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    Die Talibanisierung der Vereinigten Staaten - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 21.03.03 11:29:46 von
    neuester Beitrag 21.03.03 13:26:32 von
    Beiträge: 9
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      schrieb am 21.03.03 11:29:46
      Beitrag Nr. 1 ()
      FR:

      Die theokratische Versuchung

      Über die Talibanisierung der Vereinigten Staaten und einen Fundamentalismus, der keine Nuancen kennt: Anmerkungen zum Verschwinden des Politischen

      Von Michael Mayer



      Frei nach Napoleon ließe sich sagen, der Angriff auf den Irak sei schlimmer als ein Verbrechen: er ist ein Fehler. Was bei näherer Betrachtung der geopolitischen Parameter unmittelbar einleuchtet. Mag auch in kurzer Zeit die durch die UN-Resolution 1441 gedeckte Entwaffnung Saddam Husseins ebenso glücken wie dessen durch keine UN-Resolution gedeckter Sturz. Doch keines der erklärten Kriegsziele wird erreicht werden. Er führt weder zur Stabilisierung des Nahen Ostens, von dessen Demokratisierung ganz zu schweigen, noch zur Minimierung terroristischen Gewaltpotentials oder zur Konsolidierung eines berechenbareren Verhältnisses der Nationen dieser Welt.

      Von der Welle islamistischer Radikalisierung, die der zweite Golfkrieg auslösen wird, bleibt keines der Regime Arabiens unberührt. Die militante Verhärtung gegen den Westen, bislang bestimmendes Merkmal vor allem dissidenter Zirkel am äußeren Rand der islamischen Gesellschaften, wird zur mentalen Grundausstattung des Orients. Was auf Dauer eine wie auch immer geartete Deeskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts ebenso hintertreiben wird wie einen nachhaltigen Erfolg im "Krieg gegen den Terrorismus". Derweil sind die politischen Verwerfungen schon jetzt erkennbar: Das moderne Völkerrecht hat Schaden genommen; die UN steht vor ihrer Marginalisierung; die Nato hat als handlungsfähiges Bündnis faktisch aufgehört zu existieren; die transatlantische Entente ist zerbrochen; und Europa zerfällt mit einer Rasanz, die all die kühnen Visionen eines politisch geeinten Kontinents als matte Schimären erscheinen lassen.

      Georg W. Bush scheint in erstaunlich kurzer Zeit zu gelingen, was ein bin Laden nie zu träumen wagte: die agonale Konfrontation zwischen Orient und Okzident, die Entzweiung des Westens in sich und - last but not least - die Talibanisierung der amerikanischen Politik. Als ob jener einstmals wenig beachtete Versuch des Berliner Religionsphilosophen Jacob Taubes, den Begriff der Theokratie in die politische Diskussion einzuführen, seine empirische Verifikation gefunden hätte.

      Stellvertreter Gottes

      Denn das "Schreckgespenst" der Theokratie - der im Namen und in unmittelbarer Stellvertretung Gottes praktizierten Politik -, dem der neuzeitliche Liberalismus den Garaus gemacht zu haben schien, kehre, so Taubes schon Mitte der achtziger Jahre, im Gewand "fundamentalistischer Bewegungen" wieder. Und in Klammern nennt er dabei drei Staaten: Iran, Israel, USA. Lange vor Huntingtons "Clash of Civilisations erspürte Taubes hier jene Achse des Fundamentalismus, der im Orient wie Okzident die Grundlagen des modernen politischen Freiheitsverständnisses akut zu bedrohen beginnt. Tatsächlich ist Bushs Rhetorik idealtypisch für jedweden Fundamentalismus, der per se keine Nuancen kennt, weder Abwägung noch Ausgleich; der also im Kern immer apolitisch ist. Sein neomessianisches Eiferertum, mit dem er dem Bösen unentwegt den Kampf ansagt, lebt von der Kontamination politischer und religiöser Kategorien.

      Das Böse im theologischen Sinne ersetzt die Instanz des Feindes im politischen Sinne, der als Feind noch auf gleicher Augenhöhe Anerkennung forderte und dessen Kapitulation jedwede Kriegshandlung gegen ihn beendet. Dieses Böse, das in Bushs Reden seit dem 11. September inflationär zu wuchern begann, ist das Movens seines Tuns und Trachtens. Nicht dessen Kapitulation ist das Ziel, sondern die Vernichtung: die Installation einer Präventivkriegsdoktrin, die den USA das Recht jenseits jedweden Rechts einräumt, faktisch jeden Staat, jede Organisation, jedes nationale oder transnationale Bündnis anzugreifen, das sie als Bedrohung, sprich als böse, markiert. "Anstatt in eine Tragödie hineinzuschlittern", so Georg W. Bush in einer Fernsehansprache an die Nation, "machen wir Sicherheit zu unserem erklärten Ziel. Bevor der Tag des Schreckens kommen kann, bevor es zum Handeln zu spät ist, wird diese Gefahr beseitigt werden. Die USA haben die souveräne Autorität, zur Sicherung ihrer eigenen Sicherheit Gewalt einzusetzen."

      Kriege ohne Sieger

      Die Sätze umreißen in nuce die Konturen der neuen außenpolitischen Parameter, an deren Vorgabe Amerika sich zukünftig ausrichten wird. Es sind die Parameter einer neuen Ära. Und sie verheißt nichts Gutes. Denn diese Doktrin macht die USA nicht nur zum unilateralen Aggressor in einem völkerrechtsfreien Raum. Sie wird sie in einen globalen Abnützungskrieg stürzen, den sie letztendlich nicht wird gewinnen können. Denn auch der "Neue Krieg", der gegen den Terrorismus, untersteht den Regularien aller Kriegskunst: dass ein Krieg, der kein Ende nimmt, weil er keinen Anfang und keinen bestimmbaren Adressaten mehr hat, auch keinen Sieger kennt. Der unendliche Krieg, der hiermit anhebt, der Neue Krieg des 21. Jahrhunderts, kennt nur noch Opfer.

      Weshalb der Evergreen "Kein Blut für Öl", mit dem nicht nur die Friedensbewegung gegen Bushs Kriegs ficht, zwar einen nicht zu unterschätzenden Faktor im Kalkül der US-amerikanischen Administration benennt. Doch rückt altehrwürdige Ideologiekritik, die hier am Werke ist, ein Moment ins Zentrum, das ein anderes, wesentlicheres verdunkelt. Die rationalisierende Enttarnung der vermeintlich wahren Motive Bushs konsolidiert somit ein Weltbild, das nicht minder schlicht anmutet wie das, was zur Kritik steht. Vor allem aber verstellt sie den Blick auf jenen theopolitischen Untergrund, der sich einfacher Rationalisierung sperrt.
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      schrieb am 21.03.03 11:30:33
      Beitrag Nr. 2 ()
      Die Gefahr der neuen psychohistorischen Grundkoordinaten wird ausgeblendet: Dass ein theopolitischer Totalitarismus, die theokratische Versuchung, die im Orient und Okzident gleichermaßen an Strahlkraft gewinnt, die offenen Gesellschaften bedroht. Das ist die Herausforderung, auf die eine Antwort gefunden werden muss. Und die ein Walter Benjamin einst so rätsel- wie formelhaft skizzierte. In dem berühmt gewordenen geschichtsphilosophischen Thesen notiert er in den zwanziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts: "Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen". Was bedeutet, dass nicht der Mensch aus eigenem Gutdünken sich in seinem historischen, politischen Agieren auf die Sphäre des Numinosen, Göttlichen beziehen könne, sondern dass es Gott allein vorbehalten sei, diese Beziehung zu stiften und zu vollenden. Dem Menschen bleiben die Bitte und das Gebet. Und das Verharren in der Naherwartung Gottes. Alles andere wäre Frevel. Vor allem die Herleitung politischer Richtlinien aus dem wie auch immer erwirkten Bezug zu Gott.
      Gegen die restaurative "Rückkehr der Religionen" - sei`s in den manifesten Fundamentalismen islamistischer, judaistischer oder christlicher Provenienz; sei`s im latenten Fundamentalismus einer Renovation religiöser Werte als Grundlage des Politischen - helfen die Beschwörungen einer religiös aseptischen Aufklärung mithin nichts. Gegen die restaurative "Rückkehr der Religionen" hilft nur ein Begriff von Religion, der dem Menschen nicht minder gerecht zu werden versucht wie dem Gott. Ein Begriff von Religion also, der den Menschen nicht als unmündiges Mündel göttlicher Willkür vorstellt; und der Gott nicht in jene Angelegenheiten verstrickt, die der Mensch mit sich und seinesgleichen auszuhandeln hat. Bei einem Treffen Mitte der neunziger Jahre zeichneten Jacques Derrida und Gianni Vattimo, bei allen Divergenzen im einzelnen, die Umrisse dieser Idee von Religion. Es ist die der Freiheit - auch und gerade der politischen. Weshalb die Ignoranz der politischen Wissenschaften, der Kultur- und Geisteswissenschaften wie der aufgeklärten Gesellschaften als ganzes - darauf insistierte Jacob Taubes - gegenüber dem "politischen Index von Theologie und dem theologischen Kern von Politik" schlimmer ist als ein Fehler. Sie ist ein Verrat an der Freiheit selbst.
      Avatar
      schrieb am 21.03.03 11:37:10
      Beitrag Nr. 3 ()
      Kannst du das ganze mal in ein paar wenigen Sätzen
      zusammenfassen?
      Avatar
      schrieb am 21.03.03 11:39:53
      Beitrag Nr. 4 ()
      Ja kann ich, aber es soll ja bekanntlich nichts schaden, selber ab und an den Kopf anzustrengen.
      Avatar
      schrieb am 21.03.03 11:44:32
      Beitrag Nr. 5 ()
      #1...na zum Glück läuft es ja auch umgekehrt, die Amerikanisierung der Taliban-Staaten...:D

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      schrieb am 21.03.03 12:26:06
      Beitrag Nr. 6 ()
      # 4

      Ja, super, genau, die Amerikanisierung dieser Länder ist wirklich ein RIIIIIEEEEESENGLÜCK! Ganz wie Bush das sagt: Am amerikanischen Wesen soll die Welt genesen.

      Das Schlimmste für Bush und Co. ist im Grunde das, wovon sich jetzt im Iran Anzeichen zeigen, nämlich ein Prozess, der dem der europäischen Aufklärung ähnlich ist, aber eben in islamisch geprägter Weise, also nicht vom "Westen" aufoktroyiert.

      Im Westen herrscht die irrige Ansicht, dass es für islamische Länder nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder "ihr werdet so wie wir" mit Disney-Land, Coca-Cola, Hollywood und dem ganzen Schnack und Schnull, der hier eben derzeit als kulturelle Errungenschaft gefeiert wird.
      Oder "Ihr bleibt ein Steinzeitladen", wo Frauen bei Ehebruch gesteinigt werden und Homosexuelle lebendig begraben werden.

      Und im Iran zeigen sich jetzt Zeichen, dass es für islamisch geprägte Länder in Zukunft einen dritten Weg geben kann (auch wenn der Prozess erst angefangen hat) - der Alptraum eine Bush-Administration. Ich habe zufällig neulich von einem Afghanen gehört, der gerade in Deutschland ist, dass die Amis in Afghanistan riesige Flughäfen bauen. Wofür wohl? Für den Irak ja wohl kaum.....

      TS
      Avatar
      schrieb am 21.03.03 12:53:34
      Beitrag Nr. 7 ()
      Das Schlimmste für Bush und Co. ist im Grunde das, wovon sich jetzt im Iran Anzeichen zeigen, nämlich ein Prozess, der dem der europäischen Aufklärung ähnlich ist, aber eben in islamisch geprägter Weise, also nicht vom "Westen" aufoktroyiert.

      da ist wohl was dran. guter gedanke.
      Avatar
      schrieb am 21.03.03 13:15:51
      Beitrag Nr. 8 ()
      ...was ist denn ne islamische Aufklärung im Vergleich zur europäischen..? Gibts hier ne europäische Physik und ne amerikanische..? Wie sähe dann erstmal ne islamische Physik aus oder Chemie..?:D
      Ne Aufklärung im islamischen Sinne gibt es genausoviel wie
      ne Aufklärung im christlichen oder buddhistischen Sinne.
      Es ist doch gerade das Wesen von Aufklärung von -ismen
      frei zu sein. Im Irak fällt ein Apfel genauso zu Boden wie in Pisa (Stadt)...oder ne Bombe .
      Ne islamische Aufkärung..!? was soll das denn nur sein..?...:rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 21.03.03 13:26:32
      Beitrag Nr. 9 ()
      Muss ich das jetzt allen Ernstes erklären?

      Befreiung von -ismen: einverstanden. Aber die Rahmenbedingungen, die den Prozess bestimmen, wie das abläuft, sind wohl unbestritten komplett verschieden. "Aufklärung" ist ja wohl nichts, was einfach von hier auf gleich passiert, sondern ein komplizierter Diskussionsprozess. Und dass sich da die Vorgehensweisen unterscheiden dürften, wirst Du wohl kaum bestreiten. Weiowei.

      TS


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