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    Sind unsere Parteien demokratisch? - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 22.11.02 21:48:10 von
    neuester Beitrag 22.11.02 23:37:28 von
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      schrieb am 22.11.02 21:48:10
      Beitrag Nr. 1 ()
      Ich weiß, es kann ein heikles Thema werden,
      bzw. die heutige Demokratie unseres Landes etwas schädigen,
      wenn man sich über so etwas Gedanken macht!

      Vorab: Ich bin wirklich Demokrat, alle anderen Staatsformen zeigen
      mehr oder weniger stärkere Nachteile...

      In diesem Thread soll es verstärk darum gehen:

      Sind unsere Parteien demokratisch, nur weil sie gewählt worden sind?

      Oder haben wir gar keine Wahl, wie verschiedentlich immer behauptet wird...

      Ich stelle hier mal einige Quellen ein,
      ohne grundsätzliche Überprüfung der Seriösität der Verfasser,
      ich hoffe, jeder aufrechte Demokrat kann sich selbst ein Bild davon machen! :)

      Und los gehts!
      ********************************

      Radikale Kritik des Parteiensystems
      Bei den Spielchen mit Politskandalen gerät das "Gesetz der Oligarchie" aus dem Blickfeld
      Ach ja? CDU und SPD hatten in dieser Legislaturperiode ihre Parteispendenskandale in Millionenhöhe! Hatten wir`s nicht geahnt? Und Stoiber? Ist er nicht skandalgestählt von der Amigo-Affäre bis hin zur jüngsten Parteispendenaffäre via seiner Zeitung "Bayernkurier"? Wer erwartet von ihm saubere Hände? 140.000 DM hatte Scharping bekommen, vom PR-Unternehmer und Rüstungsdealer Hunzinger. Für 55.000 DM hatte sich Scharping an einem Tag bei einer Nobelfirma eingekleidet, eine Summe, die für viele Menschen das Jahresgehalt übersteigt. Ganz zu schweigen von den ständig erhöhten Diäten der Parlamentsabgeordneten.

      Interessant ist, dass die Menschen die Details gar nicht mehr interessieren. Jede/r weiß, dass mehr vertuscht wird, als aus Wahlkampfzwecken und politischen Ränkespielen an die Öffentlichkeit kommt. PolitikerInnen bereichern sich, und wenn sie sowieso schon von der Arbeit anderer leben. Das wissen alle. Doch die Reaktion darauf ist nicht Revolte, sondern Fatalismus und Gleichgültigkeit ("die machen ja doch, was sie wollen!").

      Die Gleichgültigkeit der wählenden Massen gegenüber ihren politischen Führern ist ein Grundpfeiler, eine Bedingung der parlamentarischen Demokratie. Sonst würde sie gar nicht funktionieren.

      Sagt Robert Michels, einer der klassischen und radikalsten KritikerInnen des Parteiwesens in der Demokratie. Wer?

      Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels hat die Herrschaftskritik in den Mittelpunkt seiner Analysen des Parteiensystems gestellt, im Jahre 1911 in seinem Werk "Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie".

      Das Buch war die Quintessenz seiner anarchosyndikalistischen Lebensphase, die von ca. 1905 bis 1911 reichte. Michels` damals entstandenes "ehernes Gesetz der Oligarchie" gilt heute als ein Klassiker der modernen Parteiensoziologie.

      AnarchistInnen bilden keine Parteien, beteiligen sich nicht am Parlamentarismus und haben zudem in ihren Organisationen die Anzahl der Funktionäre und bezahlten Stellen abgeschafft oder denkbar klein gehalten. Die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT in Spanien hatte z.B. 1936, kurz vor der Revolution, ca. eine Million Mitglieder, aber nur einen bezahlten Funktionär! Obwohl Michels den anarchistischen Organisationen solche Gegentendenzen konzedierte, sah er selbst dort Oligarchisierungstendenzen und fand sein "ehernes" Gesetz auch bei anarchistischen Gewerkschaften bestätigt. Michels Analysen enden so im Fatalismus, dass Oligarchien gar nicht zu vermeiden sind, was das Einstiegstor für seine spätere Hinwendung zum italienischen Nationalismus und zum Führerprinzip wurde (1). Trotzdem haben AnarchistInnen seine Analysen immer wieder heran gezogen, um den Parlamentarismus grundsätzlich zu kritisieren. Sie waren zudem wertvoll, um eigene Oligarchisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen, zu vermeiden oder abzubauen. An Michels kritisierten die AnarchistInnen vor allem die angebliche "Ehernheit" des Gesetzes der Oligarchie, das Michels anhand seiner Parteienanalysen beispielhaft aufgezeigt hatte, dann aber auf jegliche Organisationsform ausgedehnt wissen wollte.

      Das Gesetz der Oligarchie
      Nach Michels ist die Parteiendemokratie eng mit der Monarchie verwandt, nur herrscht anstatt einem König eine ganze Kategorie von kleinen Königen (Oligarchen anstelle des Monarchen). Oligarchie heißt also, mehrere anstatt einem Führer zu haben. Da diese Tendenz in aristokratischen und konservativen Parteien des Parlamentarismus selbstverständlich erschien, untersuchte Michels vor allem sich revolutionär nennende Parteien und Organisationen, die erklärtermaßen keine Oligarchien ausbilden, sondern sie gerade abschaffen wollten.

      Sind die Führer von revolutionären Parteien nach Michels anfangs noch subjektiv ehrlich und von ihren Ideen überzeugt, also sogenannte "Diener" der Parteimitglieder, so kehrt sich mit zunehmender Parlamentarisierung der Partei alles um. Besonders sozialistische und sozialrevolutionäre Parteien sind nach Michels Organisationen, die im Parlament in der täglichen Auseinandersetzung mit dem Gegner stehen und daher schnelle Entscheidungen fällen müssen.

      Dass alle Mitglieder bei solchen Entscheidungen beteiligt werden, erscheint Michels unmöglich, weil Entscheidungen so lange verschleppt würden, wie der Diskussionsprozess braucht. Günstige taktische Möglichkeiten parlamentarischen Einflusses würden so verpasst. Auf Dauer lässt sich im Parlament daher ein imperatives Mandat nicht aufrecht erhalten. Der Zentralismus, die hierarchische Gliederung der Partei, wird zur praktischen Notwendigkeit.

      Es vollzieht sich der Umschlag von Gewählten zu FührerInnen: "Aus der Delegation entwickelt sich das moralische Recht auf Delegation. (...) Aus der Wahl für einen bestimmten Zweck wird eine Anstellung auf Lebenszeit." (2) Durch die erste Wahl wird der/die Delegierte den Mitgliedern bekannt, durch die Medien populär gemacht. Je länger er/sie im Amt bleibt, desto sicherer, weil die zunehmende Popularität bei den politisch gleichgültigen Massen zur Identifikation mit dem Bekannten und immer wieder Gezeigten führt. Hier wird deutlich, dass die Gleichgültigkeit der Massen gerade kein Ausdruck von Abwendung, sondern von Entsprechung zur Parteienherrschaft ist. Identifikation durch Popularität aber macht kritikunfähig, die Gewohnheit der Wiederwahl von PolitikerInnen wird zum - von den PolitikerInnen so eingeschätzten - Recht auf Wiederwahl. Bei Parteitagen werden die wichtigen Posten bereits vorher festgelegt und Konkurrenten treten in der Regeln gar nicht erst offen zur Wahl an. Kommt einmal Kritik auf (z.B. dass gegebene Wahlversprechen nicht eingehalten wurden), droht der Gewählte mit Rücktritt oder wirft subalterne Mitstreiter raus, auf welche die Kritik abgeleitet wird (diese Funktion hatte z.B. Scharping).

      Der/die permanent wieder gewählte PolitikerIn wird BerufspolitikerIn. Er/sie macht sich gegenüber WählerInnen und Mitgliedern durch Kompetenz unentbehrlich. Die Landwirtschaftsministerin wird immer kompetenter in Sachen EU-Agrarrecht sein als jede/r BürgerIn, weil die Agrarbürokratie ihr Beruf ist und weder Parteimitglieder noch WählerInnen je die Zeit haben werden, sich zusätzlich zu ihrem eigenen Beruf so in diese Materie einzuarbeiten wie die Agrarministerin, der Verkehrsminister, die Familienministerin usw. usf. Der Vorwurf der Inkompetenz ist gleichzeitig eine beliebte Form der Verteidigung der FührerInnen gegen KritikerInnen.

      Mit zunehmender Bürokratie wird die Zielvorstellung der Partei, etwa Sozialismus (nennen wir hier mal die PDS als Beispiel), verwaschener und die Spezialisierung der Aufgaben, das zahlenmäßige Wachstum und der Bestand der Organisation werden zum Selbstzweck, der nicht etwa durch eine revolutionäre Aktion riskiert werden darf. Die Parteiverwaltung, das Management, die Presse und Pressestellen und die Mitgliedsbeiträge werden von Parteichargen kontrolliert und erhöhen die Macht der FührerInnen über die Geführten. Die unteren Parteiangestellten sind so finanziell von ihren FührerInnen abhängig, was zu einer Interessenidentität für die nächste Wiederwahl führt. So entstehen Seilschaften und Parteien, die geschlossen zu ihren FührerInnen stehen, auch wenn die wie Gysi als Wirtschaftssenator in Berlin oder wie Schröder zum Beispiel mit dem neoliberalen Hartz-Programm (mehr Zeitarbeit, Druck auf Arbeitslose, Förderung von Unternehmertum) ganz gegensätzlich zur ursprünglichen Programmatik Politik machen. Parteispaltungen sind nach Michels eine Folge von Konflikten verschiedener Oligarchen, von FührerInnen oder Führungsgruppen, die mit ihren Seilschaften konkurrieren und gegenseitig um die Macht in der Partei kämpfen. Die unterlegene Seilschaft und ihr Führer bilden dann die Abspaltung. Sie sind unfähig zur Ausbildung radikaler Parlamentarismuskritik und bilden schnellstmöglich neue Parteien, um wieder am Parlamentarismus teilzunehmen. Manchmal ereignen sich Spaltungen in geschichtlichen Zeiten revolutionärer Umwälzung, dann versucht eine Partei kurzfristig auch, die Macht über militärische Siege zu erobern, die sie dann "Revolution" nennt (während eine gewaltfreie Graswurzelrevolution immer zugleich eine parteilose, soziale Revolution meint). Doch schon 1921, zwei Jahre nach der deutschen Revolution von 1918/19 hatte sich z.B. in der KPD die Teilnahme am Parlamentarismus wieder vollständig durchgesetzt.

      Manche analytischen Aussagen von Michels waren von großer Voraussicht und sind heute nach wie vor aktuell: "Die politische Organisation trägt zur Macht. Die Teilnahme aber an der Macht macht stets konservativ. (...) Mit dem Wachstum der Organisation wird der Kampf um große Prinzipien unmöglich." (3)

      Die Führungskämpfe in der politischen Organisation und im Staate selbst reduzieren sich nach Michels auf Machtkämpfe ohne weiteren Inhalt, "zwischen einer sich um den Besitz ihrer Herrschaft wehrenden alten Minderheit und einer in der Eroberung der Macht begriffenen, ehrgeizigen neuen Minderheit, die sich mit der alten vermischen oder sie sogar entthronen will." (4) Es werden nur Eliten ausgetauscht (sowohl im parlamentarisch wie im bewaffnet ausgetragenen Machtkampf), die Masse soll gleichgültig bleiben und nicht störend eingreifen - oder sie wird unterdrückt. Die parlamentarische Demokratie hat sich nach Michels die Aufgabe gestellt, FührerInnen zu beseitigen und versagt (die Grüne Partei hat sich anfangs die Aufgabe gestellt, "Promis" und Personenkult zu beseitigen und versagt).

      Der politische Skandal
      Rücktritte und politische Skandale wie derjenige Scharpings gehören zu diesen Machtkämpfen "ohne weiteren Inhalt". Sie sollen eine Selbstreinigungsfähigkeit im Parlamentarismus vorspiegeln, um die Menschen gleichgültig und passiv zu halten.

      Der wirkliche Skandal ist aber, dass Scharping wegen seines vergleichsweise kleinen Finanzskandals aus wahltaktischen Gründen gehen musste (Schröder wollte monatelange Diskussionen vermeiden), aber seine Durchführung von drei Kriegen als Verteidigungsminister in der letzten Legislaturperiode nicht als Skandal gilt. Auch Stoiber hätte diese Kriege geführt und in den Medien wäre das nicht als Skandal gehandelt worden. PolitikerInnen sind Charaktermasken, OpportunistInnen reinsten Wassers, Zeligs (vgl. den gleichnamigen Film von Woody Allen über den Opportunisten par excellance), die sich an die vom Parlamentarismus verlangten Rollen anpassen müssen. Das ist geradezu eine Berufsbeschreibung. Welches Bild sie dabei individuell abgeben, ist völlig irrelevant. Scharping ist ja wirklich eher zu bemitleiden, ein lächerlicher, skurriler, hilflos rudernder, dabei disziplinierter Parteibürokrat, der sich selbst als ein zu Gefühlen, gar zu Liebe fähiger Hedonist darstellen will (es hat nicht geklappt, deswegen wird er immer noch "Rudolf" und nicht lieblich kosend "Rudi" genannt).

      Um den Strukturen des Parlamentarismus und der Parteienpolitik beizukommen, reicht der Ärger über Skandale nicht aus. Das Problem der Parteipolitik und des Parlamentarismus ist ein Herrschaftsproblem, es ist das Problem der Entstehung von Führern und Geführten. Solange die Menschen sich passiv und fatalistisch wie Geführte verhalten, wird das Parteiensystem weiter existieren. Es kann nur durch alternative Selbstorganisation sowie durch den aktiven Kampf gegen das Parteiensystem aufgebrochen werden.

      Dabei darf nicht vergessen werden: In den bisherigen "Demokratien" stellt sich wirkliche Macht nicht den Wahlen. Und sie wird deshalb auch durch Wahlen nicht angefochten: Die Manager der Banken und Großkonzerne, die mit dem Umleiten von Geldströmen politische Entscheidungen zunichte machen oder ihre eigenen Entscheidungen treffen, entziehen sich weitgehend öffentlicher Kontrolle. Umgekehrt: sie kontrollieren mit Kapitalflucht, Währungspolitik, mit ihren ökonomischen Entscheidungen über Industrieansiedlung, Abbau von Arbeitsplätzen usw. oft genug die Parlamente und Regierungen. Massenmedien, Unterhaltungsindustrien, die ihre Sicht der Welt ohne Unterbrechung allen mitteilen, während abweichende Sichtweisen dort nicht vorkommen oder der Lächerlichkeit ("nicht realistisch", "nicht effektiv", "unprofessionell") preisgegeben werden, sind bewusstseinsprägende Machtinstrumente, die sich jeder Kontrolle durch ihre "Basis" entziehen. Die militärischen, polizeilichen und Geheimdienst-Verbände, die zur Kontrolle und Bekämpfung sozialer Bewegungen aufgeboten werden, harter Kern und Rückgrat des Staates, kontrollieren eher die Parlamente (etwa mit "Erkenntnissen" aus dem Privatleben von PolitikerInnen, Verbindungen zu feindlichen Mächten usw.) als dass sie auch nur parlamentarisch kontrolliert würden.

      William Wright


      Quelle: http://www.graswurzel.net/271/kw-oligarchie.shtml
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 21:48:52
      Beitrag Nr. 2 ()
      Hans Herbert von Arnim

      Wahl ohne Auswahl

      Die Parteien und nicht das Volk bestimmen die Abgeordneten



      „Stell’ Dir vor, es sind Wahlen, und keiner geht hin“ lautet ein Szenario, das enttäuschte Wähler gelegentlich an die Wand malen. Politikerverdrossen- heit grassiert. So schlimm wird es am 22. September zwar nicht kommen. Zur Wahl gehen gilt immer noch als staatsbürgerliche Pflicht Nummer eins. Doch wie sieht es mit den Rechten des Bürgers aus? Was kann er mit seiner Stimme überhaupt ausrichten? Die Parteien treffen ja alle wichtigen Entscheidungen ganz allein – vor und nach den Wahlen. Und sie beherr- schen auch die so genannte „politische Bildung“, die uns seit einem halben Jahrhundert einimpft, die Ohne-mich-Haltung sei unsolidarisch und verantwortungslos. Gleichzeitig wird uns aber die Kenntnis über das genaue Funktionieren unseres Wahlsystems vorenthalten.

      In Wahrheit ist die Wahl zum großen Teil schon gelaufen. Die Parteien haben nicht nur das Monopol für die Aufstellung der Kandidaten. Sie haben das bundesdeutsche Wahlgesetz auch so ausgestaltet, dass sie dem Bürger sogar die Wahl selbst abnehmen. Und die Parteien sind keineswegs mit der Gesamtbürgerschaft gleichzusetzen (obwohl sie selbst gerne so gesehen würden). Im Durchschnitt sind nicht einmal vier Prozent der Wähler bei den Parteien eingeschrieben, und die wichtigen Nominierungsentschei- dungen trifft ohnehin meist nur ein ganz kleiner parteiinterner Kreis von "Vorentscheidern".

      Theoretisch kann sich zwar jeder Bürger in einem der 299 Bundestags- wahlkreise aufstellen lassen, wenn sich 200 Mitbürger finden, die seine Kandidatur mit ihrer Unterschrift stützen. Faktisch steht dieser Weg ins Parlament aber nur auf dem Papier: Seit den Fünfzigerjahren wurde kein „Freier“ mehr in den Bundestag gewählt.

      Die Parteien begnügen sich jedoch nicht mit ihrem Vorschlagsrecht, sondern wollen auch entscheiden, wer gewählt wird. Die Vielzahl von Wahlen zum Bundestag und zum Europäischen Parlament, zu sechzehn Landesparlamenten und zu Tausenden von Kreistagen, Stadt- und Gemeindevertretungen und die Heftigkeit der Wahlkämpfe erwecken zwar den Eindruck, als hätte der Bürger unheimlich viel zu sagen. Aber der Schein trügt, zumindest hinsichtlich der besonders wichtigen obersten Ebene.

      Von den 598 Abgeordneten, die am 22. September in den Bundestag einziehen werden, steht ein ganz großer Teil schon jetzt namentlich fest.

      Starre Wahllisten entmündigen die Wähler

      Bei Bundestagswahlen hat jeder Wähler bekanntlich zwei Stimmen. Mit der sogenannten Zweitstimme kann er aber nur starre Parteilisten ankreuzen, auf denen die Reihenfolge der Kandidaten – für den Wähler unabänderbar – festgelegt ist. Welche Kandidaten noch zum Zuge kommen und den Einzug ins Parlament schaffen, bestimmt die Zahl der Zweitstimmen, die auf die jeweilige Landesliste der Partei entfällt. Alle Personen, die die Parteigre- mien auf sogenannte "sichere Listenplätze" gesetzt haben, sind mit ihrer Nominierung praktisch auch schon gewählt. Insofern hat der Bürger gar keine Wahl mehr. Selbst Kandidaten, die der großen Mehrheit der Wähler missfallen, können nicht verhindert werden. Wer die Grünen in Baden- Württemberg wählt, muss sogar Cem Özdemir auf dem als sicher geltenden Listenplatz 5 in Kauf nehmen, obwohl der erklärtermaßen sein Mandat niederlegen will – nach der Wahl. Die eigentliche Volkswahl wird zur Farce. Dass die Bürger die Personen, die auf den Listen gewählt werden, auch nichts anzugehen haben, eben weil die Parteien sich die Entscheidung vorbehalten, zeigt im übrigen auch der Umstand, dass die Namen der – mit Ausnahme der ersten fünf – nicht einmal auf den Wahlzetteln nicht genannt werden.

      So kommen zum Beispiel fast alle Abgeordneten der bayerischen SPD, die im CSU-Land kaum Chancen haben, Wahlkreise zu gewinnen, über die Liste in den Bundestag, und für CDU-Abgeordnete im SPD-Land Bran- denburg gilt Entsprechendes. Bei den kleineren Bundestagsparteien FDP und Grüne, die bundesweit keinen Direktkandidaten durchbekommen, entscheidet ohnehin ganz allein die Positionierung auf den Landeslisten. Das erklärt auch die Gnadenlosigkeit, mit der um sichere Listenplätze gekämpft wird.

      Dabei können dann so profilierte und ideenreiche Kandidaten wie Oswald Metzger bei den Grünen durchfallen, dem gute Leistungen auf Bundesebene wichtiger waren als das Kungeln in der heimischen Partei. Uschi Eid und Birgitt Bender, deren Qualitäten nicht zuletzt in ihrem Frau-Sein bestehen, belegen dagegen vorderste Listenplätze bei den baden-württembergischen Grünen.

      In Hessen sitzen Antje Vollmer und Joschka Fischer auf den ersten beiden Listenplätzen der Grünen. In Nordrhein-Westfalen hat Ludger Vollmer den Listenplatz 4 inne. Kerstin Müller ist dagegen auf Platz 12 praktisch chancenlos. In Berlin, wo parteiintern besonders heftig um die vorderen Plätze gerungen worden war, gewann schließlich – neben Renate Künast (Platz 1) – Werner Schulz (Platz 2), während der besonders profilierte Christian Ströbele, der allerdings öfters gegen den Stachel gelöckt hatte, nicht genug Rückhalt in seiner Partei für einen aussichtsreichen Platz hatte.

      In Nordrhein-Westfalen nehmen Guido Westerwelle, Jürgen Möllemann, Ulrike Flach, Werner Hoyer, Jörg van Essen und einige weitere Personen die ersten Plätze der dortigen FDP-Landesliste ein und können sich deshalb schon jetzt als "gewählt" betrachten.

      Voraussetzung für einen Einzug in den Bundestag ist allerdings, dass eine Partei entweder mindestens drei Direktmandate gewinnt oder fünf Prozent der Zweitstimmen im Bundesgebiet erhält. Das wird bei der FDP bei dieser Bundestagswahl kein Problem darstellen. Bei den Grünen und besonders bei der PDS dürfte es dagegen knapp werden. Die PDS hatte 1998 vier Direktmandate in Ostberlin gewonnen. Nach dem Neuzuschnitt der Wahlkreise ist dieser Erfolg aber wohl kaum zu wiederholen. Umso wichtiger wird auch für sie das Überspringen der Fünf-Prozent-Klausel, was ihr 1998 mit 5,1 Prozent ebenfalls knapp gelungen war.

      Wahl durch die Hintertür

      Die bundesdeutschen Parteien haben das Wahlsystem zu ihrem Nutzen zurechtgestutzt. Die Folge ist die Selbstbestimmung der Abgeordneten durch die Parteien und keine freie Wahl der Abgeordneten unmittelbar durch das Volk, obwohl das Grundgesetz dies in Artikel 38 ausdrücklich verlangt.

      Die Politik schweigt das fundamentale Manko natürlich tot. Es sei denn, das Thema passt ihr ausnahmsweise einmal ins Konzept. So geschehen bei der Abstimmung über den Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan, als man die „Abweichler“ in der SPD-Fraktion zur (Partei-)Räson bringen wollte. Da scheute sich der SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder nicht, herauszustellen, „dass alle potenziellen Nein-Sager nicht direkt gewählt wurden, sondern über Landeslisten ins Parlament einrückten und sich deshalb nicht auf einen direkten Wählerauftrag berufen können.“

      Aber auch mit der Erststimme hat der Wähler oft keine Wahl. Richtig ist zwar, dass die Kandidaten in den 299 Bundestagswahlkreisen persönlich um die Erststimmen werben. Wer die meisten Stimmen erhält, zieht in den Bundestag ein, so dass die Wähler den Eindruck gewinnen, sie träfen wirklich eine Auswahl.

      In Wahrheit haben von vornherein nur Kandidaten der beiden großen Parteien überhaupt eine Chance, einen Wahlkreis zu gewinnen. Aber auch von ihnen sind viele zusätzlich über die Liste abgesichert. Sie kommen in den Bundestag, selbst wenn sie im Wahlkreis verlieren. Das Mandat wäre ihnen sogar dann sicher, wenn sie keine einzige Erststimme bekämen. Der Wähler wird an der Nase herumgeführt. Alles Wahlkampfgetöse ist dann nur noch Inszenierung, um darüber hinwegzutäuschen, dass der Bürger in Wahrheit gar nichts mehr zu entscheiden hat und wie ein Trottel dasteht.

      In der SPD gilt sogar die Regel, dass nur solche Personen auf die Landesliste kommen, die auch in einem Wahlkreis kandidieren. Deshalb wurde dem bisher parteilosen Bundeswirtschaftsminister Müller ein aussichtsreicher Listenplatz in Nordrhein-Westfalen verweigert. Von der Regel gibt es nur wenige Ausnahmen: Gerhard Schröder und Franz Müntefering führen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen jeweils die SPD-Listen an, ohne gleichzeitig in einem Wahlkreis zu kandidieren.

      Einige Beispiele aus dem größten Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem mehr als ein Fünftel aller Bundestagsabgeordneten gewählt werden: Im Wahlkreis Neuss I kämpfen Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig (SPD) und Hermann Gröhe (CDU) um die Erststimmen. Beide sind aber auf den Listen ihrer Partei abgesichert. Auch im Wahlkreis Kleve werden mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Barbara Hendricks (SPD) und Ronald Profalla (CDU) beide Kandidaten in den Bundestag kommen. Das gleiche gilt etwa für Dagmar Schmidt (SPD) und Friedrich Merz, den Fraktionsvorsitzenden der CDU, im Hochsauerland-Wahlkreis.

      Entsprechendes gilt für die drei kleinsten Bundesländer: Der neu zugeschnittene Wahlkreis Hamburg Mitte ist ein sicherer SPD-Wahlkreis. Neben Johann Kahs (SPD) wird aber auch seine Herausforderin Antje Blumenthal (CDU) ins Parlament kommen. So ist es auch in Hamburg- Wandsbek, wo der frühere Hamburger Regierungschef Ortwin Runde (SPD) und Jürgen Klinke (CDU) kandidieren, und im Wahlkreis Hamburg- Bergedorf-Harburg, wo der Vizepräsident des Bundestags Hans-Ulrich Klose (SPD), ebenfalls früherer Hamburger Bürgermeister, und der frühere Bundes- verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) in den Ring steigen. In Bremen I, einem sicheren SPD-Wahlkreis, kann Volker Kröning seines Sieges schon jetzt sicher sein. Das tut seinem Herausforderer Bernd Neumann (CDU) aber nicht weh, weil er auf Listenplatz 1 abgesichert ist. Im Saarland hat der frühere Regierungssprecher Ottmar Schreiner in der SPD-Hochburg Saarlouis sein Mandat schon in der Tasche. Sein Herausforderer Peter Altmaier (CDU) ist auch auf der Liste abgesichert. Ebenso ist es im Wahlkreis Homburg mit Astrid Klug (SPD) und Albrecht Feibel (CDU).

      Die Zentralen für politische Bildung machen in diesen Tagen – begleitend zum Bundestagswahlkampf – „Aufklärungskampagnen“. So wirbt die rheinland-pfälzische Landeszentrale auf Plakaten um Jugendliche mit dem Satz „Deine Wahl“. Müsste es aber nicht richtiger heißen „Keine Wahl“?

      In Parteihochburgen: Diktat der Parteien

      Hinzu kommt: Viele Wahlkreise sind für eine der beiden großen Parteien absolut sicher. Hochburgen der Union wie z.B. Paderborn (wo Gerhard Wächter in den Bundestag einziehen wird), Biberach (wo Franz Romer "kandidiert") oder Straubing (wo Ernst Hinsken schon jetzt gewonnen hat), sind durch einen besonders hohen Anteil an Katholiken gekennzeichnet und liegen regelmäßig in ländlichen Gegenden. Hochburgen der SPD sind dagegen Arbeitermetropolen, insbesondere Ruhrgebietsstädte wie zum Beispiel Gelsenkirchen (wo Joachim Proß ein Mandat erhalten wird) und Duisburg (wo Petra Weis und Johannes Pflug in den beiden Wahlkreisen praktisch schon gewählt sind). Hier kann die Mehrheit aus inneren Bindungen heraus gar nicht anders als den Kandidaten zu wählen, den "ihre" Partei präsentiert. Deshalb kann diese Partei ihren Abgeordneten den Bürgern „faktisch diktieren“ (Bundesverfassungsgericht). In solchen Parteihochburgen würden – wie Insider witzeln – selbst Vogelscheuchen gewählt, wenn nur die richtige Partei sie aufstellt. Um so wichtiger wird es dann aber, den Bürgern ein Mitspracherecht bei Aufstellung des Kandidaten zu geben.

      Bis zu 83 Prozent sind schon "gewählt"

      Von den 128 Abgeordneten, die zum Beispiel Nordrhein-Westfalen in den Bundestag schickt, stehen schon jetzt, lange vor der Wahl, 85 namentlich fest (66 Prozent) und weitere 18 mit großer Wahrscheinlichkeit. Zusammen sind das 80 Prozent. Dies hat eine Untersuchung ergeben, die derzeit an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer durchgeführt wird. In Bayern liegt die Quote bei 78 Prozent beziehungs- weise 85 Prozent, in Baden-Württemberg bei 64 Prozent beziehungsweise 81 Prozent, in Hamburg bei 83 Prozent beziehungsweise 92 Prozent. Diese Prozentsätze bedeuten im übrigen nicht, dass der Wähler zumindest beim kleinen Rest die eigene Wahl verbliebe. Wer ins Parlament kommt hängt auch in diesen Fällen vielfach von Zufälligkeiten ab. So erhält eine Partei um so weniger Listenplätze, je besser diese Partei in einem Bundesland abgeschnitten hat. Das liegt darin, dass die errungenen Direktmandate vorab abgezogen werden. In Bayern und Baden-Württemberg, wo die Union fast alle Wahlkreise zu gewinnen pflegt, sind deshalb paradoxerweise selbst vordere Plätze auf ihren Listen nicht mehr sicher. Dagegen können die SPD-Kandidaten in Bayern – trotz (oder besser: wegen) des regelmäßig dürftigen Abschneidens ihrer Partei im Freistaat mindestens auf den ersten 26 Plätzen der Landesliste schon jetzt ihren Einzug in den Bundestag feiern.

      Es gibt natürlich Unterschiede zwischen den Bundesländern, und zum Teil ganz erhebliche. Das gilt besonders für die neuen Länder, in denen die Parteien nur wenige sogenannte Stammwähler haben. Von Wahl zu Wahl sind deshalb sehr viel größere Ausschläge möglich als im Westen. Und das erschwert verlässliche Voraussagen.

      Fatale Konsequenzen

      Die Entmachtung der Bürger hat fatale Weiterungen: Wenn Parteien über die Wahlchancen von Kandidaten entscheiden, erhalten innerparteiliche Verbindungen zentrales Gewicht, die Anerkennung im Volk und die Leistung als Abgeordneter werden dann zweitrangig (worin vermutlich auch ein Grund für die zunehmende Abgehobenheit und Bürgerferne von Politikern liegt). "Wes Brot ich eß`, des Lied ich sing`" gilt abgewandelt auch hier. Wenn die Wahl und die Wiederwahl und damit der Eintritt in die berufspolitische Laufbahn und ihre periodische Verlängerung von den Parteien und nicht von den Wählern abhängt, wird der parteiinterne Goodwill des Abgeordneten unvergleichlich viel wichtiger als alles andere. Das führt zu einer völligen Verkehrung der demokratischen Idee: Dem angehenden Abgeordneten kann sein Ansehen bei den Wählern dann fast gleichgültig sein, wenn er nur innerparteilich über die nötige Unterstützung verfügt, die ihm eine aussichtsreiche Nominierung sichert. (Und dass die Parteien bei der Rekrutierung des politischen Nachwuchses keine guten Noten verdienen, ist seit langem ein offenes Geheimnis.)

      Dann wird es für Abgeordnete auch gefährlich, ihr (grundgesetzlich garantiertes) freies Mandat wirklich frei auszuüben und notfalls auch von Mehrheitsbeschlüssen ihrer Fraktion abzuweichen, weil sie riskieren, bei der nächsten Wahl nicht wieder aufgestellt zu werden. Allein von den Parteien bestimmte Abgeordnete sind regelmäßig "Parteisoldaten", wie der frühere SPD-Politiker Hans Apel, aus eigener Erfahrung treffend berichtet. Sie verdanken alles ihrer Partei und geben im Zweifel der Parteiräson den Vorrang, selbst vor besserem eigenem Wissen und Gewissen.

      Dass es parteiinterne Beziehungen sind, die darüber entscheiden, ob jemand Abgeordneter wird, wird auch verschwiegen, wenn Politiker oder ehemalige Politiker die (weitere) Erhöhung ihrer eigenen Bezüge fordern, wie dies z.B. Peter Glotz in "Die Zeit" vom 18. Juli unter dem Titel "Dein Abge- ordneter, dein armer Schlucker" getan hat. Wenn parteiinterne Verbindun- gen und nicht Leistung entscheiden, steigern höhere Bezüge nur die Prämien auf Kungelei, ohne für Seiteneinsteiger wirklich den Weg frei zu machen. Auch Wirtschaftsleute (wie jüngst Mitarbeiter der Unternehmens- beratung Kienbaum) sitzen – aus Unkenntnis über parteiinterne Rekrutie- rungsmuster – oft dem Missverständnis auf, in der Politik gälte wie in der Wirtschaft, der Grundsatz, dass man um so mehr Geld bezahlen müsse, je bessere Leute man gewinnen will. Doch das stimmt in der Politik gerade nicht. Es herrscht kein offener Markt mit fairem Wettbewerb. Die Nominierungsentscheidungen sind völlig vermachtet.

      Volksvertretung ohne Volk – Parlament ohne Legitimation

      Das Problem ist noch viel grundsätzlicher und betrifft letztlich die Fundamente unseres Gemeinwesens, weshalb die politische Klasse eine öffentliche Diskussion darüber scheut wie der Teufel das Weihwasser. Wahlen sind der Schlüssel für die Legitimation von Demokratien. Kaum einer hat das so gut auf den Begriff gebracht wie der spanische Kulturphilosoph und Essayist Ortega y Gasset (in seinem Buch „Aufstand der Massen“):

      „Das Heil der Demokratie hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.“

      Das gilt besonders für eine rein repräsentative Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland. Hier machen nicht die Bürger selbst die Gesetze (und entscheiden die anderen wichtigen Gemeinschaftsfragen). Dies tun allein die Volksvertreter. Diese müssen dann aber wirklich vom Volk gewählt sein.

      Nur dann können die Bürger Parteien und Politiker für ihr Versagen verantwortlich machen, was die unverzichtbare Kehrseite demokratischer Repräsentation ist. Nur dann können die Bürger Parteien und Politiker für gute Politik durch Wiederwahl belohnen und für schlechte Politik durch Wahl der politischen Konkurrenten, die Besseres versprechen, bestrafen. Das Volk soll – mit den Worten des Philosophen Karl Raimund Popper – schlechte Regierungen ohne Blutvergießen wieder loswerden können.

      Das bundesdeutsche System verwehrt es dem Bürger nicht nur, seine Abgeordneten zu wählen oder abzuwählen und sie dadurch für ihr Tun zur Verantwortung zu ziehen. Es macht es dem Bürger ebenso unmöglich, bestimmte Parteien und die von ihnen gebildeten Regierungen politisch verantwortlich zu machen. Regierungen kommen – bedingt durch das Wahlrecht – regelmäßig nur durch Koalitionen von zwei oder mehr Parteien zustande. Wem dann welcher Teil der Regierungspolitik zu verdanken ist, kann der Wähler meist kaum ausmachen. Hinzu kommt, dass der Bundesrat, also die Länderkammer, fast allen wichtigen Bundesgesetzen zustimmen muss, und der Bundesrat ist meist mehrheitlich in der Hand der Opposition. Wer aber ist für ein von der Regierungsmehrheit mit dem Bundesrat ausgehandeltes Gesetz dann dem Bürger politisch verantwortlich? Wenn Regierung und Opposition Maßnahmen zugestimmt haben, die der Bürger ablehnt, wen soll er dann noch wählen bzw. abwählen? Die politische Verantwortlichkeit verflüchtigt sich.

      Selbst wer die Regierung bildet und den Bundeskanzler stellt, befindet oft nicht mehr der Wähler selbst. Denn die dafür nötigen Koalitionsabsprachen werden oft erst nach der Wahl getroffen oder jedenfalls dem Wähler offenbart. Die FDP, die durch ihre Koalitionsentscheidung wahrscheinlich darüber bestimmen wird, ob Kanzler Schröder oder sein Herausforderer Stoiber mit ihr nach der Bundestagswahl ins Koalitionsbett steigen und die Regierung bilden darf, hat den Verzicht auf jede vorherige Koalitionsaussage geradezu zum Bestandteil ihrer Wahlstrategie gemacht. Wer die FDP am 22. September wählt, weiß im Vorhinein also gar nicht, wem er damit zur Kanzlerschaft verhilft. Auch über andere Koalitionsmöglichkeiten, etwa unter Einbeziehung der PDS oder gar eine große Koalition wird erst nach den Wahlen entschieden, ohne dass der Wähler darauf dann noch einwirken könnte.

      Wird es für den Wähler aber zunehmend unmöglich, zwischen den einzelnen Parteien, die sich sowieso immer ähnlicher werden, zu unterscheiden, ihnen bestimmte politische Maßnahmen zuzurechnen und sie dafür verantwortlich zu machen, sollte eigentlich die Bestimmung der Personen, welche ihn in den Parlamenten vertreten sollen und die Ämter übernehmen, in den Vordergrund treten. Doch gerade darüber kann der Bürger, wie dargelegt, nicht entscheiden. Hier schließt sich also der Teufelskreis. Damit droht die ganze Konzeption von der repräsentativen Demokratie, wie sie der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegt, ihr Fundament zu verlieren. Von den Parteien aufgezwungenen "Repräsentan- ten" begegnen die Bürger ganz natürlich mit Vorbehalten und Misstrauen. Voraussetzung dafür, dass die Wähler die Abgeordneten als ihre Reprä- sentanten und die von ihnen getroffenen Entscheidungen als bindende Gesetze anerkennen, ist ja doch, dass die Bürger ihre Vertreter wirklich gewählt haben, frei und unmittelbar. Genau das ist aber eben nicht der Fall. So lange das Wahlrecht nicht reformiert wird, haben wir nur eine Schein- repräsentation ohne wirkliche Repräsentanten und ohne Repräsentierte.

      Abhilfemöglichkeiten

      Wie könnte man den fundamentalen Mängeln unseres Wahlsystems abhelfen? Ein (ziemlich weitgehender) Weg wäre die Einführung der relativen Mehrheitswahl wie in Großbritannien. Dann würden die Wähler entscheiden, wer die Regierung bildet und nicht die Parteien nach der Wahl. Das hat Karl Popper der Bundesrepublik zur Wiederherstellung verantwortlicher Politik ausdrücklich empfohlen, und Altkanzler Helmut Schmitt hat sich dem nachdrücklich angeschlossen.

      Ein weiterer Weg wäre die Einführung von Vorwahlen der Kandidaten, wie sie zum Beispiel Müntefering vor zwei Jahren in die öffentliche Diskussion gebracht hatte, damit aber in seiner Partei aufgelaufen war. Vorwahlen würden verhindern, dass Parteien in ihren Hochburgen den Bürgern die Abgeordneten diktieren.

      In jedem Fall müsste man die starren Wahllisten flexibilisieren, damit die Wähler bestimmte Kandidaten auf den Listen vorziehen und andere zurückstellen können, wie dies viele andere westlichen Demokratien praktizieren. Und auch wir haben Derartiges schon auf Kommunal- und teilweise auch auf Landesebene. Sichere Listenplätze gäbe es dann nicht mehr. Die Dominanz der Parteien würde zugunsten der Bürger zurückgedrängt, und die Parteien würden bei der Wahl nur noch an der Willensbildung des Volkes mitwirken (wie es das Grundgesetz bestimmt), statt diese zu beherrschen.



      (aus: Die Welt vom 21.8.2002, S. 9)



      Quelle: http://www.hfv-speyer.de/VONARNIM/Wahl%20ohne%20Auswahl.htm
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      schrieb am 22.11.02 21:49:52
      Beitrag Nr. 3 ()
      Hans Herbert von Arnim

      Das Parteienkartell lähmt die Republik Zwölf Thesen zum Zustand der Republik

      1. Lange hat der Ost-West-Gegensatz eine kritische Diskussion des Parteienstaates im Westen erschwert, war er doch im Vergleich zum Kommunismus immer noch die bessere Alternative. Erst der Zusammenbruch des östlichen Totalitarismus hat den Weg für eine unbefangene Kritik des bundesdeutschen Systems freigemacht. Nun konnte man den Kritikern nicht mehr vorwerfen, sie würden dem Kommunismus in die Hände arbeiten. Skandalöse Vorkomm- nisse der letzten Jahre haben weitere Anstöße zur kritischen Reflexion gegeben. Die Flick-Affäre, das "System Kohl", der Berliner Landowski-Skandal, der Spenden- und Korruptionssumpf in Köln und Wuppertal sind ja in Wahrheit keine Einzelfälle, sondern krasse Erscheinungsformen eines – normalerweise sorgfältig verborgenen – Schattensystems hinter der offiziellen Fassade.

      2. Das Grundgesetz und die öffentliche Meinung verlangen, dass alle Amtsträger sich am Gemeinwohl orientieren. In Sonntagsreden wird auch die Politik selbst nicht müde, dieses Ziel zu beschwören. Tatsächlich pflegen Berufspolitiker aber vor allem ihren Eigenin- teressen zu folgen und bilden insofern eine "politische Klasse". Politik ist – immer schon – vorrangig Kampf um Macht, Posten und Geld.

      3. Machtstreben ist allerdings nichts unbedingt Schlechtes. Solange die Politik nämlich für neue Kräfte offen ist, halten die konkur- rierenden Lager sich einigermaßen in Schach, und der Wettbewerb zwingt sie, sich an den Wünschen der Wähler auszurichten. Doch in der Bundesrepublik ist der Wettbewerb massiv eingeschränkt, so dass auch seine Steuerungsfunktion verloren geht. Wie Unterneh- mer in der Wirtschaft, so neigen auch Politiker zur Bildung von Kartellen, die sich wie ein lähmendes Netz über die Republik legen.

      4. Ursächlich für schlechte Politik sind vor allem Mängel des Systems, und auch dafür sind die Parteien und ihre politische Klasse verantwortlich. Diese sind nämlich nicht nur Teilnehmer am politischen Kräftespiel. In parteiübergreifender Einigkeit gestalten sie vielmehr auch die Spielregeln, also den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen Politik sich abspielt. Sie sitzen mitten im Staat an den Hebeln der Macht und entscheiden über Gesetze und Haus- haltspläne, ja sogar über die Verfassung. Sie haben das Monopol über alle wesentlichen Entscheidungen. „Volkssouveränität“, wie sie die Verfassung proklamiert, ist nur noch ein schöner Schein. Damit liegt das ganze System in den Händen der politischen Klasse und wird nach ihren Interessen geformt. Warum auch sollten Berufs- politiker sich ausgerechnet dann nicht von ihren Eigeninteressen leiten lassen, wenn es um das in ihren Augen Wichtigste geht, nämlich darum, wie politische Macht erworben und behalten wird? Mängel und Deformationen unseres Systems sind also nicht vom Himmel gefallen, sondern das Werk jener, die sich im Zentrum der Macht eingerichtet haben.

      5. Beispiele für systemverändernde politische Kartelle sind selbst bewilligte Steuergelder für Parteien und üppige Versorgungen von Politikern. Die deutschen Parteien haben ihre Subventionierung als erste in Europa eingeführt, und, nachdem das Bundesverfassungs- gericht dem anschwellenden Strom Grenzen gezogen hatte, leiteten sie die Staatsmittel auf ihre Parlamentsfraktionen und Parteistif- tungen um, die heute mehr Geld bekommen als die eigentlichen Parteien. Zusätzlich werden hunderte von Millionen für Abgeord- netenmitarbeiter bereitgestellt, die in Wahrheit für Parteizwecke eingesetzt werden. Die Mitglieder der viel zu großen Landespar- lamente haben sich zu vollbezahlten und überversorgten Berufs- politikern gemacht, obwohl ihre Aufgaben ständig abnehmen und sie heute oft weniger zu tun haben als Großstadtvertreter. Auch gegen massenhafte Postenschieberei mit ihren fatalen Wirkungen (wie Verschlechterung und Aufblähung der Bürokratie und Ver- trauensverlust der Bürger) wird nichts Wirksames unternommen, weil alle Etablierten sie unter der Hand selbst praktizieren und sich so den Staat zur Beute machen. Ähnlich ist es mit politischer Korruption im weitesten Sinn. Parteien können (nach selbst gemachten Gesetzen) "ganz legal" bestochen und Abgeordnete gekauft werden.

      6. Sogar das Königsrecht der Bürger in der Demokratie, das Wah- lrecht, hat die politische Klasse zu ihren Gunsten manipuliert: Bedingt durch selbst gemachte Wahlgesetze stehen die meisten Parlamentsabgeordneten schon lange vor der Wahl fest. Für Kandidaten, die die Parteien auf "sichere Plätze" gesetzt haben, ist die Volkswahl nur noch Formsache. Sogar wer die Regierung und den Kanzler stellt, entscheiden meist nicht die Wähler, sondern die Parteien durch Koalitionsvereinbarungen nach der Wahl. Ob die FDP nach dem 22. September eine Koalition mit der SPD oder der Union eingeht, lässt sie erklärtermaßen offen. Genau davon hängt aber wahrscheinlich ab, ob Schröder oder Stoiber die neue Bundesregierung führen wird. Durch die Vielzahl von Wahlen wird den Bürgern zwar suggeriert, sie hätten unheimlich viel zu sagen. Doch in Wahrheit trifft die politische Klasse die Schlüsselent- scheidungen ganz allein. Die Folge des schleichenden Demokratie- verlustes ist eine Verflüchtigung der politischen Verantwortung der Repräsentanten gegenüber dem Volk.

      7. Zur organisierten Unverantwortlichkeit trägt auch ein pervertierter Föderalismus bei: Den wichtigsten Bundesgesetzen muss der Bundesrat zustimmen. Der aber ist mehrheitlich meist in der Hand der Opposition. Wen soll der Wähler, der die Gesetzesprodukte von Regierung und Opposition ablehnt, dann noch wählen? Wie kann er seiner Unzufriedenheit noch sinnvoll Ausdruck geben? Auch auf Landesebene werden fast alle Fragen in länderübergreifenden Gremien wie der Kultusministerkonferenz abgestimmt, die einstimmig entscheidet. Wenn aber alle Verantwortung tragen, trägt sie niemand wirklich. Damit versagt das Steuerungsinstrument Wettbewerb auch hier.

      8. Die Konsequenzen könnten nicht gravierender sein: Die Probleme des Gemeinwesens werden nicht gelöst, und der „Reformstau“ wächst. Statt dessen ergeht sich die Politik – durch bestimmte Medien begünstigt – in Inszenierungen und symbolischer Politik. Das "So tun, als ob-Prinzip" feiert Triumphe. So hat die Pisa-Studie zwar zu einem öffentlichen Aufschrei geführt. Doch dass etwas Durchgreifendes geschieht, muss bezweifelt werden. Der schlechte Zustand unserer Bildungseinrichtungen ist ja schon seit Jahren bekannt – spätestens seit der TIMSS-Studie. Und dass die Hartz-Kommission ihre (in Wahrheit gar nicht so neuen) Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erst am Ende der Wahlperiode vorlegt, kommt der Politik nur zu pass: Jetzt kann man Versprechungen machen, auch wenn man sie nach der Wahl nicht hält. Roman Herzog hatte schon in seiner Berliner Rede vom 26. April 1997 festgestellt, in Deutschland bestehe hinsichtlich der nötigen Reformen kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungs- problem. Doch die eigentlichen Ursachen für die mangelnde Reform- fähigkeit, die auch Herzog erst neuerdings (und fast nebenbei) anzusprechen wagt, werden in der öffentlichen Diskussion sträflich vernachlässigt: die Mängel des Systems.

      9. Die wahre Situation unseres Gemeinwesens auch nur zu erfassen wird durch ritualisierte "politische Formeln" wie "Volkssouveränität" und "Repräsentation" erschwert. Überkommene politische Theorien, die quasi als Brillen fungieren, mit denen wir Staat, Demokratie und Politik wahrnehmen, sind verzerrt. Ihre Vertreter stehen im Dienst des Systems und scheuen sich, seine Mängel beim Namen zu nennen. Der Arm der politischen Klasse reicht weit und beeinflusst die herrschende Denkweise von Staats- und Politikwissenschaften. So hat der einflussreiche frühere Verfassungsrechtler Gerhard Leibholz großen intellektuellen Schaden angerichtet. Trotz (oder gerade wegen) seiner überzogenen Parteienstaatslehre beriefen die Parteien ihn ins Bundesverfassungsgericht, dem er anfangs seine Lehre ebenfalls unterschob. Leibholz hatte Parteien, Staat und Volk gleichgesetzt und es durch diese Fiktion ermöglicht, dass selbst Übergriffe der Parteien als "demokratisch" verklärt wurden.

      10. Die Parteien tun einerseits zu wenig, andererseits zu viel – und jeweils an der falschen Stelle: Die Parteien haben die Rekrutierung des politischen Nachwuchses bei sich monopolisiert, erfüllen diese wichtige Aufgabe aber nur ungenügend. Die Parlamente bestehen schon lange nicht mehr aus den "Besten der Nation". Als Vorbe- dingung für ein Parlamentsmandat verlangen die Parteien von ihren Kandidaten jahrelangen Einsatz vor Ort. Statt offener Wettbewerb entscheiden über den Erfolg politische Verbindungen und Kungelei. Fähige Leute mit Alternativen in anderen Berufen (sogenannte Seiteneinsteiger) werden eher abgeschreckt.

      Die Parteien stellen nicht nur das Parlament und die Regierung, sondern nehmen in Deutschland auch da Einfluss, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Sie durchsetzen alle möglichen Kontrollinstanzen mit ihren Parteigängern und suchen sie bis zu einem gewissen Grad gleichzuschalten. Betroffen sind vor allem:

      – hohe Gerichte, vor allem Verfassungsgerichte,

      – die Spitzen der Rechnungshöfe,

      – wichtige Positionen in den öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehanstalten,

      – der öffentliche Dienst insgesamt, manchmal bis hinunter zum Pförtner,

      – Führungspositionen in öffentlichen Unternehmen,

      – Spitzenpositionen in Schulen und allmählich auch in den Universitäten,

      – Sachverständigenkommissionen und sonstige Gremien der wissenschaftlichen Politikberatung und vor allem

      – Einrichtungen der sogenannten politischen Bildung.

      Auf diese Weise bestimmt die politische Klasse die Grammatik der politischen Korrektheit und damit auch den Rahmen für erlaubte öffentliche Themen und Diskurse. Systemkritik gilt als inkorrekt – trotz des verbreiteten Gefühls, dass etwas faul ist im Staate. Das macht es fast unmöglich, die große Lücke zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen demokratischer Idee und bundesrepu- blikanischer Praxis, überhaupt noch wahrzunehmen. Eine an die Wurzel gehende Analyse muss deshalb auch die herrschenden Theorien über Staat, Demokratie und Politik in die Kritik mitein- beziehen. Erforderlich ist ein intellektueller Kraftakt. Am Ende müssen dann Elemente einer erneuerten Theorie der repräsen- tativen Demokratie stehen, die nicht die politische Klasse in den Mittelpunkt stellt, sondern die Bürger.

      11. Da die Verzerrungen die Strukturen der politischen Willensbildung betreffen, setzen wirkliche Verbesserungen ihre Entzerrung voraus. Es bedarf der systemischen Restrukturierung. Nur mittels eines kontrollierten Systemwandels wird es möglich sein, die Grund- prinzipien der Demokratie in deutlich höherem Maße zu verwirk- lichen als bisher. Gegen Auswüchse des Parteienstaates gibt es am Ende nur ein wirksames und zugleich demokratisches Gegen- gewicht: das Volk selbst. Wenn der repräsentative Ansatz nicht voll trägt, weil die Repräsentanten sich nicht mehr am Gemeinwohl orientieren; wenn der indirekte Weg, dem Willen des Volkes Geltung zu verschaffen, nämlich der politische Wettbewerb, durch Kartelle verstopft ist, drängt sich der direkte Weg umso mehr auf: die unmittelbare Demokratie durch Volksbegehren, Volksentscheid, Initiative und Referendum. Diese Institutionen können und sollen die repräsentative Demokratie zwar nicht ersetzen, würden sie aber sinnvoll ergänzen. Um dem Volk mehr Einfluss zu geben, brauchen wir grundlegende Verfassungsänderungen, wozu auch ein Wahl- recht gehört, mit dem die Bürger ihre Repräsentanten in den Parlamenten und an der Spitze des Staats wirklich auswählen (und für gute oder schlechte Politik verantwortlich machen) können.

      12. Aus eigener Kraft wird die etablierte Politik Reformen des Systems kaum verwirklichen können. Gerade in diesem Punkt ist die Reformblockade besonders ausgeprägt. Die Interessen, die das System verdorben haben, wehren sich auch gegen seine Verbesserung. Zur Umsetzung der nötigen Reformen kommen deshalb wohl nur drei Möglichkeiten in Betracht:



      – die Nutzung des Artikels 146 Grundgesetz, der eine neue Verfassung verheißt, zum Zwecke der legalen "Revolution",

      – die Schaffung einer Protest- und wirklichen Reformpartei und/oder

      – die Durchsetzung von Strukturreformen mittels Volksbegehren und Volksentscheid, also an den Eigeninteressen der politischen Klasse vorbei, zunächst in den Bundesländern, wo derartige Formen der direkten Demokratie schon jetzt offen stehen

      Die zwölf Thesen beruhen auf dem Buch "Das System. Die Machenschaften der Macht", Droemer Verlag München.

      (aus: Die Welt vom 27.7.2002)


      Quelle: http://www.hfv-speyer.de/VONARNIM/Das%20Parteienkartell%20la…
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      schrieb am 22.11.02 21:51:36
      Beitrag Nr. 4 ()
      Das ist mein Mann! :cool:

      Hans Herbert von Arnim

      Reformstau durch Föderalismus
      Der Föderalismus befindet sich in einer ausgesprochenen Sinnkrise. Repräsentative Demokratie bedeutet nach der so genannten Lincolnschen Formel Regierung durch das Volk und für das Volk. Der Sinn des Bundesstaats besteht darin, von beidem mehr zu erreichen: Durch Aufteilung der Kompetenzen auf Bund und Länder sollen mehr Bürgernähe und mehr politische Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. Doch die Idee verkehrt sich in der bundesrepublikanischen Realität in ihr Gegenteil. Bei uns entmachtet der Föderalismus Parlamente und Bürger und führt zu immer größerer Bürgerferne. Die Handlungsfähigkeit der Politik wird vermindert, gelegentlich bis hin zur Lähmung.[1] Dabei geht es um Probleme des Systems. Seine Deformation und die Auflösung zurechenbarer Verantwortung sind – von der Europäischen Union abgesehen – kaum irgendwo derart ausgeprägt wie in dem auf Bismarck zurückgehenden deutschen Exekutivföderalismus. Dies soll – beispielhaft – an zwei Schlüsselthemen illustriert werden, dem Wirken des Bundesrats und der Kultusministerkonferenz.

      Blockadeinstrument Bundesrat
      Die Blockademacht des Bundesrats ist seit dem Scheitern der Steuerreform in der vergangenen Wahlperiode in die öffentliche Diskussion geraten. Im Bundesrat sollen eigentlich Länderinteressen in die Bundespolitik eingebracht werden. Doch wird er zunehmend parteipolitisch instrumentalisiert und hat dadurch eine neue, ihm von den Verfassungsvätern gar nicht zugedachte Rolle erhalten. Eine abweichende parteipolitische Mehrheit im Bundesrat, wie sie allmählich fast zur Regel geworden ist, ist aus machpolitischen Gründen leicht versucht, mit ihrem Veto die Regierungsmehrheit im Bundestag zu blockieren. Und dies ist bei immer mehr Angelegenheiten möglich. Ursprünglich waren nur etwa zehn Prozent der Bundesgesetze "Zustimmungsgesetze", inzwischen sind es über 50 Prozent – und darunter regelmäßig die wichtigsten.

      Kennzeichnend für diese Entwicklung ist ein für den deutschen Föderalismus typischer Mechanismus von Verhandlungen zulasten Dritter: Der Bund erhielt im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Gesetzgebungskompetenzen, was sein Gewicht erhöhte, die Ministerpräsidenten stimmten der dafür erforderlichen Grundgesetzänderung im Bundesrat zwar zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass ebendieser Bundesrat ein Vetorecht bei der Bundesgesetzgebung erhielt, und gewannen dadurch Profilierungsmöglichkeiten auf der Bundesebene.[2] All das ging auf Kosten der Landesparlamente und der diese wählenden Bürger.

      Lähmung der Bundesländer

      Zu ähnlichen Blockaden kommt es in den Bundesländern. Diese tendieren in den ihnen verbliebenen Gesetzgebungsbereichen zu Einheitsregelungen. In dem wichtigsten Länderbereich, der Schul- und Hochschulpolitik, haben sie ihre Kompetenzen praktisch an die Kultusministerkonferenz abgetreten. Deren Beschlüsse sind rechtlich zwar nicht bindend, haben faktisch aber ein großes präjudizierendes Gewicht. Da die Kultusministerkonferenz nur einstimmig entscheidet, kann das kleinste der sechzehn Bundesländer alles blockieren. Das langsamste Schiff bestimmt die Geschwindigkeit des ganzen Geschwaders. Verkrustung und Innovationsmangel sind die Folgen. Welche Konsequenzen dies für die Schulpolitik zeitigt, hat eine internationale Vergleichsuntersuchung in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften schon 1997 gezeigt. Die Leistungen deutscher Schüler sind vergleichsweise niederschmetternd, und die Reaktion der Kultusministerkonferenz war typisch. Statt öffentlich Alarm zu schlagen, hat sie versucht, die Ergebnisse unter der Decke zu halten. Die Ende 2001 vorgelegte Pisa-Studie hat nun die dürftigen Ergebnisse der deutschen Schulausbildung bestätigt – auch für andere Schulfächer.

      Auch sonst wird in fast tausend interföderalen Gremien beinahe alles zwischen den Ländern sowie zwischen Bund und Ländern koordiniert und abgestimmt – mit ähnlich lähmenden Folgen. Da in diesen Gremien fast durchweg Vertreter der Regierungen sitzen und Absprachen treffen, degenerieren die Landesparlamente häufig zu bloßen Vollstreckern der Entscheidungen irgendwelcher Minister- und Beamtenzirkel. Die ins Kraut geschossenen Koordinierungsgremien führen zu einem verschleierten Zentralismus, obwohl meist kein Gesetz und keine Verfassungsvorschrift dazu zwingt.

      An sich hätte man vermutet, dass sich die Landesparlamente gegen die Zentralisierung und die damit verbundene schrittweise Austrocknung ihrer eigenen Kompetenzen zur Wehr setzen. Dabei wird aber übersehen, dass die Landesparlamentarier sich durch Aufblähung ihrer Bezahlung und Versorgung schadlos gehalten haben. Zudem schaltet die Zentralisierung den Leistungswettbewerb zwischen den Ländern aus, und dies entspricht durchaus den Eigeninteressen von Berufspolitikern. Denn dann können sie für politische Fehlleistungen nicht mehr verantwortlich gemacht werden.

      So fatal dieses System für die Allgemeinheit ist, so sehr kommt es den Eigeninteressen der politischen Klasse entgegen. Es herrschen "credit claiming" und "scapegoating", Begriffe, die soviel bedeuten wie: Erfolge rechnet sich jeder zu, und für Misserfolge sind immer die anderen verantwortlich. Mangels wirklicher öffentlicher Zurechenbarkeit von politischen Leistungen und von politischem Versagen werden Bürger und Wähler vollends orientierungslos. Wo alle Verantwortung tragen, trägt niemand Verantwortung. Die vielfachen Verflechtungen führen letztlich zu "organisierter Unverantwortlichkeit".

      Reformbedarf anerkannt

      Diese Mängel zu beheben verlangt eine grundlegende Reform. Der Reformbedarf wird inzwischen fast durchgehend erkannt – nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von Politikern selbst. Während früher gewisse Mängel des politischen Entscheidungsverfahrens hingenommen werden konnten – angesichts der Produktivität und des Wachstums blieb immer noch genug für das Notwendige übrig –, hat sich die Situation heute grundlegend geändert. Das hängt mit dem nachlassenden Wirtschaftswachstum, den größeren Lasten infolge der deutschen Vereinigung und der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, aber auch mit den demographischen Umschichtungen zusammen. Hinzu kommen der stärkere Wettbewerbsdruck durch Europäisierung und Globalisierung und – seit dem 11. September 2001 – ganz neue Anforderungen an die öffentliche Sicherheit. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass die Mängel der politischen Willensbildung, die inzwischen geradezu eine Art Standortnachteil der Bundesrepublik Deutschland begründen, immer empfindlicher registriert werden.

      Die Reformvorschläge betreffen vor allem fünf Aspekte:

      - den Abbau der so genannten Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern,

      - die Reform der Finanzverfassung, insbesondere den Abbau der Mischfinanzierung und die Neuaufteilung der Steuerhoheit zu Gunsten der Länder,

      - die Ausweitung der im Laufe der Zeit immer dürftiger gewordenen Gesetzgebungskompetenzen der Länder,

      - die Stärkung der an Bedeutungsverlust leidenden Landtage und

      - die Verbesserung des bundespolitischen Entscheidungsverfahrens, etwa durch Verringerung der Kompetenzen des Bundesrats.

      Wir finden also eine weitgehende Übereinstimmung in zwei Themenbereichen vor: Fehlfunktionen des Föderalismus und – daraus resultierend – dringender Reformbedarf.

      Ausblendung von Schlüsselfragen

      Gleichzeitig werden zwei weitere, besonders heikle, aber auch wichtige Themenbereiche ignoriert oder unterdrückt. Im „Mainstream“ der politischen und wissenschaftlichen Äußerungen bleiben sie jedenfalls regelmäßig ungenannt. Der eine betrifft die Frage, wodurch die Fehlentwicklung der föderalistischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland eigentlich entstanden ist, welches also die wirklichen Triebkräfte und die Motive der Politiker waren und sind. Geht man dieser Frage unvoreingenommen nach, so gelangt man zu den schon erwähnten Eigeninteressen der politischen Akteure. Die Verteilung der Verantwortung auf möglichst viele Schultern ist für alle beteiligten Politiker nun einmal sehr bequem, weil sie ihre Stellung sichert und sie gegen mögliche Vorwürfe und Angriffe immunisiert.

      Doch Hinweise auf die Eigeninteressen der politischen Klasse als eigentlicher Motor für die Fehlentwicklungen findet man in fast keiner der großen bundesdeutschen Untersuchungen, und wenn dieses Motiv doch einmal genannt wird, dann eher von Außenseitern.[3] Das dürfte wiederum zwei Gründe haben, die sich gegenseitig verstärken: eine gewisse Naivität des Menschenbildes mancher Autoren, gepaart mit methodenbedingter Analyseschwäche, und die in Deutschland unter vielen Gesellschafts- und Rechtswissenschaftlern verbreitete Abneigung, Politikern zu nahe zu treten. Es gilt immer noch als "politisch inkorrekt", die Eigeninteressen der politischen Klasse und ihren Einfluss auf deren Verhalten beim Namen zu nennen. Man nimmt die Gemeinwohlorientierung, welche die Amtsträger regelmäßig für sich reklamieren, für bare Münze und traut sich nicht zu sagen, dass des Kaisers neue Kleider gar keine sind und er in Wahrheit nackt dasteht. Symptomatisch sind Studien der Bertelsmann Stiftung[4] und der Friedrich-Naumann-Stiftung.[5] Obwohl die Autoren beider Studien ansonsten kein Blatt vor den Mund nehmen und viele Mängel deutlich herausstellen, fehlt die Frage nach den inneren Gründen für die bisherigen Fehlentwicklungen völlig (und die Antwort natürlich erst recht).

      Die Eigeninteressen sind auch die eigentliche Ursache für den Widerspruch zwischen der ausgeprägten Reformrhetorik und der dürftigen Reformpraxis. Die Politik reagiert durch Reden statt durch Tun. Man gibt sich – auch hier – gemeinwohlorientiert, handelt mehrheitlich aber ganz anders. Das wird bei den schon erwähnten Landesparlamenten deutlich.[6] Man vergießt Krokodilstränen über die eigene Entmachtung. In Wahrheit fühlt sich das Gros offenbar ganz wohl dabei, dass man keine oder wenig politische Verantwortung zu übernehmen braucht.

      Ein weiteres Beispiel, wie Reformbemühungen und Reformansätze in der Praxis leicht versanden, ist die Reform des Finanzausgleichs, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil von 1999 anstoßen wollte. Das Urteil hatte manche Hoffnung auf eine umfassende Reform genährt. Doch was ist daraus geworden? Die dann zwei Jahre später beschlossene "Reform" verdient diesen Namen nicht. Sie wurde im übrigen dadurch noch zusätzlich erschwert, dass Bundeskanzler Schröder und Bundesfinanz- minister Eichel Ländern wie Berlin, Brandenburg, Bremen und Hamburg vorab den Fortbestand überholter Privilegien zugesagt haben, um diese Länder dazu zu bewegen, ihrer Steuerreform im Bundesrat zuzustimmen. Hier wird deutlich, wie sich Reformdefizite immer weiter aufschaukeln. Mit jeder Bewegung sinkt das Gemeinwesen tiefer in den Sumpf: Die unterbliebene Neugliederung des Bundesgebiets lässt etwa die Stadtstaaten als selbständige Bundesländer fortbestehen, obwohl keines der verschiedenen Neugliederungskonzepte sie für erhaltenswert erklärt hat. Dieser "Anachronismus" (Ingo von Münch) steht nun einer wirklichen Reform des Finanzausgleichs im Wege; über ihre Vetoposition im Bundesrat verschaffen jene Länder selbst ihren überholtesten Belangen Geltung.

      Die zweite in den Analysen regelmäßig unterdrückte Frage ist, ob die Länder nach einer Rückübertragung von Kompetenzen überhaupt in der Lage sind, davon sinnvollen Gebrauch zu machen. Die Kompetenzen waren früher ja auch aus dem Grund auf den Bund übertragen worden, weil die Länder versagt hatten. Was zuallererst nötig wäre, ist deshalb eine grundlegende Verfassungsreform der Bundesländer, welche deren Handlungsfähigkeit wiederherstellt und ihre Bürgernähe erhöht. Dadurch würden die Länder erst in die Lage versetzt, von den auf sie zurückzuübertragenden Kompetenzen sinnvoll Gebrauch zu machen.

      Vordringlich: Reform der Landesverfassungen

      Man sollte mit der erforderlichen Systemreform auch deshalb auf Landesebene beginnen, weil dort mit Hilfe von Volksbegehren und Volksentscheid auch solche Änderungen möglich sind, welche die politische Klasse auf Grund ihrer Eigeninteressen sonst leicht hintertreibt. Inzwischen sehen alle sechzehn Länder die Möglichkeit unmittelbarer Volksgesetzgebung vor, und in den meisten Ländern kann man auf diesem Wege auch die Verfassung ändern.

      Das von mir vorgestellte Reformmodell für Landesverfassungen zur Herstellung von politischer Handlungsfähigkeit und Bürgernähe[7] erhält denn auch immer mehr Zustimmung seitens der Wissenschaft[8] und teilweise auch von Spitzenpolitikern.[9] Dieses Modell beinhaltet:

      • die Direktwahl des Ministerpräsidenten durch das Volk,

      • Verbesserungen des Wahlrechts zum Landesparlament und

      • einige weitere aus dem Systemwechsel folgende Änderungen.

      Das Erfolgsmodell der Direktwahl der Exekutivspitze sollte von den Gemeinden, Städten und Landkreisen auf die Länder übertragen werden. Der Unterschied zwischen einem Stadtstaat wie Hamburg und anderen deutschen Großstädten wie Hannover, Köln, München oder Stuttgart ist ohnehin so groß nicht.

      Dass die ganz große Mehrheit der Menschen eine solche Reform wünscht, steht ohnehin fest: Die TED-Umfrage einer rheinland-pfälzischen Zeitung ergab eine Zustimmungsrate zur Direktwahl des Ministerpräsidenten von 89 Prozent, eine Mehrheit also, die an die 82 Prozent erinnert, die sich im hessischen Referendum von 1991 für die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte aussprachen.

      Man stelle sich einmal vor, das Reformmodell hätte es bereits in Hamburg und Berlin gegeben, als dort im September und im Oktober 2001 Wahlen stattfanden. Dann wäre uns die Peinlichkeit erspart geblieben, dass der Hamburger CDU-Spitzenkandidat, Ole von Beust, nun die dortige, höchst wackelige Regierung führt, obwohl seine Partei nur 26 Prozent der Stimmen bekam. Auch in Berlin würde ein direkt gewählter Regierender Bürgermeister eine ganz andere demokratische Legitimation besitzen als Klaus Wowereit mit seiner SPD/PDS-Koalition. Und in Sachsen würde der neue Ministerpräsident Milbrath als Nachfolger von Biedenkopf nicht allein von seiner Partei, der CDU, bestimmt, sondern vom Volk, wie es sich in einer Demokratie gehört.

      Ein direkt gewählter Regierungschef hätte gegenüber seiner Partei eine stärkere Stellung. Er ließe sich auch im Bundesrat nicht mehr so leicht parteilich einbinden, und das Problem der gespaltenen Stimmenabgabe eines Landes im Bundesrat entfiele dann ohnehin.

      Gelänge es eine solche Reform auch nur in einem Lande durchzusetzen, könnte dies eine Aufbruchstimmung erzeugen, die leicht auf andere Länder und den Bund überschwappen und auch dort die Reformbereitschaft sprunghaft erhöhen würde.[10]

      Von allein kommen solche Reformen gegen den Widerstand der politischen Klasse allerdings nicht zustande. Es gilt deshalb, aus der Bürgerperspektive eine Strategie zur Durchsetzung der Reform zu entwickeln. Wir kommen an der Erkenntnis nicht mehr vorbei, dass dies "unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, dass auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde" (Karl Raimund Popper). Politik ist zu wichtig, als dass man sie allein den Berufspolitikern überlassen könnte.



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      [1] Dies ist das Fazit meines Buchs "Vom schönen Schein der Demokratie", 2000, auf das dieser Beitrag auch sonst vielfach zurückgreift. Siehe auch die Taschenbuchausgabe (2002) mit aktuellem Nachwort und Hans Herbert von Arnim/Gisela Färber/Stefan Fisch (Hg.), Föderalismus. Hält er noch, was er verspricht?, 2000.

      [2] Dies ist allerdings nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Grund für die Zunahme der Zustimmungsgesetze. Siehe von Arnim, Vom schönen Schein, a.a.O., 86 f., 110 f.

      [3] So zum Beispiel von Roland Vaubel, The Political Economy of Centralization and the European Community, Public Choice 1994, 151 (153 ff.); Reiner Eichenberger, Der Zentralisierung Zähmung. Die Föderalismusdiskussion aus politisch-ökonomischer Perspektive, in: Christoph Engel/Martin Morlok (Hg.), Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, 157 (159 ff.); Charles B. Blankart, Politische Ökonomie der Zentralisierung der Staatstätigkeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Discussion Paper – Economic Series – Nr. 108, 1998, 6 f.; Hans Meyer (Diskussionsbeitrag), Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 58 (1999), 114 (115).

      [4] Hans-Wolfgang Arndt/Ernst Benda u.a., Zehn Vorschläge zur Reform des deutschen Föderalismus, Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, 201; siehe auch Bertelsmann-Kommission "Verfassungspolitik und Regierungs- fähigkeit" (Hg.), Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Gliedstaaten, 2001. Man beschränkt sich vielmehr auf Appelle und vage Hoffnungen: "Die Autoren gehen davon aus, dass der Mut zu Reformen in weiten Kreisen und in der Bevölkerung zunimmt." (Zehn Vorschläge, a.a.O., 206).

      [5] Für einen reformfähigen Bundesstaat: Die Landtage stärken, den Bundesrat erneuern. Ein Manifest der Föderalismus-Kommission der Friedrich-Naumann-Stiftung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.1.2002.

      [6] Ursula Münch/Tanja Zinterer, Reform der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2000, 657 (667), beschreiben dies unter der Überschrift "Lethargische Landtage". Auch Albert Janssen bestätigt, dass von Seiten der Landesparlamente "kein wirkliches Interesse an entsprechenden Reformen" besteht (Janssen, Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Hans-Günter Henneke (Hg.), Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU, 2001, 59 [87]). Das zeigt sich besonders in der laschen Behandlung des von den Direktoren der Landesparlamente erarbeiteten Reformentwurfs durch die Landtagspräsidenten (siehe Sonderheft der Zeitschrift für Gesetzgebung 2000 zum Thema "Stärkung des Föderalismus. Text und Kommentierung des am 23. Mai 2000 von den Präsidenten der deutschen Landesparlamente beschlossenen Diskussionspapiers").

      [7] Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener (1993), Taschenbuchausgabe 1995, 344 ff.; ders., Ein demokratischer Urknall, Der Spiegel vom 20.12.1993, 35 ff.; ders., Das System, 2001, 336 ff., 367 ff. Dort und bei den in der folgenden Anmerkung Genannten findet sich auch eine ausführliche Darstellung der vielfältigen voraussichtlichen Auswirkungen eines derartigen Systemwechsels, die im vorliegenden Beitrag nicht möglich ist.

      [8] Zum Beispiel Hans Heinrich Rupp, Politische Teilhabe – Politische Kultur, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1993/2, 111 (118); Hans Meyer in: Broschüre der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag "Parlamentarische Reformen", 1996; Frankfurter Intervention, Wege aus der Krise des Parteienstaats, Recht und Politik 1995, 16; Klaus Escher, Für Teilzeit-Landtage und Direktwahlen, Focus 1997/32, S. 50; Hans-Horst Giesing, Kritische Fragen zum Föderalismus, in: von Arnim (Hg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für "gute" und bürgernahe Politik?, 1999, 75 Fried Esterbauer, Volkswahl der Regierung?, in: von Arnim (Hg.), Direkte Demokratie, 2000, 161; Brun-Otto Bryde, Die Reform der Landesverfassungen, in: von Arnim (Hg.), Direkte Demokratie, 2000, 147; Frank Decker, Direktwahl des Ministerpräsidenten?, Recht und Politik 2001, 51; Albert Janssen, a.a.O., 74 ff. Die Vorgenannten setzen sich auch mit den Einwänden etwa von Hans Hugo Klein, Direktwahl der Ministerpräsidenten?, Festschrift für Martin Kriele, 1997, 573 ff., auseinander.

      [9] Zustimmung zur Direktwahl von Ministerpräsidenten haben zum Beispiel geäußert: der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe, der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel (mit Einschränkungen) und der frühere Hamburger Erste Bürgermeister Henning Voscherau. Ablehnend dagegen zum Beispiel der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, der frühere hessische Ministerpräsident und jetzige Bundesfinanzminister Hans Eichel und der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident und jetzige Bundespräsident Johannes Rau.

      [10] Föderalismusforscher wie Gerhard Lehmbruch und Fritz Scharpf gehen allerdings davon aus, es sei ohnehin nicht viel an Reformen möglich und schon gar keine Systemreformen. Insofern nehmen wir einen optimistischeren Standpunkt ein.

      (Aus: Wirtschaftsdienst 2002, S. 193-197)




      Quelle: http://www.hfv-speyer.de/VONARNIM/foederalismusaktuell.htm
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 21:54:13
      Beitrag Nr. 5 ()
      Nur für Viel-Leser! ;)


      N e w s & E v e n t s

      Experten nehmen Parteien in die Pflicht
      "Deutschland-Dialog der neuen Generation" der Forschungsgruppe Deutschland am 14. und 15. November 2002 in München.

      18.11.2002 - Forschungsgruppe Deutschland


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      Die Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland, Dr. Manuela Glaab, und Prof. Dr. Elmar Wiesendahl von der Universität der Bundeswehr in München.
      Foto: [meteme.de]


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      Immer mehr Bürger sehen sich durch die Parteien nicht mehr angemessen repräsentiert. Immer öfter versuchen Interessenorganisationen aus Gesellschaft und Wirtschaft ihren Anliegen an den Parteien vorbei politisches Gewicht zu verleihen. Die Kritik an den deutschen Parteien wächst von Tag zu Tag, sie drohen im fortschreitenden Gesellschaftswandel marginalisiert zu werden. Ob die Parteien für die neuen Herausforderungen gerüstet sind oder ob die Parteiendemokratie in Deutschland nicht vielmehr generell an ihre Grenzen gestoßen ist, diskutierten am 14. und 15. November Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft auf Einladung der Forschungsgruppe Deutschland am Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) im Rahmen des "Deutschland-Dialoges der neuen Generation 2002".

      Professor Wiesendahl von der Universität der Bundeswehr München betonte, dass sich das deutsche Parteiensystem von der Wählerschaft abgekoppelt habe. Es existiere ein verharzter Parteienstaat ohne demokratische Anbindung. Wiesendahls Fazit, das Modell der Mitgliederpartei sei ein "historisches Auslaufmodell", wollte sich jedoch Andreas Kießling von der Forschungsgruppe Deutschland nicht uneingeschränkt anschließen. Als eine von möglichen alternativen Trendoptionen des deutschen Parteiensystems formulierte er die Möglichkeit einer Revitalisierung genau diesen Parteitypus. Er verwies damit vor allem auf die notwendige Verbesserung der Mitgliederbetreuung der Parteien. Dem Einwurf, die Parteien selbst würden zu wenig Anreize zur aktiven Mitarbeit bieten und außerdem durch "Geheimrituale" gerade auf lokaler Ebene auch viele junge Interessenten abgeschrecken, stellte Wiesendahl die These der "apathischen Gesellschaft" gegenüber, in der es den Bürger gar nicht mehr nach Partizipation dränge. Die Konfliktlinie, um die sich alle Diskussionen des diesjährigen Deutschland-Dialoges rankten, war damit vorgegeben.

      Während Lars C. Colschen von der Forschungsgruppe Deutschland aus Sicht des wertgeladenen Konzeptes der "Offenen Gesellschaft" von Sir Raimund Popper zu dem Schluss kam, dass die Parteien selbst Innovationsmöglichkeiten und Innovationschancen in der Gesellschaft blockierten, bezog Prof. Werner Sesselmeier von der Technischen Universität Darmstadt im politökonomischen Sinne auch den Bürger in seine Kritik ein. Der "schizophrene Wähler" erwarte sich von den Parteien einerseits Führung, andererseits strafe er in Wahlen denjenigen ab, der nicht nach seinem Willen handele. Professor Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg ergänzte diese Aussage: Politiker könnten nur dann im verflochtenen System der Bundesrepublik innovativ handeln, wenn sie Führung mit einer wertgebundenen Politik verbänden.


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      Prof. Dr. Werner Sesselmeier und Dr. Michael Weigl.
      Foto: Forschungsgruppe Deutschland


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      Auseinandersetzen muss sich die Politik künftig, dies verdeutlichte Ansgar Klein als Vertreter des Netzwerks zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, mit den Umgestaltungsprozessen innerhalb der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB). In Distanz zum gescheiterten "Bewegungsparteimodell" der Grünen bedienten sich Bewegungen wie ATTAC nun durch Professionalisierung und Ausdifferenzierung ihrer Tätigkeit konsequent der Inszenierung und Problemartikulation im öffentlichen Raum unter Umgehung der verkrusteten und behäbigen Parteistrukturen. Sie fokussieren sich dabei ganz auf Themen von "public interest" und stützen sich auf den von der Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland, Dr. Manuela Glaab, konstatierten gesellschaftlichen Trend zur unpolitischen Lust an Aktionen. Um sich die massenmediale Aufmerksamkeit auch in Zukunft zu sichern, müssten sie allerdings sowohl auf eine fortgesetzte Sensationsspirale wie auch eine thematische Ausweitung setzen, womit die Parteien noch stärker unter Druck gerieten. Wenn auch die Neuen Sozialen Bewegungen keinen Ersatz für die Parteien darstellen, da sie mit ihren Inhalten und Mitteln die Masse der Bevölkerung nicht erreichen, könnten die Parteien dem Plenum zufolge doch von ihnen profitieren. Indem sie die NSB sowohl als thematische wie personelle "Schöpfquellen" ansehen, würde das Problem, dass sich mit den NSB informelle Machtzentren ohne demokratische Legitimierung bilden, zumindest entschärft.


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      Christoph Moosbauer, 1998-2002 MdB, SPD, und Dr. Martin Runge, MdL, Bündnis 90/Die Grünen.
      Foto: [meteme.de]


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      So wie sich die Neuen Sozialen Bewegungen immer dezidierter transnational verstehen, so sind Phänomene der Parteiendemokratie wie das Auftreten radikaler Parteien trotz aller systembedingter Unterschiede in beinahe allen westlichen Staaten anzutreffen. Wie Privatdozent Ulrich Eith von der Universität Freiburg verdeutlichte, waren rechtsradikale und populistische Parteien vor allem in diesen Staaten erfolgreich, die besonders ausgeprägt im Pietismus oder Katholizismus verankert sind und/oder in denen eine Konsensdemokratie gepflegt wird. Außerdem entstünden Gegenbewegungen immer dort, wo sich Christdemokraten und Sozialdemokraten thematisch angenähert hätten. Folge dieser Entwicklung sei, dass sich Konflikte nicht mehr an den Inhalten, sondern an der Kompetenzzuweisung entzündeten.

      In den jungen Demokratien der mitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn und Tschechien ist demgegenüber nach Darstellung Johanna Schmidts von der Forschungsgruppe Deutschland eine starke Polarisierung mit einhergehender Verarmung der politischen Mitte festzustellen. Zur Stabilisierung der Parteiensysteme habe nicht zuletzt der erfolgreiche Transformationsprozess der postkommunistischen Parteien beigetragen. Dass sie inzwischen als professionelle Politakteure wahrgenommen würden, sei nicht zuletzt mit der straffen Parteidisziplin zu begründen, die eine Vernachlässigung der parteiinternen Demokratisierung beinhalte. Wenn es aufgrund der Partizipationsbedürfnisse der Bürger auch weder möglich noch wünschenswert sei, dieses Modell auf die westeuropäischen Staaten zu übertragen, könnten die Parteien - so ein Ergebnis der Diskussion - doch von der Output-Orientierung ihrer mitteleuropäischen Pendants lernen. Die Parteien müssten sich demnach wieder ihrer "Leuchtturm-Funktion" bewusst werden. Sie sollten ihre Anliegen und Ziele nicht nur besser an die Bürger vermitteln, sondern vor allem auch präziser deuten und erklären


      Quelle: http://www.cap.uni-muenchen.de/aktuell/news/2002_11_dialog.h…

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      schrieb am 22.11.02 21:56:43
      Beitrag Nr. 6 ()
      ...Die sogenannte Politikverdrossenheit ist keine. Allenfalls ist man verdrossen ob der Phrase der Politikverdrossenheit. Was wohl der Fall ist, ist eine Verdrossenheit hinsichtlich der Formen der Politik, hinsichtlich Ihrer Rituale und der Schwerfälligkeit der politischen Organisationen. Als Reaktion auf die permanente Forderung nach Flexibilität, Eigenverantwortung, Entscheidungsfreude trifft der komplett für sich selbst verantwortliche Wähler eine Entscheidung gegen Parteien und Organisationen, die strukturell und organisatorisch das Gegenteil von dem praktizieren, was sie von den Menschen fordern, die sie wählen sollen. Während allenthalben flache Hierarchien, Selbstorganisation und Netzwerkkompatibilität propagiert werden, bleiben Parteien - und auch Gewerkschaften - straff hierarchisch organisiert. Sie sind unattraktiv für diejenigen, die beginnen das zu sein, was die sie Regierenden von Ihnen fordern.

      Es fragt sich also eher, ob die Menschen die Parteien mitnehmen. Die Klagen über Politikverdrossenheit spiegeln die Angst der Parteien vor eigenem Bedeutungsverlust, sie spiegeln auch die Angst vor dem Verlust der Bedeutung einer ämterschaffenden, repräsentativen Demokratie, die in einer Wissensgesellschaft mit allen Möglichkeiten der Vernetzung zunehmend unter Änderungsdruck in Richtung einer direkten Demokratie gerät. Die FDP fordert nicht von ungefähr eine stärkere Rolle des Plebiszits - das ist nur konsequent. Der mündige, wissende, lernende Wahlberechtigte wird sich in Zeiten beschleunigten Wandels wohl kaum auf Dauer damit zufriedengeben, daß seine Stimme nur an wenigen Wahltagen zählt.

      ...



      Quelle: http://www.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/ho-wissen.h…
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 21:59:59
      Beitrag Nr. 7 ()
      ...nicht soo viiieeel teeeeext :rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 22:00:30
      Beitrag Nr. 8 ()
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 22:15:10
      Beitrag Nr. 9 ()
      tuscon, ausdrucken und in der Badewanne lesen, mache ich auch immer so! ;)


      Matthias Holdt

      Immer mehr Wechsel- und Protestwähler
      Umfassende Analyse des deutschen Parteiensystems

      Dieses Buch erscheint in einer Zeit, in der das Wort des Jahres "Schwarzgeldaffäre" lautet. Da ist es nicht verwunderlich, dass Parteien heftig kritisiert werden. Sie werden häufig pauschal angefeindet. Ihnen werden undurchsichtige Finanzierungspraktiken vorgeworfen, und viele Menschen zweifeln zudem daran, dass die Politik die vielfältigen anstehenden Probleme - wie z. B. die BSE-Krise oder die Klimakatastrophe - lösen kann. Angesichts dieser Entwicklung ist es wichtig, sich die Funktion und Aufgaben der Parteien zu vergegenwärtigen und ihren möglichen Reformbedarf zu untersuchen.

      Dieser Aufgabe unterzieht sich Ulrich von Alemann, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Düsseldorf, mit bemerkenswerter Akribie. Zunächst schildert er die Anfänge der deutschen Parteien im Kaiserreich bis zum Ende der Parteien im Nationalsozialismus. Seiner Ansicht nach gibt es in Deutschland eine Tradition der Politikverachtung: "Monarchisches Gepräge, Staatsverehrung und Politikferne sowie ein unausrottbares Harmoniebedürfnis prägten die deutsche politische Kultur. Idealismus und Romantik lehnten Konflikt und Interessen ab. Politische Kompromisse wurden gern als faul bezeichnet. Relikte dieser unseligen Tradition sind bis heute erhalten."

      Anschließend analysiert der Verfasser die rechtliche Einbindung, die gesellschaftliche Vernetzung, die innere Organisation und Willensbildung sowie die Außenwirkung der Parteien. Schließlich stellt von Alemann die Frage, ob die Parteien ihre Aufgaben noch erfüllen können. Dabei plädiert er für eine nüchterne Betrachtungsweise. Parteien sollten schlicht ihre Interessen wahrnehmen. Er referiert die Parteienkritik, wie sie seit 1990 z. B. vom Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim geäußert wurde. Auch Richard von Weizsäckers These von der Machtvergessenheit zur Machtbesessenheit der Parteien wird noch einmal wiedergegeben.

      Kritische Sonde

      Der Verfasser konzediert, dass die Parteienkritiker wichtige Missstände aufzeigen. Er wirft ihnen aber vor, dass sie eine Abneigung gegen jegliche Parteilichkeit der Politik formulieren, die ihn an die überzogene Parteienkritik der konservativen Autoren am Ende der Weimarer Republik erinnert: "Der Unterschied zu alt-konservativer Kritik besteht hauptsächlich darin, dass diese Kritiker heute immer wieder versichern, dass wir Parteien grundsätzlich brauchen. Gute Parteien, bessere Parteien, die am besten überparteilich sind und nur das Gemeinwohl im Auge haben."

      Neben dieser Debatte gibt es allerdings konkrete Symptome, die von Alemann Anlass zur Sorge geben. So schmilzt die Mitgliedschaft der Parteien und die Wahlbeteiligung sinkt beständig. Das findet auch Ausdruck im Konzentrationsgrad der Parteien. Konnten die beiden großen Volksparteien in den siebziger Jahren noch über 90 Prozent der gültigen Stimmen auf sich vereinigen, so waren es bei der Bundestagswahl 1998 nur noch gut 75 Prozent. Der Stammwähleranteil ist ebenfalls von gut 60 Prozent auf höchstens 40 Prozent bei den großen Parteien gefallen. Dagegen ist der Anteil der Wechselwähler von 24 Prozent (1980) auf fast 50 Prozent im Jahr 1994 gestiegen.

      Die Entfremdung junger Menschen von der Politik findet deutlichen Niederschlag in folgenden Zahlen: Die Wahlenthaltung bei Bürgern zwischen 18 und 24 Jahren wuchs von 15,5 Prozent (1972) auf 37,1 Prozent (1990). Das Vertrauen in Parteien und Politik sinkt (laut Emnid-Daten von 50 % im Jahr 1980 auf 21 % im Jahr 1992). Alarmierend waren auch die Stimmengewinne von Protestparteien und Rechtsradikalen bei den Landtagswahlen zwischen 1992 und 1993, während die Oppositionsparteien nicht profitieren konnten. Alemann hält die beiden letzten Symptome für besonders bedeutsam. Schließlich unterzieht er die bereits existierenden Parteienreformansätze einer kritischen Würdigung und mahnt an, dass auch das Wahlrecht und die Parteienfinanzierung einer Reform bedürfen. Ulrich von Alemann legt dieses Buch in einer Phase vor, in der Politik genereller Kritik ausgesetzt ist und die Partei der Nichtwähler immer stärker wird. Diejenigen, die sich trotzdem nicht von einer Beschäftigung mit der oder gar von einem Engagement in der Politik abhalten lassen, finden eine fundierte Analyse des deutschen Parteiensystems mit allen seinen Schwächen und Stärken vor. Jedes Kapitel enthält vertiefende Literaturhinweise. Die notwendige Reform der Parteien erhält mit diesem Buch einen belebenden Diskussionsanstoß.

      Ulrich von Alemann:

      Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Schriftenreihe Grundwissen Politik; Bd. 26.

      Leske + Budrich, Opladen 2000; 232 S., 33,- DM

      Avatar
      schrieb am 22.11.02 22:19:16
      Beitrag Nr. 10 ()
      ...3. Für eine realistische Kritik des Wahlsystems

      Alles in Ordnung also? Die Demokratie, beste aller möglichen Welten? Mitnichten. Realistische Kritik am Wahlsystem und am politischen System tut not. Das Grundproblem einer formalen, auf die Wahl von Entscheidungsträgern fixierten Demokratie ist bekanntlich, dass sie die bestehende Machtverteilung in der Gesellschaft schlicht abbildet. Wer in der Realität mächtiger, reicher, öffentlicher ist, der drückt auch dem stärker seinen Stempel auf, was bei Wahlen herauskommt und wer im repräsentativen System überhaupt vorkommt. An dieser Grundtatsache hat sich nichts geändert, und deshalb können gesellschaftliche Verhältnisse nicht zuallererst durch Wahlen verändert werden, sondern durch soziale Auseinandersetzungen und emanzipative Kämpfe auf allen Ebenen der Gesellschaft, durch die reale Machtverhältnisse verschoben werden.

      Unterhalb dieser grundsätzlichen Kritik gibt es jedoch vieles noch erheblich konkreter aufzuzeigen. Es ist das Zusammenspiel von Parteienmacht und strukturellem Konservatismus, der ein Aufbrechen der politischen Landschaft so besonders schwer macht. Der Raum der "Zivilgesellschaft" ist einer, der in der BRD (und in den meisten demokratischen Ländern) überwiegend von den Parteien vermessen wird und von ihnen abhängig ist - Stiftungen, Medien, Besetzung diverser Institutionen, Organisationen und Unternehmen. Minderheiten innerhalb der Parteien haben keine nennenswerte Verhandlungsmacht, weil der schlimmste Fall - Abspaltung - angesichts dieser Tatsache plus der 5%-Klausel letztlich nur für die Minderheit schlimm ist. Die Beeinflussung von Parteien und öffentlicher Meinung durch "privat" aufgebrachte Gelder (sprich durch zahlungskräftige Interessen) gilt als normal und wird nicht bekämpft. Die Vergabe der Mandate innerhalb der Parteien wird faktisch strikt von oben geregelt (Listenplätze, Wahlkreise), wodurch WählerInnen von der vielleicht wichtigsten Frage abgeschnitten und AbweichlerInnen in den eigenen Reihen offen diszipliniert werden.

      Es gäbe daher viel Raum für präzise Forderungen zur Veränderung des Wahl- und Institutionensystems. Noch mehr Raum gäbe es, die ungenierte Existenz völlig vordemokratischer Räume in der Gesellschaft anzugreifen - in Betrieben, Schulen, Ämtern, praktisch überall.

      4. Gegen eine romantische Hyperkritik

      Es gibt Situationen, in denen Wahlboykott angemessen ist: wenn oppositionelle Parteien oder KandidatInnen gezielt behindert oder bedroht, Wahlergebnisse systematisch gefälscht oder gesellschaftlichen Kräften, die es wollen, die Aufstellung eigener KandidatInnen und ein fairer Wahlkampf verweigert werden. Dies ist in der BRD nicht der Fall, und so sehen das auch die WählerInnen. Dass das noch nicht bedeutet, dass sie tatsächlich der Souverän sind, muss man den meisten WählerInnen nicht erst sagen. Weshalb sie auf die Form der Einflussnahme, die Wahlen immerhin sind, deshalb verzichten sollen, läßt sich aus ihrer Sicht auch nicht begründen.

      Die Anti-Wahl-Kritik, die inzwischen wieder Mode wird, macht sich auch nicht die Mühe, darüber argumentieren zu wollen. Sie stützt sich auf ein romantisches "ganz oder gar nicht"; auf Verelendungstheorien (die Wahl des "kleineren Übels" verdeckt die Repressivität der Verhältnisse, welchen also durch die Regierungsmacht des "größeren Übels" in befreiender Weise die Maske vom Gesicht gerissen würde); auf elitäre Vorurteile gegenüber den Menschen (deren Stimmabgabe nicht solidarisch kritisiert, sondern als Tumbheit lächerlich gemacht wird); oder, und dies ist das Bedenklichste, auf einen offen demonstrierten Ekel vor dem Politischen, welches als Postengeschacher, Kompromisslerei, Tagesgeplänkel, eitle Effekthascherei geschmäht wird: um die wirklichen Fragen gehe es ja gar nicht. Hier wird, gewollt oder nicht, eine mir zutiefst verdächtige und sehr deutsche Sehnsucht nach "Tiefe" und Unmittelbarkeit genährt, nach einer vermittlungslosen Einheit von Bevölkerung und politischem Entscheidungssystem, nach einer heroischen Unbedingtheit und nach großen Entscheidungen.

      Die wenigen Ansätze, Wahlen für eine Kritik des konkreten demokratischen Systems und seiner Herrschafts- und Entmachtungsfunktionen zu nutzen, ohne dies auf die Aufforderung zum Wahlboykott festzulegen, fand ich interessant. In der Praxis ist dies nirgendwo gelungen. Alle wahlkritischen Aktionen sind auch diesmal wieder in die - wie ausgeführt, m.E. reaktionäre - Propagierung des Nichtwählens abgekippt: nur wer nicht teilnimmt, dessen Kritik und Herz bleibt rein.

      5. Notwendige Kriterien entwickeln für eine Partei "anderen Typs"

      Vermutlich wäre es auch normal, dass immer wieder Parteien aus emanzipativen Bewegungen entstehen oder sich ihnen eng verbunden sehen, dann unter dem Druck der beschriebenen Anpassungs- und Selbstermächtigungstendenzen diese Verbindung kappen, woraufhin das Feld sozialer Bewegungen wieder eine neue Partei erzeugt, usw. Das Schockierende an den Grünen ist, wie schnell und total sie diesen Prozess durchlaufen haben. Man kommt gewissermaßen gar nicht nach. Dies gibt auch hinsichtlich der PDS, aber auch jedweder zukünftiger linker Parteiprojekte zu denken. Jenseits der Kategorien von Verrat und Verschwörung wäre hier zu klären, welche strukturellen Möglichkeiten es gibt, die Bindungskraft der Basisbewegungen - ihren Einfluss auf die Regeln, denen die Partei folgt - zu erhöhen und zu verankern. Dies wäre ein gewagtes, aber auf jeden Fall hoch interessantes Projekt. Warum können bestimmte Entscheidungen nur von Parteimitgliedern gefällt werden? Warum können nicht für bestimmte Bereiche organisierte Bewegungen direkt in einer solchen Partei repräsentiert sein? Welche Möglichkeiten der Öffnung, die auch eine reale, andauernde Mitentscheidung wäre, gibt es? Wie können Gruppen, Fraktionen etc. eine sehr viel anerkanntere und bedeutsamere Rolle spielen, weil ohne sie eine Einflussnahme der Einzelnen gegenüber der Parteispitze nicht möglich ist? Und was, immer wieder, was tut eine solche Partei außer an Wahlen teilzunehmen? Was tut sie zur konkreten Einflussnahme auf all die vordemokratischen Bereiche in der Gesellschaft, die keine blinden Flecken sind, sondern ein nur mühsam unter der Oberfläche gehaltener Eisberg? Was, so gesehen, ist heute eine Partei, was kann, soll und will eine linke "Partei neuen Typs" sein? Was tun wir, um hier und heute damit anzufangen?

      ...


      Quelle: http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/Analyse/Texte/spe… :eek:

      Und schluß für heute! :rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 22:29:18
      Beitrag Nr. 11 ()
      Wer soll denn das lesen? Der Text ist ja umfangreicher als die Mao-Bibel...:laugh: :laugh: :laugh:
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 22:46:50
      Beitrag Nr. 12 ()
      Wen`s interessiert, der liest es auch! ;)

      Die Texte von Hans Herbert von Arnim sind auf jeden Fall Pflicht!

      Den Rest könnt ihr meinetwegen auch weglassen! ;)


      Sind ja auch unseriöse Quellen bei- mal schaun, wer es merkt! :D
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 22:51:11
      Beitrag Nr. 13 ()
      ............was folgt daraus?:p :p :p :p :p :p :p :p
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 23:07:03
      Beitrag Nr. 14 ()
      Von Arnim verbreiten- der Mann hat recht!


      Unsere Berufspolitiker sind ein großes Puzzleteil zu unserer Reformunfähigkeit,
      und wir Wähler als Volk müssen lernen, unsere richtigen Vertreter zu wählen-

      wer inkompetent ist, muß fliegen-
      und zwar nicht nach Mallorca :p


      Höhrere Diäten für Politiker während der Amtszeit,
      keinerlei Pensionsansprüche,
      Direktwahlen/Volksentscheide
      Abschaffung der 2. Stimme


      Und, nicht vergessen:

      Anprangern, verbreiten, klagen, Revolte :cool:


      Von allein wird sich nichts ändern!
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 23:12:33
      Beitrag Nr. 15 ()
      #13
      Es gibt auch heute noch Leute, die jeden Scheiß lesen...:cry:
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 23:17:11
      Beitrag Nr. 16 ()
      Genau- das hier ist aber kein Scheiß! :mad:

      Wer hat denn nun #2,3,4 gelesen?


      Eure Meinung dazu?


      Wie immer keine?

      Dann jammert auch nicht rum! :mad:



      Anpacken ist die Devise! :D
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 23:18:50
      Beitrag Nr. 17 ()
      Demokratie? Nicht in Deutschland!!! Irgendwo gibt es ne Statistik, daß wir im Bereich Korruption zwar VOR Chile, aber hinter Botswana liegen ... müßte die mal rauskramen ... :laugh: Armes, armes Land ... Aber was wollen wir erwarten ... jeden Tag schwarze Konten, Bestechung, etc. ... das Volk wird angelogen (Eichel insb.), Wahlbetrug macht die Runde (mehr als das "übliche" :mad: ) ... und die Wirtschaft (die, die Arbeitsplätze schaffen) verschwindet gerade vom Erdboden (natürlich nur vom deutschen Erdboden) ... traurig traurig ...
      Avatar
      schrieb am 22.11.02 23:37:28
      Beitrag Nr. 18 ()
      Ich sage jetzt mal so:

      Trotz netter Rede von Frau Merkel,
      die irgendwie versuchte, Volkes unwillige Stimme zu kanalisieren...


      Sehe ich die Kontrollfunktion der Opposition völlig außer Gefecht gesetzt!


      Nochmal: Schuldzuweisungen brauchts nicht, wir wissen, ihr habt alle dreck am Stecken!

      Wenn vom Berufsbild Politiker kein Willen vorhanden ist,
      dieses Land wieder nach vorne zu bringen,
      wird das Volk nicht nur murren, sondern sich erheben!

      SBI(der apokaliptische :rolleyes: )


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