiemärkte. (Die kalifornische Dunkelheit ist leider kein Gegenargument, weil dort nicht wirklich liberalisiert wurde: Dekretiert blieben niedrige Verbraucherpreise, die Bevölkerung explodierte, und die Politik konterkarierte seit zehn Jahren den Bau von Großkraftwerken.)

      Was die EU, was Berlin tun sollte? Die Antwort ist uralt, aber sie wird durch Wiederholung nicht schlechter, zumal wenn sie regelmäßig mit neuen Daten versehen wird - wie jüngst von der Investmentbank Lehman Brothers (Structural Economics Research Papers No. 3). Wo es um wachstumstreibende Strukturpolitik geht, um die Entkrustung der Arbeitsmärkte und die Schleifung von Wettbewerbsmauern, kriegt Deutschland abermals schlechte Zensuren. In einer Liste von 21 Industrieländern landet es auf Platz 15, weit hinter dem "Volksheim" Schweden, sogar hinter Frankreich, das unter dem 14. Ludwig den Etatismus und Merkantilismus erfand. Zitat: "Die Franzosen sind die Besten unter den Großen Drei in Euroland."

      Der Economist notiert: "Frankreich hat auf dem Weg zur Arbeitsmarkt-Deregulierung noch einen weiten Weg vor sich, aber immerhin stimmt die Richtung." Die Regierung Schröder habe zwar eine Zeit lang kühn agiert, etwa mit der Steuersenkung, aber inzwischen habe sie dem Arbeitsmarkt ein noch engeres Korsett verpasst, "um die Gewerkschaften zu besänftigen". Fazit: Im letzten Quartal 2000 schlich die deutsche Wirtschaft mit nur 0,8 Prozent Wachstum voran, derweil die französische mit fast vier Prozent davonpreschte.

      Die Überraschung kommt nicht von ungefähr, wenn man die Strukturpolitik der beiden Länder vergleicht. Merkwürdig: Eigentlich müsste Schröder der Reformismus leichter fallen als dem Kollegen Jospin. Der muss sich mit einem Präsidenten aus dem anderen Lager herumschlagen; der Kanzler aber kann mit zwei Koalitionären wuchern: den Grünen, die er schon hat, den Liberalen, die er jederzeit einwechseln könnte.

      Er kann sich also bewegen. Muss er es auch? Zurück zum Motto der Clintonisten: "It`s the economy, stupid!" Wenn die Weltwirtschaft tatsächlich absäuft und die deutsche in den Sog gerät, wird Schröder der Wahlsieg 2002 nicht mehr ganz so leicht fallen, wie es derzeit aussieht - angesichts einer CDU/CSU, die er jüngst als nicht einmal "oppositions-", geschweige denn "regierungsfähig" verspottet hat.
      Avatar
      schrieb am 23.07.01 18:49:26
      Beitrag Nr. 16 ()
      Genua war die Wende - Carlo´s Geist wird niemals wieder in die Flasche zurückkehren.
      Der Paradigmenwechsel von der Spass- auf die Survivial-Gesellschaft ist nicht mehr zu stoppen.

      Nach dem Kommunismus läuft jetzt der Kapitalismus in das offenen Messer der Realität. Keine Kurve steigt unendlich.

      Hoffentlich kommt die jetzt beginnende gewaltige Krise nicht zu spät für die Menschheit!


      stormy (expecting stormy times)
      Avatar
      schrieb am 23.07.01 18:54:15
      Beitrag Nr. 17 ()
      Hans Jonas hat das alles schon vor 20 Jahren voraus gesehen:


      Dem bösen Ende näher



      SPIEGEL* Herr Jonas, vor 13 Jahren haben Sie Ihr Buch "Das Prinzip Verantwortung" veröffentlicht. In diesem Werk rufen Sie die Menschheit dazu auf, sich ihrer Verantwortung gegenüber der von Technik und Industrie bedrohten Natur bewußt zu werden. 13 Jahre später: Hat sich im Umgang des Menschen mit der Natur irgend etwas verbessert?


      HANS JONAS Im tatsächlichen Umgang nichts, doch immerhin etwas im Bewußtsein der Menschen: 1979, als mein Buch erschien, war der Ruf nach Verantwortung des Menschen für die Natur noch nicht so oft gehört und diskutiert wie heute.


      SPIEGEL Und was hat sich am realen Zustand geändert?


      JONAS Der reale Zustand hat sich in summa nur verschlechtern können. Bis jetzt ist nichts geschehen, um den Gang der Dinge zu verändern, und da dieser kumulativ katastrophenträchtig ist, so sind wir heute dem bösen Ende eben um ein Jahrzehnt näher als damals.


      SPIEGEL Zusammengefaßt lautet mithin die Diagnose: Die Einsichtsfähigkeit des Menschen nimmt zu. Die Fähigkeit, nach diesen Einsichten zu handeln, nimmt jedoch ab.


      JONAS Ja, sie nimmt ab. Die Menschen können sich nicht freimachen von den Sachzwängen, in die sie sich mit dem technologischen Anschlag auf die Natur begeben haben. Der Raubbau an der Natur ist übergegangen in die Lebensgewohnheiten der Menschen, besonders die der westlichen Industriegesellschaft.


      SPIEGEL Ozonloch und Klimakatastrophe drohen; Luft, Wasser und Boden sind in weiten Teilen der Erde schwer geschädigt oder schon zerstört. Wie ist es zu erklären, daß solche Signale zu keinen durchgreifenden Verhaltensänderungen führen?




      * Das Gespräch führten Matthias Matussek und Wolfgang Kaden.


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      JONAS Wer nicht selber unmittelbar bedroht ist, ringt sich nicht zu einer wirklichen Revision der Lebensführung durch. Bei einer akuten Bedrohung ist das anders, individuell und kollektiv. Wenn der Vulkanausbruch beginnt, dann flüchtet man. Auf unmittelbare Bedrohung reagiert der Mensch unmittelbar, mal rational, mal irrational. Die Fernperspektiven aber, besonders wenn sie erst künftige Generationen betreffen, bringen die Menschen offenbar nicht zu Verhaltensänderungen.


      SPIEGEL Tschernobyl war ein Schock. Aber er wirkte nur kurzfristig. Man könnte die ketzerische Frage stellen: Braucht die Menschheit mehr Tschernobyls?


      JONAS Die Frage ist nicht unberechtigt. Sie ist zynisch, und die Antwort ist auch zynisch. Vielleicht ist der Mensch ohne ernsthafte Warnschüsse und schon sehr schmerzhafte Reaktionen der gepeinigten Natur nicht zur Vernunft zu bringen. Es könnte sein, daß es schon ziemlich schlimm kommen muß, damit man aus dem Rausch immer wachsender Bedürfnisse und ihrer unbegrenzten Befriedigung, zu der man die Macht hat, wieder zurückkehrt zu einem Niveau, das mit dem Fortbestand der dafür nötigen Umwelt verträglich ist.


      Es muß wieder ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht zustande kommen. Es könnte bei der jetzigen Menschenzahl, die noch im Steigen ist, dafür schon zu spät sein. In dem Fall müßte die bisherige Vermehrung sogar in eine Wiederverminderung der Weltbevölkerung umgekehrt werden.


      SPIEGEL Kürzlich wurde in einer deutschen Fernsehsendung an die Zuschauer die Frage gerichtet: Ist die Erde noch zu retten? 75 Prozent derer, die sich meldeten, verneinten die Frage. Es ist doch erstaunlich, daß trotz solch apokalyptischer Einschätzungen die Menschheit einfach so weitermacht wie bisher.


      JONAS Was heißt hier "retten"? Was "Untergang"? In Gefahr ist nicht "die Erde", sondern ihr gegenwärtiger Artenreichtum, in dem wir eine schreckliche Verarmung anrichten. Erdgeschichtlich, über die Jahrmillionen, wird auch das nur


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      eine Episode sein, aber menschengeschichtlich kann es das tragische Scheitern höherer Kultur überhaupt bedeuten, ihren Absturz in eine neue Primitivvisierung, die wir durch gedankenlose Verschwendungssucht auf der Höhe unserer Macht verschuldet hätten.


      SPIEGEL Was meinen Sie mit Primitivvisierung?


      JONAS Daß es zu Massenelend, Massensterben und Massenmorden kommt, daß es dabei zum Verlust aller der Schätze der Menschlichkeit kommt, die der Geist außer der Ausbeutung der Natur ja auch hervorgebracht hat. Der Geist hat ja eine ganz merkwürdige Doppelrolle gespielt. Einerseits hat er die Gefräßigkeit der Menschen ungeheuerlich erhöht. Ausgerechnet der Geist ist ja das Instrument dafür gewesen, daß wir so ungeheuer anspruchsvoll in den Bedürfnissen unserer Leiber geworden sind.


      Andererseits hat der Geist ein Reich der Werte geschaffen, das um seiner selbst willen gepflegt wird; wofür Menschen das Äußerste einsetzen in der Kunst, in der Erkenntnis, aber auch in der Pflege der Emotionen. Das ist etwas, was das übrige Weltall vielleicht überhaupt nicht kennt. Was wirklich bedroht ist, mehr als die biologische Weiterexistenz des Menschen, ist die Existenz des Menschen, ist die Existenz dieser großen Schöpfung, die Hand in Hand gegangen ist mit der wachsenden Zerstörung der Bedingungen, die das möglich gemacht haben. Darin liegt die Paradoxie der Rolle des Geistes in der Welt: daß um seinetwillen sich dieses ganze Abenteuer Menschheit lohnt; daß er aber gleichzeitig auch die Bedingungen für die Fortsetzung dieses Abenteuers zerstört.


      SPIEGEL Ist denn der Geist auch zu einer anderen Kulturleistung fähig, der des freiwilligen Verzichts?


      JONAS Es gibt dafür Beispiele in der Geschichte. In Verbindung mit einem transzendenten Glauben, der ja auch eine Tat des Geistes ist, ist es geschehen, daß Menschen sich das Äußerste zugemutet haben an Verzichten. Es gab eine richtige Leibesfeindschaft in manchen Heilslehren, sie hat zeitweilig den Zustand ganzer Gesellschaften mitbestimmt. Daß wir


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      solche Meister der Umwelt geworden sind, die sich jede Ausschweifung des Konsums leisten können, ist ja eine ziemlich neue Tatsache.


      Frühere Kulturen waren weitgehend statisch, da änderte sich über Jahrhunderte hinweg kaum etwas. Die Geburt der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert ist ein Wendepunkt, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Damit wurde ein Dynamismus entfesselt, der die ungeheuerlichste Form der Beherrschung und Umwandlung der Natur vorantreibt. Da scheint kein Halten zu sein. Es kommen immer neue Dinge hinzu. Neues wird erfunden, neue Wege eröffnen sich, auf denen die Bedürfnisbefriedigung des Menschen auf immer höhere Ebenen getrieben wird ...


      SPIEGEL ... ohne erkennbare Zeichen, daß der Mensch dieser Entwicklung Einhalt gebieten wollte oder könnte?


      JONAS Der Planet ist überfüllt, wir haben uns zu breit gemacht, sind zu tief eingedrungen in die Ordnung der Dinge. Wir haben zuviel Gleichgewicht gestört, haben zu viele Arten schon jetzt zum Verlöschen verurteilt. Technik und Naturwissenschaften haben uns von Beherrschten zu Herrschern der Natur gemacht. Dieser Zustand ist es, der mich dazu brachte, eine philosophische Bilanz zu ziehen und zu fragen: Darf die moralische Natur des Menschen das zulassen? Sind wir jetzt nicht aufgerufen zu einer ganz neuen Art von Pflicht, zu etwas, das es früher eigentlich nicht gab - Verantwortung zu übernehmen für künftige Generationen und den Zustand der Natur auf der Erde?


      SPIEGEL Die Philosophie begibt sich auf ein neues, unbekanntes Terrain?


      JONAS Sie muß es tun. Jedes bisherige Moralbemühen der Philosophie bezog sich auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Das Verhältnis von Mensch zur Natur ist noch nie Gegenstand sittlicher Überlegung gewesen. Das ist es jetzt geworden, und das ist ein philosophisches Novum. Doch das besagt nicht das Mindeste darüber, ob wir der Sache über-


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      haupt gewachsen sind, ob wir diesem neuen moralischen Imperativ nachkommen wollen oder können. Da treten Fragen der Psychologie auf, der Anthropologie, auch der Realzwänge, von denen ich nicht weiß, ob die heutige Erkenntnis sie überhaupt übersehen kann.


      SPIEGEL Liegt das Dilemma Ihrer Verzichtsethik nicht darin, daß ein Verzicht des einzelnen letztendlich vergeblich ist? Wer der Umwelt zuliebe seinen materiellen Konsum einschränkt, sieht sich am Ende als Verlierer: Die Mehrzahl der Prasser läßt es sich weiter gutgehen, der Planet wird weiter geplündert.


      JONAS Ich weiß nicht, wieviel Nachahmung Vorbilder finden können. Wir dürfen nicht von vornherein ausschließen, daß sich auch Einstellungen ändern und daß aufgrund einer eindringlichen Erziehung sich gewisse Einstellungen der Pflicht und der Scham und der Ehre, des Wohlverhaltens, herausbilden. Daß es sich einfach nicht mehr schickt, so weiterzuleben, wie die Menschen des 20. Jahrhunderts drauflosgelebt haben.


      SPIEGEL Das halten Sie für möglich?


      JONAS Möglich ist das, aber nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist schon, daß die Angst das Ihrige tut. Daß nämlich das Verderben sich nahe genug ankündigt, in sehr alarmierenden und für jeden schon sichtbaren und fühlbaren Erscheinungen. Daß die Furcht erzwingt und erreicht, was die Vernunft nicht erreicht hat. Ich habe eine gewisse paradoxe Hoffnung auf die Erziehung durch Katastrophen. Solche Unglücke werden eventuell rechtzeitig noch eine heilsame Wirkung haben. Wir sollten bei der Überlegung dieser Fragen, bei denen wir über Vermutungen sowieso nicht hinauskommen, eines nie aus dem Auge lassen: daß der Mensch das überraschendste aller Wesen ist und daß man überhaupt nicht vorhersagen kann, wie sich in irgendeiner Zukunft, in irgendeiner Situation, in irgendeiner Generation die Gesellschaft benehmen wird.


      SPIEGEL Sie meinen, der Mensch, der es so weit gebracht


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      hat mit der Naturzerstörung, könnte sich plötzlich wieder ganz anders verhalten?


      JONAS Sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Es könnte beispielsweise eine verrückte neue Religion um sich greifen. Es hat keinen Zweck, darüber Vermutungen anzustellen. Das einzige, was ich sage, ist, daß die Sicherheit der Unglücksvorhersage nicht absolut ist.


      So, wie man ganz bestimmt nicht darauf rechnen darf, daß der Mensch Vernunft annehmen wird, so darf man doch nicht ganz daran verzweifeln, daß der Genius der Menschheit auch in der Richtung erfinderisch wird, in der eine mögliche Rettung der Zukunft liegt. Dies offenzulassen ist wichtig, damit wir nicht davon ablassen, einer solchen Chance, wenn es sie gibt, mit allen Kräften der Warnung und Mahnung zu Hilfe zu kommen.


      SPIEGEL Was können die politischen Eliten in den Demokratien tun, um eine Umkehr einzuleiten? Sind Demokratien womöglich unfähig zu einer Politik, die auf Konsumverzicht und Naturerhaltung ausgerichtet ist? Hilft nur, was manche radikale Umweltfreunde fordern, eine Art aufgeklärte Öko-Diktatur, in der die Philosophen die Könige sind?


      JONAS Man kann in abstracto einen Entwurf machen für eine Diktatur der Menschheitsretter. Aber wie stellt man sich vor, daß eine wirklich selbstlose Elite an die Macht kommen wird, daß diese selbstlos bleiben wird und in ihrer Selbstlosigkeit auch anerkannt wird? Das übersteigt völlig meine Vorstellungen. Dies ist eine Art des Utopismus, der sich nicht umsetzen kann in Wirklichkeit. Was ich mir viel eher vorstellen kann, ist das Hereinbrechen sehr schlimmer Zustände, die zu kompromißbereiten Abmachungen zwischen den ökonomischen, politischen und sozialen Machtgruppen führen; daß man sich auf einen Modus einigt, der sowohl den Menschen einigermaßen akzeptabel ist als auch der Natur. Dazu gehören internationale Vereinbarungen, der globale Verzicht darauf, weiter in ungehemmter Konkurrenz sich die begrenzten Schätze der Erde streitig zu machen.


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      SPIEGEL Demokratien sind Regierungssysteme mit sehr kurzfristigen Perspektiven: Die Politiker müssen sich spätestens alle vier oder fünf Jahre zur Wahl stellen, länger reicht der Horizont nicht. Die Erhaltung der natürlichen Umwelt erfordert ungleich längerfristige Sichtweisen. Dieser Gegensatz vor allem läßt den Verdacht aufkommen, unsere vorhandenen demokratischen Regierungssysteme seien ungeeignet, die ökologischen Aufgaben zu lösen.


      JONAS Den Verdacht habe ich, daß die Demokratie, wie sie jetzt funktioniert - mit ihrer kurzfristigen Orientierung -, auf die Dauer nicht die geeignete Regierungsform ist. Wieso sollte sie es auch sein? Wo steht geschrieben, daß in der Demokratie jetzigen Stils die endgültige Lösung der Frage des guten Staates gefunden worden ist?


      SPIEGEL Ein amerikanischer Professor namens Francis Fukuyama hat einen Bestseller mit dem Titel "Das Ende der Geschichte" geschrieben. Darin erklärt er die westlichen Demokratien zur endgültigen Regierungsform.


      JONAS Wer sich anmaßt zu wissen, daß irgend etwas ein für allemal gilt, der ist von vornherein nicht ernst zu nehmen. Aber ernst zu nehmen ist die Frage, zu welchen Freiheitsverzichten man bereit ist; zu welchen Freiheitsverzichten der Philosoph ethisch verantwortungsvoll raten kann. Da ist doch zunächst nicht zu übersehen, daß Freiheit sowieso nur existieren kann, indem sie sich selber beschränkt. Eine unbegrenzte Freiheit des Individuums zerstört sich dadurch, daß sie mit den Freiheiten der vielen Individuen nicht vereinbar ist...


      SPIEGEL . . . Sie halten Freiheitsverzichte der Individuen für unvermeidlich?


      JONAS Für selbstverständlich. Vor allen Dingen bin ich nicht der Ansicht, daß man das ohne weiteres als Unglück ansehen muß. Im alten Rom gab es zum Beispiel Gesetze, die den privaten Aufwand einschränkten. Gewählte Zensoren hatten das Recht zu prüfen, ob übermäßiger Luxus getrieben wird. Da der im Widerspruch zur Staatsmoral stand, konnten


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      sie ein solches Verhalten unter Strafe stellen. Das war eine große Einmischung in die persönliche Freiheit, aber gerade im Namen einer sich selbst regierenden Bürgerschaft.


      SPIEGEL Moderne Demokratien verheißen dem einzelnen die Möglichkeit individueller Glückserfüllung; "pursuit of happiness" heißt es in der amerikanischen Verfassung. Sind Sie der Ansicht, daß solche Präambeln ersetzt werden müssen durch andere, die das Allgemeinwohl und die Erhaltung der Natur als oberste Ziele herausstellen?


      JONAS Sie werfen eine Frage auf, die man ganz kapital so formulieren kann: War vielleicht die Modernität ein Irrtum, der berichtigt werden muß? Ist der Weg richtig, den wir mit dieser Kombination von wissenschaftlich technischem Fortschritt und der Steigerung individueller Freiheit erreicht haben? War das moderne Zeitalter in gewissen Hinsichten ein Irrweg, der nicht weitergegangen werden darf? Der Philosoph ist durchaus frei, das zu überdenken und sogar zu gewissen Schlüssen zu kommen. Aber ob das irgendwo Gehör findet, ob es möglich ist, die Menschen zu einer solchen Umkehr zu bewegen, ist doch die Frage, an die wir dauernd stoßen.


      SPIEGEL Viele Menschen werden es nicht sein, die sich von solchen Philosophen gewinnen lassen.


      JONAS So wird es wohl sein. Welche Macht hat Einsicht? Einsicht dieser Art ist notwendigerweise bei relativ wenigen. Erstens ist sehr große Kundigkeit nötig und sehr viel Sachverständnis. Zweitens ist sehr viel Freiheit von persönlichem Interesse nötig und ein gewisser Grad der Selbstlosigkeit und der Hingebung an die sozusagen wahren Interessen des Menschen.


      SPIEGEL Die Frage ist ja: Welches sind die wahren Interessen, wer legt sie fest? Die Aussicht auf neue Ideologien zum Zweck der Menschheitserrettung stimmt nicht gerade fröhlich.


      JONAS Man schaudert vor der Phantasie, es könnten neue Heilslehren auftreten, die die Menschen in ihren Bann schla-


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      gen; mit denen man alles mögliche mit den Menschen anstellen kann, unter anderem auch Askese, unter Umständen aber auch das Schrecklichste. Ich habe keine Antwort auf die Frage, wie die sich jetzt abzeichnende und unzweifelhafte Gefährdung der menschlichen Zukunft im Verhältnis zur irdischen Umwelt abgewendet werden kann. Ich weiß nur eines: Man darf die Frage nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie immer neu zu stellen; immer neu zu überdenken; immer neu auch daran mitzuarbeiten, daß sich ein schlechtes Gewissen in den ungeheuerlichen Hedonismus der modernen Genußkultur hineinfrißt - dies ist eine unabweisbare Pflicht. Man darf nicht fragen, ob das zu irgend etwas führt. Es könnte sein, daß es zu nichts führt, aber das wissen wir nicht.


      Der Mensch ist ein vorausschauendes Wesen. Der Mensch hat außer der Fähigkeit, der Natur alles auf die rücksichtsloseste Weise abzutrotzen, auch noch die Fähigkeit, seine Verantwortung dabei zu überdenken. Er muß und kann den Wert dessen empfinden, was er im Begriffe ist, zu zerstören.


      SPIEGEL Von Brecht stammt der Satz: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Ist der Dialog, den wir hier über den notwendigen Verzicht führen, vielleicht ein Dialog der Gesättigten, der Begünstigten? Wir reden von der westlichen Industriewelt; die östlichen Länder kämpfen derzeit verzweifelt um einen höheren Lebensstandard; von der südlichen Halbkugel wollen wir gar nicht reden, da können die Menschen auf gar nichts verzichten.


      JONAS Auf die große Vermehrung könnten die Menschen in der Dritten Welt schon verzichten. Aber es stimmt vollkommen, das macht unseren ganzen Diskurs verdächtig, daß es ein Gespräch unter den Bevorzugten ist. Wenn da von Bescheidung und Verzicht die Rede ist, haben wir in den westlichen Industriestaaten einen großen Spielraum; selbst ein beträchtliches Herabsteigen läßt uns noch auf ziemlich hohem Niveau. Man darf den Notleidenden und Hungern-


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      den dieser Erde nicht mit irgendwelchen Ansinnen kommen, sie sollten verzichten. Ausgenommen die Fortpflanzung, da kann man Beschränkung verlangen.


      SPIEGEL Dann dürfte Sie ja die Haltung des Papstes zur Empfängnisverhütung nicht gerade freuen.


      JONAS Dies ist ein Verbrechen gegen die Weltverantwortung. Es ist mir unbegreiflich, wie das jemand tun kann. Aber es zeigt, mit welchen Kräften, Irrationalitäten, Gewohnheiten, Trägheiten und Unvernünftigkeiten jede Menschheitspolitik zu rechnen hat. Auch beim zentralen Thema der Menschheitsvermehrung komme ich wieder zu der niederschlagenden Feststellung, daß wir zwar die Gefahr sehen und uns die Heilung abstrakt denken können; daß wir uns aber vorläufig gar nicht vorstellen können, wie dies praktisch durchgesetzt werden soll.


      SPIEGEL Ähnliches gilt sicher auch für die so ungemein erfolgreiche freiheitliche Wirtschaftsordnung des Westens. Die Wettbewerbswirtschaften sind auf Wachstum angelegt, Stillstand ist ihnen wesensfremd. Und Wachstum des Bruttosozialprodukts bedeutet in der Regel: weitere Zerstörung und Ausbeutung der Natur.


      JONAS Darf ich mal fragen, warum eigentlich eine gewisse Stabilisierung der Wirtschaft nicht möglich ist? Warum muß das Sozialprodukt immer weiter wachsen?


      SPIEGEL Zum einen lebt ein gut Teil der Unternehmen von den sogenannten Nettoinvestitionen, von der Produktion neuer Maschinen und dem Bau neuer Fabriken. Zum anderen kann ein einzelnes Unternehmen nicht stillstehen, wenn es nicht verdrängt werden will. Wachse oder vergehe - so heißt die unternehmerische Losung.


      OD: Weil das Volk die Reime liebt, weiß auch jeder Bauer: "Wachse! oder Weiche!" oder mehr unpersönlich, als objektives Gesetz formuliert: "Wachsen oder Weichen!" - sozusagen, als neu erworbene Volksweisheit. (Aber es ist leider wirklich so - im Kapitalismus.)


      JONAS Nehmen wir mal an, wir hätten eine Weltregierung und die würde die Bevölkerungsvermehrung einstellen. Dann wäre nicht einzusehen, warum die Produktion dauernd erhöht werden muß.


      SPIEGEL Dies ließe sich nur in einer zentralgelenkten Wirtschaft bewerkstelligen, nicht in einer freiheitlichen.


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      JONAS Ich habe mich noch nie als Fachmann für Weltwirtschaftskunde ausgegeben . . .


      SPIEGEL ... wir wollen hier auch keine ökonomische Debatte führen. Wir wollen nur darauf hinweisen, daß eine Abkehr von der Wachstumswirtschaft selbst dann riesige Probleme aufwürfe, wenn eine solche Wende mehrheitlich gewollt wäre. Weder die Demokratie noch die Marktwirtschaft bilden einen Rahmen für ihre Verantwortungsethik.


      JONAS Aber kann man nicht etwas auch darauf setzen, daß die Menschen eine Zukunft wollen? Darauf, daß sie den Sinn des Daseins nicht nur im Verzehr sehen? Ist ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen nicht auch mit einzukalkulieren in die weitere Geschichte der Spezies Homo sapiens? Es hat Religionen von Anfang an gegeben, sie standen meistens im Dienste sehr irdischer Bedürfnisse, Ängste und Wünsche. Aber es hat auch ein Trachten darüber hinaus immer gegeben, daß es noch um etwas anderes geht als um die maximale Befriedigung der Bäuche und der körperlichen Triebe. Der Stolz; die Scham; der Ehrgeiz, anerkannt zu werden - all das geht doch hinaus über das einfache Genießenwollen.


      Jenseits davon erscheint ein Bedürfnis, das eigene menschliche Dasein zu erhöhen und zu rechtfertigen durch etwas, was eben nur der Mensch kann. Es gibt den Begriff des Verzeihens, den Begriff des Helfens, den Begriff vor allem aber auch der Erweiterung der menschlichen Erfahrung. Was in der Kunst hervortritt, in der Poesie, in der Musik, selbst im einfachen Tanz, geht schon über alles hinaus, was man unter den einfachen Begriff der leiblichen Befriedigung rechnen kann.


      SPIEGEL Welche Rolle spielen die geistigen Eliten in diesem Prozeß? Mit dem Marxismus ist ein gigantisches Erziehungsprojekt gescheitert, an dem viele Intellektuelle mitgewirkt haben. Die Geistesmenschen waren befeuert von der Idee, die Menschheit zu einem Besseren zu führen. Im Moment ist bei den Intellektuellen ein Phantomschmerz zu registrieren. Ein Großprojekt ist gescheitert, eine Leerstelle ist da.


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      Sehen Sie die Notwendigkeit eines neuen Marxismus, einer neuen, großangelegten Ideologie?


      JONAS Ich weiß es nicht. Im Falle des Marxismus traf der Zauber einer großen, utopischen Vision einer gerechteren Gesellschaft zusammen mit einem Glücksversprechen, daß nämlich die weitere Meisterung der Natur nun allen zugute kommen wird, und zwar gleichermaßen; und schließlich mit dem Dasein einer Klasse, die daran besonderes Interesse hat, weil sie bisher um ihren Anteil gebracht worden ist. Hier hat ein großer sittlicher Impuls, der etwas mit Gerechtigkeit zu tun hatte, gewirkt, der gleichzeitig mit einem materiellen Glücksversprechen zusammenfiel. Das Glücksversprechen hat die bessere materielle Nutzung der Welt zum eigentlichen Gegenstand gehabt. Das heißt, es ging eigentlich in die Richtung dessen, was sich jetzt als verderblich herausstellt.


      SPIEGEL Wir können heute in den ehemals kommunistischen Ländern besichtigen, wie dort die Natur vom Menschen verwüstet wurde. Dies ist ohne Beispiel.


      JONAS Ja, das ist eine der großen Enttäuschungen. Ich gestehe, daß ich mich da völlig getäuscht habe. Ich habe gedacht, die Kommunisten hätten die größte Möglichkeit, bescheiden mit der Natur umzugehen, weil sie die Befriedigung der Bedürfnisse ja regieren können. Sie konnten sagen, soundsoviel wird bewilligt und nicht mehr.


      SPIEGEL Marx hat gefordert: Die Philosophie muß die Welt nicht interpretieren, sie muß sie verändern. An Sie die Frage: Kann der Philosoph, kann die Philosophie die Welt verändern? Welche Rolle spielt der Philosoph heute? Soll er sich einmischen? Kann er Prozesse einleiten, steuern?


      JONAS Nein, wahrscheinlich nicht. Die Philosophie kann dazu beitragen, daß in der Erziehung ein Sinn dafür entwickelt wird, wie sich menschliches Handeln auf längere Sicht auf das sehr delikate Gewichtsverhältnis zwischen menschlichen Ansprüchen und Leistungsfähigkeit der Natur auswirkt. Sie kann durch ihre Reflexion und Artikulation daran mitwirken, daß Initiativen zur Rettung und Erhaltung der


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      Umwelt zustande kommen. Kommt es zu ihnen, dann haben die Wirtschaftler, Politiker und Einzelwissenschaftler sehr viel mehr zu sagen als der bestinformierte Philosoph. Aber dann bleibt immer noch eine Aufgabe der Philosophie: zu wachen über die Menschlichkeit der Maßnahmen, mit denen man das Unheil zu stoppen versucht. Die könnten nämlich so sein, daß dabei die Sache, die man retten will, zum Teufel geht . . .


      SPIEGEL ... was könnte zum Teufel gehen?


      JONAS Die Sache wird schließlich eine Machtfrage. Wenn die Vorräte der Erde - Wasser, Rohstoffe, Luft - zur Neige gehen, dann könnten doch die Stärksten die Dezimierung der menschlichen Bedürfnisse und der Menschenziffern mit Gewalt erzwingen. Dieses grausame Grundgesetz der Evolution, daß die Stärksten überleben, darf nicht zum Gesetz des Überlebens der Menschheit werden. Dann geht wirklich unsere Kultur, die Menschlichkeit des Menschen, zum Teufel.


      SPIEGEL Wäre das die Aufgabe der Philosophie, eine neue Metaphysik des Menschen zu formulieren?


      JONAS Meine Auffassung ist, daß die Philosophie eine neue Seinslehre erarbeiten muß. In der sollte die Stellung des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Natur im Zentrum der Meditation stehen. Hier Friedensstifter zu sein, wäre der künftige Utopismus, anstelle jedes politisch-sozialen der Vergangenheit.


      SPIEGEL Sie halten es nicht für ganz ausgeschlossen, daß so etwas wie ein Prinzip Verantwortung zu einem modernen kategorischen Imperativ wird?


      JONAS Es geht um eine Erziehung des Menschen zu Lebenseinstellungen, die weniger gierig und gefräßig sind, dafür aber vielleicht anspruchsvoller in anderer Hinsicht. Man darf nicht fragen: Wird denn das helfen? Kann sich das durchsetzen gegenüber dem Vulgären, den Massenwünschen, den Gewohnheiten? Nach dem, was wir wissen, muß der Glaube daran sehr klein und schwach sein. Aber aufgeben ist das letzte, was man sich erlauben darf.


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      SPIEGEL Dennoch: Warum erstmals in der Menschheit die Bereitschaft zum freiwilligen Verzicht auf materiellen Genuß die Massen erfassen sollte, können wir uns schwer ausmalen.


      JONAS Die Psychologie des Menschen ist noch nicht voll ergründet. Noch wissen wir nicht, welche Ressourcen sich im äußersten Notfall beim Menschen offenbaren werden. Der völlige Verzicht auf jede Hoffnung ist das, was das Unheil nur beschleunigen kann. Eines der Elemente, die das Unheil verzögern können, ist der Glaube daran, daß es abwendbar ist.


      SPIEGEL Wir erleben einen Hans Jonas, der am Ende dieses Gesprächs denn doch etwas Mut und Zuversicht verbreitet.


      JONAS Nein, nicht Mut und Zuversicht. Der aber auf eine Pflicht hinweist, der wir unterstehen. Man darf nicht erst die Aussichten bewerten und daraufhin beschließen, ob man was tun soll oder nicht. Sondern umgekehrt, man muß die Pflicht und die Verantwortung erkennen und so handeln, als ob eine Chance da wäre, sogar, wenn man selber sehr daran zweifelt.




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