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    Umbruch in Deutschland - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 18.03.04 23:50:42 von
    neuester Beitrag 22.03.04 20:24:38 von
    Beiträge: 19
    ID: 837.020
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      schrieb am 18.03.04 23:50:42
      Beitrag Nr. 1 ()
      Der Sozialkahlschlag: Perspektiven von oben – Gegenperspektiven von unten (Teil I)
      Karl Heinz Roth

      * Zeitgleich mit dem ak veröffentlicht junge Welt in der heutigen und morgigen Ausgabe eine Rede von Karl Heinz Roth, die der Bremer Sozialhistoriker auf der Aktionskonferenz des Bremer Bündnisses gegen Sozialkahlschlag am 20. Februar gehalten hat. Wir unterbreiten sie als Auftakt einer Debatte über Kapitaloffensive und Gegenstrategien.


      Seit der berüchtigten »Agenda 2010« der SPD-Grünen-Regierung wird auch in Deutschland der Sozialstaat unwiderruflich geschleift. In allen seinen Funktionsbereichen findet eine pausenlos zugreifende und arbeitsteilig abgestimmte Demontage statt. Der Sozialkahlschlag konzentriert sich auf die Arbeitsmärkte, das Gesundheitswesen, den Bildungssektor, die Altersrenten und die Migrationspolitik.



      Neue Verelendung


      Durch die sogenannten Hartz-Reformen (Deregulierungspaket I – IV der Hartz-Kommission der Bundesregierung) ist auf den Arbeitsmärkten ein qualitativer Sprung eingeleitet worden, der weitreichende Folgen haben wird. Die auf abhängige Erwerbsarbeit Angewiesenen werden weitgehend entrechtet. Die Sozialfonds für Erwerblose werden auf ein Minimum zusammengestrichen. Der Bezug der bisherigen Arbeitslosenhilfe wird auf das Niveau der Sozialhilfe zurückgeführt und mit dieser gleichgesetzt. So nimmt das seit längerem verfolgte Projekt der Arbeitserzwingung konkrete Gestalt an. Das Ergebnis ist die massive Ausweitung des Sektors ungeschützter Arbeitsverhältnisse, die schon jetzt mehr als die Hälfte des gesamten Arbeitsvolumens ausmachen, und die endgültige Abkehr vom Modell der »Kernbelegschaften«. Auch in Deutschland hält die Arbeitsarmut Einzug. Auf die weitgehende Auflösung der Sozialfonds für Erwerbslose folgt die breite Einführung eines Niedriglohnsektors.


      Das Gesundheitswesen wird auf allen Strukturebenen um ein Drittel demontiert und zugleich verteuert. Die Kranken sind seit Jahresbeginn mit weiteren Gebührensteigerungen konfrontiert, die auf mehreren Ebenen greifen. Auf diese Weise wird in allen Strukturbereichen die Privatisierung vorangetrieben. Die Versicherungs- und Pharmakonzerne übernehmen die Regie und unterwerfen das Gut Gesundheit einer an der Rendite orientierten Rationierung.


      Auch im Bildungssektor werden drastische Abbaumaßnahmen vorangetrieben. Parallel dazu werden vor allem finanziell greifende Zugangshürden errichtet. Die pluralistisch-demokratischen Strukturreste in Ausbildung und Forschung sind Makulatur geworden und werden auch hier von den Berufsschulen bis zu den Universitäten einer rasch um sich greifenden Privatisierungsoffensive geopfert. Unter dem zunehmenden Anpassungs- und Selektionsdruck wächst die Bereitschaft vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihre Denk- und Forschungsstrukturen der Scheinlogik der Märkte zu unterwerfen. Die Gefahr wächst, daß die in Jahrhunderten gewachsenen Fähigkeiten zur kritischen Systemreflexion über die Geschichte und Perspektiven der Gesellschaft beseitigt werden.


      Inzwischen werden auch die Bezieher von Altersrenten in den Strudel der Sozialdemontage hineingezogen. Durch hinterhältige Eingriffe in die Leistungskataloge werden die Anwartschaftszeiten fortschreitend verlängert, die Anrechnungszeiten für die Berufsausbildung vollends gestrichen und die Zahlungen schrittweise auf unter 50 Prozent des vorher erzielten Arbeitseinkommens gedrückt. Auch aus diesem besonders sensiblen Kernbereich verabschiedet sich der Sozialstaat und öffnet dem Versicherungskapital durch die Liquidierung des Generationenvertrags und des Umlageverfahrens das Tor für den Zugriff auf die Ersparnisse der kleinen Leute.


      Im Gegensatz zu diesen dramatischen Angriffen auf die soziale Sicherheit der Masse der Durchschnittsbevölkerung war die Marginalisierung der Migrantinnen und Migranten schon im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre vorangetrieben worden. Die Gesellschaft hat sich an den Skandal der Heimunterbringung, der Aufenthaltsbeschränkungen und der Abschiebeknäste für Flüchtlinge gewöhnt. Bekanntlich wird aber an den Minderheiten nur durchexerziert, was letztlich allen bevorsteht, und deshalb wird sich die Hinnahme dieser brutalen Ausgrenzungsmaßnahmen noch bitter rächen. Es ist jedenfalls ein bedrohliches Zeichen, daß selbst die Einführung beschränkter Immigrationsregulierungen unterbleibt.


      Wenn wir diese Veränderungen in ihrem Zusammenwirken reflektieren, dann fällt die Zwischenbilanz bitter aus. Der Bruch mit dem sozialen Sicherungssystem findet jetzt auch zwischen Rhein und Oder statt, und dabei ist es kein Trost, daß der Sozialkahlschlag trotz seiner Vorentwicklungen seit den 1980er Jahren vergleichsweise spät zu greifen beginnt. Er hat bei der Masse der Löhne und Sozialeinkommen beziehenden Bevölkerung genauso wie bei den durch den Umbau des Bildungswesens betroffenen Jugendlichen eine tiefgreifende Desillusionierung und Verunsicherung ausgelöst, und es ist zum ersten Mal wieder zu breiteren Protestaktionen gekommen. Es ist dringlich geworden, sich über die wahrscheinlichen Folgen dieses sozialen Umbruchs Klarheit zu verschaffen.


      Die aktuelle arbeits- und sozialpolitische Entwicklung kann indessen erst in ihren internationalen Zusammenhängen richtig verstanden werden.



      Globaler Kontext


      In Deutschland wird gegenwärtig im Eiltempo nachgeholt, was in den 1980er Jahren in den USA und Großbritannien unter Reagan und Thatcher begonnen hatte und in den 1990er Jahren in Italien, Spanien, Frankreich und der Schweiz sowie in den meisten Schwellen- und Transformationsländern des kapitalistischen Weltsystems ausdifferenziert worden war. Dabei sind in der Taktik des Vorgehens zwar gewisse nationale Differenzierungen zu erkennen, die vor allem durch das unterschiedliche Ausmaß des Widerstands gegen den Sozialabbau bedingt sind. Durch sie werden jedoch die identischen Grundlinien nicht in Frage gestellt. Weltweit ist eine Spirale der sozialpolitischen Demontage in Gang gekommen, die die bisherigen strukturellen Unterschiede zwischen Metropolen, Semiperipherie und Peripherie aus der Perspektive der arbeitenden Armen zunehmend verwischt. Zwar bestehen aufgrund der unterschiedlichen Lebensstandards zu Beginn des sozialen Angriffs auch heute noch erhebliche Unterschiede. Aber für die Obdachlosen und Flüchtlinge ist es nicht mehr so entscheidend, unter welchen Brückenpfeilern und in welchen Asylen sie dahinvegetieren.


      Auch die deutsche Entwicklung ist Teil eines weltweiten Deregulierungskonzepts des Kapitals und seiner internationalen Institutionen, das nicht neoliberal, sondern neokonservativ und zutiefst reaktionär ist. Seit den 1980er Jahren erobern die Kapital- und Finanzgruppen die sozialstaatlichen Schalthebel. Sie verkehren die bisherige Richtung der Umverteilungsmechanismen zur Existenzsicherung der Schwachen in ihr Gegenteil. Gleichzeitig erzwingen sie in einem alle Nationalstaaten erfassenden Dominoeffekt eine massive Senkung der Steuereinnahmen. Während die Budgets für die Sozialeinkommen der Armen gedrosselt werden, werden die Etatposten für den Ausbau des Repressionsapparats – Polizei-, Gefängniswesen und Psychiatrie – erhöht. Die sozial ausgleichende »linke Hand« der Staaten verkümmert zunehmend, und die Vordenker und Akteure des neokonservativen Umbaus betonen die Notwendigkeit einer »starken Rechten«, um die sozialen Desintegrationsfolgen ihres Vorgehens vorbeugend unter Kontrolle zu bringen. Wer sich mit dem Elendsdasein eines arbeitenden Armen nicht abfinden will und in die kriminalisierten Sektoren der Schattenwirtschaft ausweicht, soll die Schlagkraft des abstrafenden Repressionsstaats zu spüren bekommen.


      Dieser Umbau war und ist nur möglich, weil sich die in den parlamentarischen Repräsentationssystemen verankerten politischen Klassen aller Lager den Strategien und Verheißungen des neokonservativen Zugriffs unterworfen haben. Da sie sich selbst jedoch bei der Verabschiedung ihrer sozialpolitischen Gesetzes- und Verordnungspakete von den nachteiligen und existentiell verunsichernden Folgen ausnehmen, ist ihr Kotau mit folgenreichen kollektiven Korruptionserscheinungen verbunden. Die kollektive Selbstbevorteilung macht die politischen Klassen weithin sichtbar und löst bei denjenigen, die unter der von ihnen dekretierten sozialen Ungerechtigkeit zu leiden haben, Ressentiments und Haßgefühle aus. Dies führt mittelfristig zu einer Demontage der repräsentativ-demokratischen Systeme von innen heraus und kann gefährliche Folgen haben. Unter diesen Vorzeichen erleben wir nun auch in Deutschland – fünfzehn Jahre nach Frankreich und zehn Jahre nach Italien – die Selbstzerstörung der Sozialdemokratie aller Varianten, wobei sich auch die PDS durch ihre Beteiligung an der Berliner Stadtregierung und deren Kapitulation vor den aus dem Kalten Krieg überkommenen Finanzspekulanten selbst das Grab geschaufelt hat. Aber auch in solchen Ländern, in denen wir es mit unbezweifelbar integren politischen Führungen zu tun haben, wie beispielsweise in Brasilien, scheint es keine Handlungsräume für wirksame Gegeninitiativen mehr zu geben.



      Imperialistisches Netzwerk


      Die inneren Umwälzungen finden unter nicht weniger dramatischen äußeren Rahmenbedingungen statt. Sie sind in die Formierung eines neuen kollektiven Imperialismus eingebettet, der die Weltinstitutionen an die militärische Weltherrschaft der USA anpaßt und sich in den strategischen Krisenzonen des Weltsystems mit Methoden festsetzt, die an den klassischen Kolonialismus erinnern. Trotz aller Rivalitäten unter den Großmächten scheint ein neues Netzwerk imperialistischer Herrschaft zu entstehen, das innere Gegensätze ständig ausgleicht und die gemeinsame Kontrolle über die strategischen Ressourcen sowie die Stagnations- und Depressionsgebiete des Weltsystems durchsetzt. Auch die Frage, in welchen Regionen als bedrohlich geltende Blockaden gegen die Ausweitung der Wertschöpfung gewaltsam beseitigt werden sollen, scheint trotz des jüngsten Alleingangs der angelsächsischen Kriegskoalition gegen den Irak letztlich kollektiv entschieden zu werden – im Rahmen »ultra-imperialistischer« Abstimmungsverfahren, wie sie Karl Kautsky ausgerechnet 1915/16, auf dem Höhepunkt eines zerstörerischen Hegemonialkampfs der Großmächte, vorausgesehen hatte.



      Ziele und Folgen


      Welche Ziele verfolgt das neokonservative Projekt und welche Folgen wird die Zerstörung des bisherigen sozialstaatlichen Klassenkompromisses haben?


      Der innere Sozialkahlschlag und die veränderten äußeren Weichenstellungen zur Regulierung des kapitalistischen Weltsystems sind zweifellos zwei Seiten einer Medaille. Auf der Grundlage weltweit verschärfter und zugleich kollektiv-gewalttätig abgesicherter Ausbeutungsverhältnisse soll ein neues Akkumulationsregime durchgesetzt werden. Es unterscheidet sich vom voraufgegangenen Zyklus vor allem dadurch, daß es die Vollbeschäftigungsmaxime und das Massenkonsumversprechen des keynesianisch-fordistischen Zeitalters durch ein System der strategischen Unterbeschäftigung ersetzt. Weltweit soll zu Spottpreisen eine wirtschaftliche Reservearmee verfügbar gemacht werden, und weltweit werden die sich vergrößernden unverwertbaren Segmente der Massenarmut auf neue Weise ausgegrenzt und eingefriedet. Die postkoloniale Bewegungsfreiheit der transkontinentalen Massenmigrationen wird wieder aufgehoben. Die von den Migrantinnen und Migranten erkämpfte Freizügigkeit stößt inzwischen überall auf der Welt auf elektronische Grenzzäune und auf weithin sichtbare Mauern. Diese Monumente einer neuen Ausschließungskultur demonstrieren auf drastische Weise, daß die Annahme, die ungezügelte Mobilität des Kapitalverkehrs würde auch eine »neoliberale« Freizügigkeit der Menschen hervorbringen, eine Illusion war. Nicht nur in dieser Hinsicht hat sich der sogenannte Neo-Liberalismus als kompromißlos menschenfeindlicher Neo-Konservatismus entlarvt, der immer unverhüllter auf autoritäre Herrschaftsmechanismen zurückgreift.


      Zusätzlich soll dieses neu dimensionierte äußere Wachstumsmodell langfristig durch eine innere Expansionsdynamik gesichert werden. Durch diesen Weg in das Innere der Gesellschaften unterscheidet sich das gegenwärtige Akkumulationsregime am weitesten von seinen Vorläufern. Denn seine Planer und Vordenker sind sich der Tatsache bewußt, daß die letzten noch verbliebenen äußeren Wachstumsquellen – vor allem die Rekonstruktionszone in Ostmitteleuropa und der gigantische late comer China – in zehn bis fünfzehn Jahren erschöpft sein werden. Dann hat das kapitalistische Weltsystem endgültig einen Zustand erreicht, in dem es sich die lebenden und toten Schätze dieser Erde restlos einverleibt hat. Es ist an seine äußeren Grenzen gestoßen, und damit entfällt eine der entscheidenden Voraussetzungen seiner geschichtlichen Dynamik. Da aber der Expansionsdruck einer »endlosen Kapitalakkumulation« (Immanuel Wallerstein) das Wesen des Weltsystems ausmacht, wäre es zum Untergang verurteilt, wenn ihm der Umschlag zu einer nach innen zurückschlagenden Dynamik nicht gelingen sollte. Hier sehe ich die entscheidende Ursache für die gnadenlose Härte, mit der die Planungs- und Aktionszentren des Kapitalismus sich gegenwärtig die bisherigen »allgemeinen Produktionsbedingungen« des Wachstums – gesellschaftliche Reproduktionssphären, soziale Sicherungssysteme, Infrastrukturen und Bildungswesen – aneignen.



      Hemmungslose Privatisierung


      Nun hat der Kapitalismus auch bei der Strukturierung der nationalstaatlichen »Volkswirtschaften« schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. Aber der jetzige Umbruch signalisiert eine neue Qualität des Zugriffs. Im Dienst der inneren Expansion wird die »Agenda 2010« die »Kommodifizierung« der Gesellschaft auf eine qualitativ neue Stufe heben, indem im Dienst der nach innen umschlagenden Kapitalexpansion jetzt allgemeine Alltagsbedürfnisse – Bildung, Gesundheit, Alterssicherung usw. – hemmungslos privatisiert und unter das Diktat der Rendite gestellt werden. Der Kapitalismus weitet seine Kontrolle über den Produktions- und Verteilungssektor auf die Gesellschaft aus und macht sie sich tributpflichtig. Er wandelt sich zu einem Kapitalismus der Gebühren und Dienstleistungsrenditen, die er von Millionen kleiner Einkommensbezieher eintreibt. Ein solches Akkumulationsmodell wäre den Heroen des industriellen Kapitalismus selbst in ihren wildesten Träumen nicht eingefallen.


      Für die Mehrheit der Gesellschaft ist dieser Aufbruch des Kapitals »nach innen« außerordentlich folgenreich. Alle, die ihre Arbeitskraft vermieten müssen, um leben zu können, geraten in allgemein ungesicherte Arbeitsverhältnisse. Als neue Form der »Vollbeschäftigung« entsteht ein breiter Niedriglohnsektor. Um ihr Dasein zu fristen, müssen immer mehr Menschen ihren Arbeitsalltag nacheinander auf drei oder vier miserable Jobs verteilen. Ihre Arbeitszeiten steigen dramatisch, während ihre Einkommen sinken. Sie sind zur Arbeitsarmut bis ans Lebensende verurteilt Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich gehalten, daß angesichts der rasanten Produktivkraftentwicklung der Kampf für den Achtstundentag und ein freies Wochenende jemals wieder zu einem Hauptanliegen der Assoziation der Ausgebeuteten werden könnte?


      Als besonders folgenreich werden sich die Eingriffe in das Bildungs- und Wissenschaftssystem erweisen. Es entstehen neue Zugangsbarrieren auf allen Ebenen. Wissenschaftliche Qualifikationen werden sich nur noch die Kinder der einkommensstarken Gewinner des neokonservativen Umbruchs aneignen können. Mit dieser »elitären« Neuorientierung wird die Marginalisierung des selbstkritischen gesellschaftlichen Reflexionsvermögens einhergehen. Je stärker sich diese Tendenz durchsetzt, desto höher wird der Preis sein, den die Gesellschaften für ihren Rückfall in den Obskurantismus vor-aufklärerischer Marktvergötzung und analphabetisierter Ressentiments zu zahlen haben.


      Ein weiterer Schritt zu Dehumanisierung des gesellschaftlichen Lebens wird durch die Beschränkung des Zugangs zu den Ressourcen des Gesundheitswesens eingeleitet. Wer kein ausreichendes Einkommen hat, um den Wechselfällen einer schweren Erkrankung zu begegnen, wird seine gesamten Ersparnisse in die Waagschale werfen oder auf die Errungenschaften der neuen – und kostspieligen – Gesundheitstechnologie verzichten müssen. Auf diese Weise wird eine alte und bittere Parole wieder belebt: Weil du arm bist, mußt du früher sterben.


      So erzeugt der nach innen expandierende Kapitalismus eine neue Massenarmut. War es ihm im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts gelungen, durch das Ingangsetzen der Industrialisierung die »gefährlichen Klassen« der Eigentumslosen in Arbeiterklasse und Subproletariat aufzuspalten, so hat er heute, 200 Jahre später, damit begonnen, den umgekehrten Weg einzuschlagen. Die Arbeitsproduktivität seiner Produktions- und Verteilungssysteme ist heute derart angewachsen, daß zur Erzeugung immer größerer Gütermengen immer weniger lebendige Arbeit benötigt wird. Zugleich ist der Kapitalismus dazu übergegangen, dort zu produzieren, wo die Arbeitskosten weltweit am geringsten sind. Deshalb tritt seine »Globalisierung« zunehmend im Gewand einer Deindustrialisierung der klassischen Akkumulationszentren in Erscheinung, und die von den Propagandisten des Kapitals verhöhnte Marxsche Verelendungstheorie realisiert sich unter umgekehrten Vorzeichen. Die Massenarmut kehrt im Prozeß der Deindustrialisierung in die Metropolen zurück, und dabei scheint auch ihre historische Spaltung in Arbeiterklasse und Subproletariat rückgängig gemacht zu werden. So betreten die »classes dangereuses« wieder die historische Bühne.



      Neues Gulag-System


      Den Denkfabriken des Kapitals ist diese Tendenz nicht verborgen geblieben. Schon in den 1980er Jahren sind die herrschenden Klassen der USA dazu übergegangen, die Massenarmut vorbeugend zu filtern und ihre potentiell gefährlichen Elemente hinter immer höheren Gefängnismauern wegzuschließen. Im neuen Gulag-System der USA sind inzwischen 2,2 Millionen Menschen interniert, und weitere 7,8 Millionen unterliegen der Justizaufsicht, das heißt, sie können bei der geringsten Unangepaßtheit wieder inhaftiert werden. Diesem Trend sind die EU-Länder bislang nur begrenzt gefolgt. In Deutschland und Italien ist statt dessen eine weniger auffällige Technik der Ruhigstellung der Ausgegrenzten und Gestrandeten in Gang gekommen. Sie werden entmündigt, psychiatrisiert und anschließend von den gemeindepsychiatrischen Zentren kontrolliert und medikamentös ruhiggestellt. Ihre Zahl hat sich in den letzten fünf Jahren verdreifacht. Sicher hätten es sich die Väter und Mütter der italienischen und deutschen Psychiatriereform nicht träumen lassen, daß ihre in bester Absicht betriebenen Initiativen zur Auflösung der großen Verwahranstalten und zur Durchsetzung einer humaneren Gemeindepsychiatrie auf derart zynische Weise instrumentalisiert werden könnten.


      Wo man derartig mit der »hausgemacht« entstehenden Massenarmut umgeht, haben die Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten ohnehin keine Chance. In einem weit gesicherten europäischen beziehungsweise zentralamerikanischen Vorfeld – der »Schengener Grenze« und dem neuen Grenzregime im Süden der USA – werden sie inzwischen vor dem Zutritt abgefangen. Soweit sie nicht umgehend deportiert werden, wird die Bewegungsfreiheit der Zugewanderten drastisch beschnitten. Gleichzeitig wird der erneuerte kollektive Kolonialismus die Menschen der Peripherie auf ihren Subkontinenten wieder einfrieden. Wie dies im einzelnen geschehen soll, wurde im Irak-Krieg durchexerziert. Während des Golfkriegs von 1990/91 waren unter den unfreien Migrationsarbeitern der Golfstaaten und den irakischen Minderheiten noch Massenfluchten ausgelöst worden. Im vergangenen Jahr sorgten die angelsächsischen Expeditionstruppen dagegen in einem makabren Zusammenspiel mit den irakischen Verwaltungsbürokratien dafür, daß Massenfluchten unterblieben.


      * Morgen: Keine Macht für niemand


      -----------------------
      Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/03-19/003.php
      Ausdruck erstellt am 18.03.2004 um 23:49:01 Uhr
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 00:46:03
      Beitrag Nr. 2 ()
      "Die Ausgebeuteten" :confused:


      du meinst sicher den kleinen selbständigen Unternehmer,
      mit 60 Stunden Woche, der nachts kein Auge mehr zubekommt,
      weil er nicht weiß, wie er noch sowas wie "Gewinne" machen soll.Der erst einmal das Geld verdienen muß, damit er es seinen Mitarbeitern auch ausbezahlen kann :eek:

      Ich kann diesen "Ausgebeutetenscheiß" nicht hören
      Wer bereit ist, etwas zu leisten und das heißt schon früh
      zu lernen und nicht Schule zu schwänzen und bis früh morgens Party zu machen, der hat doch nachwievor alle
      Möglichkeiten.Jeder kann sich selbständig machen und auf eigenes Risiko sein Geld zu verdienen oder eben im Unterschied zum Arbeitnehmer auch zu VERLIEREN!!!

      Und das mit dem verlieren das geht mal ganz schnell und dannist wirklich der Ofen aus in Deutschland!Dann heißt
      es wirklich "rien ne va plus"

      Wieviele Ausgebeutete sind denn mit dem Herzen bei der Arbeit??Ich glaube so 25% warens bei einer Umfrage
      :eek:
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 08:49:21
      Beitrag Nr. 3 ()
      Neh, er meint die Angestellten, die (lt. FAZ vom 18.3.2004) im Schnitt 27,1 Jahre in die Rentenversicherung einzahlen müssen, um einen Rentenanspruch zu erwerben, der dem Sozialhilfeniveau entspricht. Das nennt man dann "soziale Gerechtigkeit":mad: :mad: :mad:

      Warum werden Angestellte so schlecht gegenüber Sozialhilfeempfänger gestellt???

      Flack
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 09:04:20
      Beitrag Nr. 4 ()
      @Brueller

      Jetzt wird Dir gleich wieder vorgehalten werden, dass die Unternehmen ja nur Subventionen als Umzugshilfe abholen, um billig im Ausland produzieren zu können. Beispiele werden dann genannt wie Siemens oder andere Konzerne.
      Dann kommt sicher auch das Thema Esser wieder als Beispiel wie schlecht die Unternehmen sind.

      Leider haben viele den Unterschied zwischen angestellten Manager und selbständigem Unternehmer nicht begriffen und sehen auch nicht, dass Klein- und Mittelunternehmen etwas anderes sind als Konzerne.
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 09:09:57
      Beitrag Nr. 5 ()
      Roth ist ja wohl Sozialhistoriker und insofern deshalb wohl auch nicht in der Lage eine klare Alternative aufzuzeigen. Es sei denn, er ist davon überzeugt, dass die alten Verteilungspsielräume weiterhin vorhanden sind. Dann hat er aber leider nicht mitbekommen, das wir nun in einer anderen Welt leben. Wirtschaft ist global geworden und insofern haben Nationalstaaten überhaupt keine oder fast kaum Möglichkeiten mehr, den von ihm geforderten Ausgleich zu schaffen.

      Eine weitere Frage die sich mir aufdrängt ist die, ob eine allumfassende Fürsorge des Staates wirklich sozial ist. Oder ist es sozialer die Eigeninitiative des Einzelnen zu stärken und zu fördern?

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      Avatar
      schrieb am 19.03.04 09:49:18
      Beitrag Nr. 6 ()
      Jau, ich denke, viele werden auch einzelinitiativ werden und sich ´ne Waffe zulegen, um dann unternehmerisch tätig zu werden. ;)
      In Ländern, wo die Armut grassiert, allgemein üblich. Wir brauchen, wie üblich, nur zu unserem großen Brudervolk über den Teich zu blicken. Dann haben wir schon ´ne vage Vorstellung davon, wohin uns der Weg führt. Die Suppenküchen werden boomen. Leider kein sehr gewinnträchtiger Unternehmenszweig.
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 10:19:30
      Beitrag Nr. 7 ()
      #2 du meinst

      Ich habe den Artikel nur reingestellt weil ihn ich sehr interesant fand.

      #5

      das wir nun in einer anderen Welt leben

      Die Globalisierung gibt es schon sehr lange.

      Ich kann mich an meine Schulzeit in der DDR mitte der 60er Jahre erinnern, als eine Lehrerin erzählte: in den 20er/30er Jahren verkauften Japaner Fahrräder in Deutschland für unglaublich billige Spottpreise.
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 10:45:11
      Beitrag Nr. 8 ()
      Der analytische Teil des Artikels gefällt mit sehr gut und natürlich sitzen die KMU´s und die Arbeitnehmer im selben Boot, dass von den Kozerndampfern und Oligarchen gerammt wird.
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 11:26:12
      Beitrag Nr. 9 ()
      @Stormy

      Genau so ist es. Aber leider unterscheiden viele nicht und dann sind es die Unternehmer oder oft auch "z.B. der Daimler, der wie alle Unternehmer keine Steuern in Deutschland zahlt, obwohl er gut verdient" - und dann geht es auf die KMU`s los, da die auch Unternehmer sind und wie "der Daimler" agieren.
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 14:12:05
      Beitrag Nr. 10 ()
      # 1, nach dem Totalzusammenbruch der kommunistischen Pleiteparadiese und dem bevorstehenden Abgesang des verrotteten Wohlfahrtsstaates deutscher Prägung sollte man sich schnell in Erinnerung rufen, dass erst die Reichtumsmaschine Kapitalismus diese Verschwendungsorgien ermöglicht hat. Der wichtigste Aspekt ist aber, dass dieser Sozial- und Wohlfahrtsstaat eine nicht endenwollende Flut staatlicher Jobs - hauptsächlich aus den Schichten der so genannten Gebildeten und Intellektuellen erzeugt hat - die nun mit albernen Verschwörungstheorien internationaler Kapitalisten ihre völlig überflüssige Existenz zu rechtfertigen versuchen.

      Es ist gerade das Machtstreben dieser arbeitsscheuen Intellektuellen, dem ein Gutteil ihrer Marktfeindschaft entwächst. Wo der Markt und die Konsumenten regieren, ist für verkappte Kommunisten und verlogene Schmarotzer der Marke "Sozialhistoriker Roth" kein Platz. Was dieser halbseidene Kotzbrocken hier an Verlogenheiten dem aufgekärten Bürger einimpfen möchte, ist in seiner Gesamtheit schon dadurch widerlegt, dass weltweit die sozialistischen Länder in Unfreiheit und Armut darben, während in der so gescholtenen freien Marktwirtschaft für Jedermann sichtbar ein menschenwürdiges Dasein auf relativ hohem Niveau selbstverständlich ist. Weil aber diesen staatlichen Mitessern auf einem freien Markt die Macht- und Herrschaftschancen versperrt sind, hassen sie die Freiheit der Märkte und der Menschen.


      Beste Grüße KP
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 14:30:16
      Beitrag Nr. 11 ()
      #10
      Hört sich nach guter Zusammenfassung an, kartoffelpürree.

      Brauche ich also #1 nicht mehr zu lesen. (War mir eh zu lang und die Wortwahl in den Überschriften hatte mir schon gereicht). Es gibt wichtigeres, als sich über Neo-Marxisten-Gelabere zu unterhalten. Danke Kartoffelpürree.

      ;
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 14:59:19
      Beitrag Nr. 12 ()
      #10 kartoffelpürree wenn du wirklöich meinst,was du hier von dir gibst, bist du
      a- ein bornierter Demagoge
      b- erkennbar und unheilbar ideologisch verblendet

      #11 semi- selber lesen macht schlau - oder bist du etwa selbst einer dieser in #10 bezeichneten, "arbeitsscheuen Intellektuellen" ?:D

      Der Beitrag #1 ist übrigens - von einigen "Spitzen" abgesehen - sachlich kaum angreifbar:p
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 15:44:08
      Beitrag Nr. 13 ()
      Der Beitrag in #1 erinnert mich an die lustigen Fehlgeleiteten von DKP/KPD/KBW und Konsorten.
      :laugh:
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 17:04:35
      Beitrag Nr. 14 ()
      Es ist schon erstaunlich, mit welcher Inbrunst sich die in besonderer Weise von den sozialistischen Allesversprechern in staatliche Abhängigkeit gebrachten Bittsteller und Almosenempfänger an unerfüllbare Hoffnungen klammern, um weiterhin auf Kosten der Allgemeinheit ihr kümmerliches Dasein zu fristen. Bar jeder Eigenverantwortung und jedweder Eigeninitiative werden sie auf der ständigen Suche nach Schuldigen immer wieder bei den "bösen Kapitalisten" fündig und klammern sich nun verzweifelt an die verlogenen und in jeder Hinsicht widerlegbaren Thesen eines vom Steuerzahler ausgehaltenen Phrasendreschers, der sich selbst "Sozialhistoriker" nennt und damit liebäugelt, die Gunst der Stunde für die Gründung einer weiteren Partei links von der SPD zu nutzen.

      Die Chancen stehen nicht einmal schlecht, denn die jahrzehntelang Verdummten in unserer Bevölkerung glauben in ihrer Naivität allen Heilsversprechern, die ihnen die Widrigkeiten des Lebens abnehmen wollen. Vielleicht wäre das sogar zu wünschen, denn umso schneller tritt die vorprogrammierte Staatspleite ein, die dann Hoffnung auf einen Neuanfang zulässt.


      Beste Grüße KP
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 18:14:52
      Beitrag Nr. 15 ()
      Kartoffelpürree,

      das einzige, was ich von Ihnen hier gelesen habe sind Beschimpfungen und Beleidigungen. Und das mit einer Arroganz, gepaart mit einer Überheblichkeit, die man sonst doch recht selten antrifft.
      Sie Schreiben:
      Bar jeder Eigenverantwortung und jedweder Eigeninitiative werden sie auf der ständigen Suche nach Schuldigen immer wieder bei den " bösen Kapitalisten" fündig und klammern sich nun verzweifelt an die verlogenen und in jeder Hinsicht widerlegbaren Thesen eines vom Steuerzahler ausgehaltenen Phrasendreschers, der sich selbst " Sozialhistoriker" nennt und damit liebäugelt, die Gunst der Stunde für die Gründung einer weiteren Partei links von der SPD zu nutzen.

      Von den widerlegten Thesen habe ich von Ihnen bisher hier allerdings noch nichts gelesen. Das macht aber auch nichts - ganz im Gegenteil - es bestärkt einmal mehr meine Meinung von derartigen Leuten!

      Ronald
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 21:08:08
      Beitrag Nr. 16 ()
      Keine Macht für niemand
      Der Sozialkahlschlag: Perspektiven von oben – Gegenperspektiven von unten (Teil 2)
      Karl Heinz Roth

      »Alles in allem haben wir ein Projekt zur Polarisierung und Re-Proletarisierung der Weltgesellschaft vor uns, die zum Spielball einer neuen Spirale der »endlosen Kapitalakkumulation« geworden ist. Dieser Umbruch erfolgt nicht spontan, sondern wird durch die Herrschaftszentren des Weltsystems vorangetrieben. Jedoch ist es ziemlich wahrscheinlich, daß sie in absehbarer Zeit die Kontrolle über ihn verlieren, und das Weltsystem auf eine chaotische Transformation zusteuert, deren Ergebnis völlig ungewiß ist.

      Wie unsicher sich die Akteure selbst über den Ausgang ihrer Transformationsinitiative sind, bezeugt der Aufwand, den sie betreiben, um ihre Vorgehensweise medial, sprachlich und ideologisch abzusichern. Die Reaktion definiert sich als »Reform«, aus den Entmündigungsgesetzen werden »Betreuungsgesetze«, und in Zeiten steigender Massenerwerbslosigkeit werden die neuen Instrumente zur Arbeitserzwingung als »aktivierende Sozialpolitik« verharmlost. Im Dienst dieser semantischen Umdeutungen werden die Medien zum wichtigsten Scharnier zwischen den herrschenden Kapitalgruppen, den Entscheidungsträgern der großen Transformation, und den politischen Klassen als ihren Erfüllungsgehilfen. Tag für Tag produzieren und reproduzieren die Medien semantische Verdrehungen und visualisierte Lügen, um eine zweite, rein virtuelle Realität hervorzubringen, welche die katastrophalen Folgen des Restaurationsprozesses in Erfolgsberichte ummünzt.


      Wer nur im Reich dieser virtuellen zweiten Wirklichkeit zu Hause ist, kann keine Erfahrungen mehr sammeln und keine sozialen Lernprozesse mehr mitgestalten, weil er von seinen Mitmenschen isoliert ist und die Wirklichkeit der harten sozioökonomischen Tatsachen nicht mehr wahrnimmt. Diese beiden Funktionen erklären die Macht der Medien: Sie haben die politischen Klassen einzugemeinden und bei den Objekten der Restauration alle gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen, die elementaren Voraussetzungen für soziale Lernprozesse, vorbeugend zu zerstören. Dank der Medien ist der Kapitalismus in Dimensionen der »Gouvernementalität« (Michel Foucault) hineingewachsen, vor denen die Herrschaftsinstrumente der voraufgegangenen Akkumulationszyklen verblassen. Er hat begonnen, den Mentalitätswandel zu manipulieren und zu verkürzen, indem er die bislang mit diesem verknüpften gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhänge beseitigt.


      Wie könnten die Umrisse einer Gegenperspektive aussehen, die die Entschiedenheit zum Widerstand mit Vorstellungen über eine humane und sozial gerechte Welt verbindet? Über diese Frage ist inzwischen weltweit eine breite Diskussion in Gang gekommen, und sie beginnt immer deutlichere Konturen anzunehmen. Im Rahmen dieses Beitrags kann ich nur auf einige Aspekte verweisen, die mir besonders wichtig erscheinen.



      Die vier Voraussetzungen eines Gegenprogramms:


      Ansatzpunkte zu realistischen Gegenprogrammen und aussichtsreichen Handlungsmöglichkeiten gibt es meines Erachtens nur noch in einer internationalen Perspektive. Die Nationalstaaten und die aus ihnen hervorgegangenen übernationalen Blockbildungen (EU, NAFTA usw.) sind der neokonservativen Radikalisierung des kapitalistischen Weltsystems nicht mehr gewachsen. Die Gegenperspektive sollte sich vor allem nicht in Block-Konzepte einbinden lassen, denn dann würde sie nur Teil eines vielleicht noch gefährlicheren Umschlags des globalisierten Netzwerkkapitalismus in katastrophale innerimperialistische Machtkonflikte.


      Zum zweiten bin ich davon überzeugt, daß die Eroberung der politischen Macht kein Weg mehr ist, der zum emanzipatorischen Ziel hinführt. Die »traditionellen antisystemischen Bewegungen« (Immanuel Wallerstein) der Arbeiterbewegung wollten die gesellschaftliche Befreiung über den Staat in Gang bringen und vollenden. Dieses Projekt ist gescheitert. Aus dem Untergang des sogenannten Realsozialismus können wir nur noch lernen, vor welchen strategischen Fehlentscheidungen wir uns hüten sollten. Auch aus dieser Perspektive sind der Nationalstaat und die durch ihn begründeten Blockbildungen für uns kein Adressat mehr.


      Aussichtsreich erscheint mir deshalb nur noch ein breites soziales Bündnis, das von den Subproletarierinnen und -proletariern der neuen Massenarmut über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den selbständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs einbezieht, also zwei Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft. Es gibt keine »zentrale Arbeiterklasse« mehr. In jedem Standort werden andere Segmente des neuen Proletariats überwiegen, in den Schwellenländern sicher auch einmal die Belegschaften großer Industriebetriebe. Aber aus der Gesamtperspektive läßt sich keine Priorität für eine spezifische Schicht – seien es Erwerbslose, Jobber, Scheinselbständige oder Industriearbeiterinnen und -arbeiter - mehr festlegen. Vielleicht hat die Festlegung der historischen Arbeiterbewegung auf jene Klassensegmente, die aus zumeist männlichen freien Lohnarbeitern bestanden – beispielsweise die Facharbeiter oder die Massenarbeiter des Fordismus – schon immer ihre Perspektiven und Aktionsmöglichkeiten unnötig eingeengt.


      Das Klassenbündnis all derjenigen, die ihre Arbeitskraft vermieten oder Sozialeinkommen beziehen müssen, um leben zu können, ist viertens nur auf der Grundlage gemeinsamer Rahmenbedingungen und Vereinbarungen möglich. Seine entscheidende Voraussetzung aber ist und bleibt die konsequente innere Demokratie. Ich halte diese Hypothese für besonders wichtig, und deshalb möchte ich sie etwas näher erläutern:


      a) Nur in basisdemokratischen Strukturen läßt sich die elementare Forderung nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität dauerhaft verwirklichen. Mit dieser Grundforderung nehmen wir zugleich die Ziele vorweg, auf die sich eine Gegenperspektive verständigen sollte: Keine Macht für niemand – kein Eigentum für niemand – kulturelle Gleichberechtigung alles Heterogenen.


      b) Auf allen Ebenen des sich organisierenden Gegenprojekts sollte ein konsequentes Delegations- und Rotationsprinzip durchgesetzt werden, um die Entstehung neuer abgehobener Funktionärsschichten von vornherein zu vermeiden. Diese Forderung erscheint banal. Aber wer sich nicht erst seit gestern für emanzipatorische gesellschaftliche Perspektiven engagiert, weiß, wie wichtig eine schon im Vorfeld des Neubeginns getroffene Verabredung über diese Frage ist.


      c) Das Bündnis hat nur dann eine Perspektive, wenn die inneren Strukturen seiner Partner und Teilnehmer demokratisiert werden. Deshalb sollten auf mittlere Sicht bei allen Bündnispartnern basisdemokratische Strukturen geschaffen werden. Beispielsweise ist es sehr zu begrüßen, daß einzelne DGB-Gewerkschaften inzwischen auf die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen Wert legen. Für die Vertiefung zum Bündnis wären jedoch einige Voraussetzungen zu klären, die keineswegs auf die lange Bank geschoben werden können. So wären die extrem hohen Gehälter der Gewerkschaftsspitzen auf ein vertretbares Niveau zu senken. Sicher würde die Mehrheit dieser Spitzengruppe daraufhin kündigen, aber dies wäre nur zu begrüßen, weil sie qua Einkommen und Habitus nicht einer Gegenperspektive zuneigen, sondern im Innersten der politischen Klasse der Deregulierer angehören. Darüber hinaus sollten sich die Gewerkschaften von den Knebelungen des Betriebsverfassungsgesetzes – Stichwort: Aufsichtsratsmandate – und von der Mitbestimmung verabschieden, nachdem die Kapitalseite den historischen Kompromiß von 1944 zwischen Julius Leber und Claus Schenk Graf von Stauffenberg längst informell aufgekündigt hat.


      In allen diesen Fragen sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und nichts auf die lange Bank schieben. Auch die linken Gewerkschaftsgruppen sollten sich einmal darüber Rechenschaft ablegen, inwieweit sie von den Gewerkschaftszentralen nur deshalb toleriert werden, weil sie einen für das Image unverzichtbaren Rest von Basisaktivismus aufrecht erhalten. Letztlich werden sie aber nur nützliche Idioten bleiben und immer auf der Stelle treten, solange sie nicht die Frage nach der innergewerkschaftlichen Demokratie auf die Tagesordnung setzen. Solange sind auch sie für die Masse der Beschäftigten unglaubwürdig und werden zwischen der skeptischen Zurückhaltung der Belegschaften und der Blockadepolitik der Gewerkschaftsleitungen zerrieben.



      Die Offenheit einer emanzipatorischen Perspektive


      Wir sind Teil eines seit über 500 Jahren bestehenden Systems, das sich gegenwärtig in einem gravierenden Umbruch befindet, ohne daß sich dabei irgendwelche historische »Gesetzmäßigkeiten« ausfindig machen ließen, von denen wir ableiten könnten, wohin die Reise gehen wird. Es ist völlig unklar, ob die als »Deregulierung« bezeichnete Umlenkung der Kapitalakkumulation in das Innere der gesellschaftlichen Reproduktion wirklich gelingt, denn dies würde zur Zerstörung jeglicher Gesellschaftlichkeit führen. Genau so unsicher sind die Chancen des Widerstands und einer darauf aufbauenden Gegenperspektive. Selbst eine globale soziale Konfrontation ist denkbar, bei der sich keine der beiden zentralen Konfliktparteien durchsetzt, so daß aus der sich dann ergebenden Patt-Situation eine völlig neue Gesellschaftsformation hervorgehen könnte, die weder etwas mit den Restaurationsvorstellungen der kapitalistischen Denkfabriken noch mit unseren sozialistischen Erneuerungshoffnungen zu tun hat. Die Richtung, die der Umbruch nehmen wird, ist deshalb völlig offen. Gewiß wird der Widerstand gegen das seit Ende der siebziger Jahre vorangetriebene neokonservative Projekt Massencharakter annehmen, denn das ihm innewohnende Programm grundsätzlicher sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist für die große Mehrheit der Menschheit unerträglich. Der Ausgang der Konfrontation ist jedoch völlig offen: So offen, wie er es in der Großen Depression der 1930er Jahre war. Damals waren Faschismus und Zweiter Weltkrieg das traurige Ergebnis. Heute sind chaotische Zustände wahrscheinlicher, die sich unterhalb der Ebene weltweiter militärischer Konfrontationen abspielen und in zwanzig bis dreißig Jahren zu einer wie auch immer gewandelten komplexen Gesellschaftsformation überleiten.


      Auf jeden Fall bewegen wir uns auf ein Chaos zu. In dieser Phase der Instabilität können auch kleinere Initiativen große Wirkungen erzielen, wie Immanuel Wallerstein in seiner »Utopistik« betont hat. Wenn wir uns klar machen, daß ein Durchbruch zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit keineswegs gesetzmäßig ist; wenn wir also die Falle der sich von selbst gesetzmäßig verwirklichenden »Utopie« umgehen und mit einem möglichst großen Maß an Skepsis vorgehen, haben wir noch am ehesten die Chance, etwas zu bewirken. Gleichzeitig bewahren wir uns vor allzu großen Enttäuschungen.



      Existenzsichernder Mindestlohn


      Umrisse einer neuen Vermittlung zwischen konkretem Handeln und Gegenperspektive:


      Bei jedem handlungsorientierten Ansatz wäre vom jeweiligen lokalen »Standort« auszugehen, wo es handlungsbereite Menschen gibt und ihre Assoziation zu einem Bündnis gegen den Sozialkahlschlag möglich ist. Denn das vernetzte kapitalistische Weltsystem besteht heute aus 700 bis 800 Standorten plus jeweiligem Hinterland. Wenn wir uns in diesen Standorten verankern, befinden wir uns innerhalb der entscheidenden Nervenzentren des Weltsystems, von denen aus die Weltinstitutionen, supranationalen Machtblöcke und Nationalstaaten dirigiert werden.


      Je nach der sozialen Zusammensetzung der Standorte könnten im Prozeß des Aufbaus der ersten Kommunikationsnetze spezifische Aktionsformen entwickelt und erprobt werden. Generell denkbar wären Initiativen zur Durchsetzung eines existenzsichernden Mindestlohns, von radikaler Arbeitszeitverkürzung und betrieblicher Demokratisierung. In unseren Breiten könnte man hier an die Erfahrungen der Jobber- und Erwerbslosenbewegungen der 1980er Jahre anknüpfen, aber auch an die Praxis der neuen italienischen und französischen Basisgewerkschaften; die hiesige Gewerkschaftslinke könnte hier ihren Platz finden, falls das Projekt der innergewerkschaftlichen Demokratisierung mißlingen sollte. Daß in vielen Schwellenländern ganz andere Voraussetzungen bestehen und beispielsweise die in den maquiladores ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeiter eine wesentliche Rolle spielen werden, versteht sich von selbst.


      Parallel zu diesen Aktivitäten in der Produktions- und Verteilungssphäre könnten Stadtteilbüros gegründet werden, in denen die vom Sozialkahlschlag Betroffenen beraten werden, zugleich aber auch selbstorganisierte Netze der sozialen Kommunikation (lokale Radios und TV-Stationen) und der sozialen Aneignung aufbauen. Diese soziale Aneignung könnte man konkret – Gebührenboykott - , aber auch perspektivisch verstehen: Die Sozialfonds, Bildungseinrichtungen und das Gesundheitswesen sollten in kommunale Selbstverwaltung zurückgeholt werden, bevor sie vollends geplündert sind. Auch hier gibt es inzwischen erste Erfahrungen, beispielsweise aus Berlin und Ostdeutschland.



      Weltweite Vernetzung


      Wie aber könnten derartige lokale Initiativen miteinander in Kontakt treten? Als Brücke zwischen der lokalen Verortung und der weltweiten Vernetzung mit anderen Standortbewegungen könnten vor allem die Flüchtlinge und Migranten fungieren. Sie sind überall als kleinere oder größere Sozialgruppen präsent, und es dürfte nicht schwerfallen, ihre ohnehin schon bestehenden Kommunikationsstrukturen in das Gegenprojekt einzubeziehen, sofern sie an den jeweiligen Standorten geschützt und als gleichwertige Partner respektiert werden. Wenn es gelingt, beispielsweise die reichen Bremer Erfahrungen in der antirassistischen Flüchtlingsarbeit in eine lokal oder regional vernetzte Selbstorganisation einzubringen, dann wäre dies ein exemplarischer Schritt, der vielleicht auch andernorts vollzogen werden könnte. Mittelfristig sollte aber auch die Gründung global agierender Basisgewerkschaften – vor allem im Transport- und Kommunikationssektor – hinzukommen.


      Von großer Bedeutung wäre es nun, diese drei Komponenten eines social movement unionism auf der jeweiligen Ebene einer lokalen beziehungsweise regionalen Agglomeration miteinander zu verknüpfen und parallel dazu durch die Netzwerke der Migranten und Flüchtlinge, aber auch durch den Auf- und Ausbau internationaler Transportarbeitergewerkschaften den globalen Kontext herzustellen.


      Zu einem glaubwürdigen Gegenprojekt gehören aber auch Überlegungen und Vereinbarungen darüber, wie eine sozial gerechte und egalitäre Welt in ihrem globalen Kontext durchzusetzen wäre. Zweifellos kann eine ernsthafte Alternative gegen die neokonservative Zurichtung der Welt nur aus ihren lokalen und durch die Migranten und Transport- und Kommunikationsarbeiter vernetzten Gegenbewegungen hervorgehen. Aber diese Einsicht macht die seit einigen Jahren forcierten Bemühungen um weltweite Gegenforen und die in diesen Kontexten beispielsweise bei ATTAC entstandenen Modelle für globale Alternativen nicht gegenstandslos. Sie sollten allerdings über ihre punktuellen Ansätze (Tobin-Steuer) hinausgetrieben und systematisiert werden. Ein Schritt dazu wäre die Auflistung der wichtigsten Probleme, die nur noch auf Weltebene gelöst werden können, und das Nachdenken über mögliche Lösungsansätze zur Umsetzung. Hier muß ich mich mit ein paar schlagwortartigen Hinweisen begnügen.


      Zu den wichtigsten Aufgaben gehört zweifellos eine sofortige weltweite Abrüstung und die Auflösung aller Armeen. Parallel dazu müßten die internationalen Finanzmärkte liquidiert und ein globales monetäres Restrukturierungsprogramm mit transkontinental egalisierender Tendenz aufgelegt werden. Darüber sollte jedoch nicht die Dringlichkeit der Überleitung des Know-how der internationalen Rohstoffkonzerne und Energiekartelle zur Ingangsetzung eines egalisierenden und zugleich ökologisch orientierten Weltenregieprogramms übersehen werden. Von großer Bedeutung wäre auch die Entmachtung des internationalen Agro-Busineß und die Entwicklung eines egalisierenden globalen Agrarprogramms. Daß auch die Oligopole und Kartelle der Informations- und Medientechnologie durch global greifende Technologieprojekte mit egalisierender Tendenz zu ersetzen wären, versteht sich von selbst. Innerhalb der Internet- und Linux-Kultur gibt es ja durchaus Ansätze in diese Richtung. Das ist eine sehr unvollkommene Liste, die lediglich die Bedeutung dieser Reflexionsebene unterstreichen soll.


      Auf welcher institutionellen Ebene sollte man aber ansetzen? Ich denke, daß es sich lohnen würde, jene Weltinstitutionen zu studieren, die in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten geschaffen wurden. Zweifellos sind sie in der Folgezeit durch den Kalten Krieg und bei der Bekämpfung der Befreiungsbewegungen der Drei Kontinente bis zur Unkenntlichkeit deformiert sowie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Initiierung der »Schocktherapien« des globalen Sozialkahlschlags mißbraucht worden. Wenn wir davon aber abstrahieren und uns diese Modelle – vor allem IWF, Weltbank und Vereinte Nationen – in ihrer ursprünglichen Konzeption ansehen, dann erscheinen sie als durchaus brauchbare Ausgangspunkte: Als Ausgangspunkte wohlgemerkt, die durch eine kollektive Repräsentation der global vernetzten Alternative demokratisiert und in Instrumente einer weltweit greifenden sozialen und wirtschaftlichen Egalisierung umgewandelt werden müssen. Sie könnten dann als Dachkonstruktion eines föderativ-egalitären Projekts angesehen werden, das den Globus umspannt und das immer stärker zur Barbarei tendierende neokonservative Projekt beendet.


      Das alles sind nur erste Überlegungen. Jedoch sprechen gewichtige Annahmen dafür, daß es drei wesentliche Elemente sein werden, die geeignet sein könnten, eine realistische Gegenperspektive mit Leben zu füllen: Erstens die Maulwürfe der sozialen Gegenbewegungen in den Agglomerationen, zweitens die Netzwerke der Migranten sowie die Aktivisten einer weltweit agierenden gewerkschaftlichen Basisbewegung, und drittens die »organischen Intellektuellen«, die in diesen Netzwerken verankert sind und auf den globalen Gegen-Foren über die Wege zu einer sozial gerechten und egalitären Welt nachdenken.


      In diesem Sinn sollten wir gemeinsam an die Arbeit gehen – skeptisch und vorschichtig, aber auch im Vertrauen darauf, daß eine Wende zu sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit grundsätzlich möglich ist.


      -----------------------
      Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/03-20/004.php
      Ausdruck erstellt am 19.03.2004 um 21:06:09 Uhr
      Avatar
      schrieb am 19.03.04 21:13:23
      Beitrag Nr. 17 ()
      keine macht für niemand

      im grunde haben wir das schon lange.

      es scheint blos keiner zu merken. am wenigsten diejenigen, die glauben macht zu haben!
      Avatar
      schrieb am 20.03.04 16:38:07
      Beitrag Nr. 18 ()
      Hengsbach: "Die Agenda 2010 ist in meinen Augen gar keine Reform"
      Interview mit Pater Friedhelm Hengsbach, Leiter des Nell-Breuning-Instituts 8.3.2004
      Gerd Breker: Von allen Seiten prasselt es auf uns ein: Reformen seien notwendig, Reformen müssen im Zeitalter der Globalisierung sein. Wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt, die Sozialsysteme seien nicht mehr bezahlbar. Der Ökonom als Kandidat der Opposition für das Amt des Bundespräsidenten stimmt ein in diesen Chor. Die Agenda 2010 sei der Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht ausreichend. Die Union selber legte gestern nach und forderte drastische Einschnitte in das Tarif- und Arbeitsrecht. Das wurde zwar abgeschwächt, aber die Reformdiskussion in diesem Lande bleibt uns und dem Land erhalten. Am Telefon begrüße ich nun Pater Friedhelm Hengsbach, er leitet das Nell-Breuning-Institut an der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Guten Tag, Herr Hengsbach.

      Pater Friedhelm Hengsbach: Guten Tag, Herr Breker, ich grüße Sie.

      Breker: Der Begriff Reform hatte ja einmal einen positiven Beigeschmack. Nun, so scheint es, ist der Begriff zu einem Synonym für Sozialabbau degeneriert?

      Hengsbach: Ja, also, ich verstehe unter Reform etwas, dass sich die Lebenslage, zumindest der Mehrheit oder der gesamten Bevölkerung, verbessert. Ich könnte sogar aus einer sozial-ethischen Perspektive sagen, Reformen sollen diejenigen treffen, denen es schlecht geht, die benachteiligt sind und deren Situation sollte sich eigentlich durch eine Reform verbessern. Das geschieht nicht, also die Agenda 2010 ist in meinen Augen gar keine Reform. Es ist ja auch nur ein Spektakel, auch jetzt, was da jetzt angekündigt wird, es lebt von der Ankündigung, es sind heiße Versprechen, die aber schon jetzt im internen Parteienstreit wahrscheinlich auch wieder abgeflacht werden und insgesamt dann also auch vom Tisch kommen.

      Breker: Nun sagt der Kandidat Horst Köhler, die Richtung der Agenda 2010 stimme, sie sei allerdings noch nicht weitreichend genug. Da müssen Sie als Sozialethiker widersprechen?

      Hengsbach: Ja, ich wundere mich über diese Aussage, weil Herr Köhler bekannt ist, dass er den internationalen Währungsfond auf einen Reformkurs gebracht hat insofern, dass er bei seinen Anpassungsmaßnahmen, die er von den verschuldeten Entwicklungsländern verlangt, berücksichtigt, dass Gesundheitsausgaben, Bildungsausgaben und auch die sozialen Ausgaben für die ärmeren Teile der Bevölkerung nicht in dieses Kürzungspaket hineingepackt werden. Also, insofern habe ich gedacht, der Herr Köhler ist lernfähig, wie der internationalen Währungsfond lernfähig geworden ist. Aber für Deutschland schlägt er etwas vor, was gleichsam, würde ich sagen, selbst vom internationalen Währungsfond bereits auf den Müll gekippt worden ist, dass man Sozialpolitik als Hebel gebrauchen kann, um Wachstum und Beschäftigung in Gang zu setzen.

      Breker: Lernfähig hat sich auch die Sozialdemokratie in diesem Lande nach der Hamburg-Wahl gezeigt, allerdings nicht in der Sache, sondern in der Methode. Nach der Hamburg-Wahl, nach diesem Desaster für die SPD will sie den Bürger mitnehmen. Warum ist das so schwer, die Menschen auf diesem Weg der Reformen mitzunehmen?

      Hengsbach: Also, ich halte das für eine seltsame Methode und auch für eine seltsame Denkvorstellung. Das sind wirtschaftliche und politische Eliten, die nie in ihrem Leben mit dem Risiko von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug konfrontiert sind, und die entscheiden zu Lasten derjenigen, die arm sind oder derer, die in einem gefährdeten Wohlstand leben, und wundern sich, dass die Betroffenen das nicht mitmachen, weil sie auch an den Entscheidungsprozessen gar nicht beteiligt waren. Und dann heißt es, es ist ein Vermittlungsproblem. Es ist kein Vermittlungsproblem. Diejenigen, die betroffen sind, wissen genau, dass das, was als Reform propagiert worden ist, im Grunde ihre Situation verschlechtert.

      Breker: Warum macht man das? Liegt das daran, dass der Griff in die Taschen der Kleinen am leichtesten ist und am meisten bringt?

      Hengsbach: Ich habe den schweren Verdacht, dass die Lebenslagen derer, die diese so genannten Reformen beschließen, weit entfernt sind von der Lebenslage derer, die gleichsam von diesen Entscheidungen in besonderer Weise betroffen sind. Und das ist erschreckend. Ich denke schon, dass die Zusammensetzung des Bundestags, auch die Zusammensetzung derer, die im Kanzleramt diese sogenannten Reformen auskochen, dass die praktisch mit den unmittelbaren Gefährdungslagen, in denen immerhin ein Drittel der Bevölkerung mehr und mehr hineingerät, nicht vertraut sind.

      Breker: Aber es ist ja nicht nur die Regierung. Wir haben ja jetzt an diesem Wochenende auch erlebt, dass die Opposition nicht wesentlich anders denkt. Herr Hengsbach, hat sich vielleicht die Bedeutung des sozialen Friedens, die ja einmal sehr hoch gehalten wurde in diesem Land, hat sich das im Zeichen der Globalisierung total gewandelt, der soziale Frieden ist nichts mehr wert?

      Hengsbach: Die Globalisierung halte ich für einen Vorwand, genauso wie die demographische Entwicklung. Es geht ja nicht darum, dass jetzt die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme so hoch geworden sind, sondern es fehlen einfach die Einnahmen. Und die kommen praktisch durch die Beschäftigung und umgekehrt, sie gehen verloren durch die Massenarbeitslosigkeit. Und die Massenarbeitslosigkeit jetzt ist weder durch die zukünftige demographische Entwicklung, noch auch durch die Gefährdung durch die Globalisierung bedingt. Deutschland ist wettbewerbsfähig, der größere Teil des grenzüberschreitenden Handels wird mit anderen europäischen Ländern abgewickelt. Also, das ist nicht die eigentliche Ursache. Ich denke schon, dass was Sie genannt haben, schon das Entscheidende ist: Wir denken nicht mehr in den Kategorien von zwei Säulen, auf denen die soziale Marktwirtschaft ruht. Wir meinen, wir könnten, wenn wir die eine Säule, nämlich den sozialen Ausgleich, die Sicherheit, die Motivation der Beschäftigten, die Pflege des Arbeitsvermögens der Beschäftigten, wir können also diese eine Säule bröckeln lassen oder auch wirklich dann aufweichen und das Ganze würde in sich noch stabil bleiben. Und das ist nicht der Fall. Ich denke, die soziale Sicherung ist nicht in erster Linie ein Kostenfaktor, sondern ein Beitrag zur hohen Produktivität. Sie ist ein Beitrag vor allen Dingen, und das machen jetzt die Vorschläge der CDU/CSU deutlich, sie ist eigentlich ein Beitrag zur Friedensordnung und zur Konfliktregelung auf friedliche Weise. Was ist damit gewonnen, wenn ich den Leuten die Sicherheit, die Zuversicht, das Vertrauen und auch die Motivation nehme, eine Arbeit aufzunehmen und in dieser Arbeit zu bleiben. Diese gesellschaftlichen Werte werden, glaube ich, bei einer rein betriebswirtschaftlichen Kalkulation zu wenig berücksichtigt.

      Breker: Verstehen wir auch das Wirtschaftswachstum falsch, machen wir das Wachstum zum Götzen?

      Hengsbach: Wachstum alleine ist weder ein wirtschaftlicher, sinnvoller Wert, noch auch ein gesellschaftlicher. Wir müssten eigentlich an die Lebensqualität denken. Und die Lebensqualität wird nicht von solchen Größen wie Wachstum des Bruttosozialprodukts, ich müsste auf jeden Fall auch schon einmal die Verteilung berücksichtigen und zum anderen ist ja gar nicht damit gesagt, dass also, wenn das Bruttosozialprodukt wächst durch mehr Reparaturarbeiten an den Autos oder durch mehr Benzinverbrauch auf Grund von Staus, dass das auch die Lebensqualität positiv beeinflusst. Ich müsste eigentlich von der Lebensqualität der Menschen her denken. Es sind vitale Bedürfnisse da, werden sie befriedigt oder nicht? Die Menschen sind daran interessiert, ihr Arbeitsvermögen zu erhalten und nicht zu zerstören. Frauen sind daran interessiert, Gleichstellung und Autonomie sowohl für Männer, als auch für sie selbst durchzusetzen. Und das Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit ist bei den Menschen vorhanden und die Frage ist, geht die Gesellschaft, gehen die Politiker auf diese elementaren Bedürfnisse und Interessen ein oder nicht?

      Breker: Pater Friedhelm Hengsbach war das in den Informationen am Mittag im Deutschlandfunk. Er leitet das Nell-Breuning-Institut an der katholischen Hochschule Sankt Georgen. Herr Hengsbach, ich danke mich für dieses Gespräch.

      Hengsbach: Bitte schön.

      http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/245459/
      Avatar
      schrieb am 22.03.04 20:24:38
      Beitrag Nr. 19 ()
      "Nur in basisdemokratischen Strukturen läßt sich die elementare Forderung nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität dauerhaft verwirklichen. Mit dieser Grundforderung nehmen wir zugleich die Ziele vorweg, auf die sich eine Gegenperspektive verständigen sollte: Keine Macht für niemand - kein Eigentum für niemand - kulturelle Gleichberechtigung alles Heterogenen".

      So der Originalton des selbst ernannten "Sozialhistorikers" Roth. Kein Zweifel, hier hat sich ein interllektueller Hyper-Spinner wieder einmal nicht nur als völlig wirklichkeitsfremder Traumtänzer, sonder darüber hinaus auch noch als Anarchist mit steinzeitkommunistischem Gedankengut entlarvt.

      Dass diese verkorkste Interllektuellenbrut bei Habenichtsen und permanent Arbeitsscheuen, insbesondere bei Attac-Schreihälsen und Gewerkschaftsverwesern, immer wieder auf`s Neue ein dankbares Neidpublikum findet, ist die wahre Tragödie seit Auftreten des 68-er Straßengesindels. Diese Typen scheuen den Wettbewerb wie Drakula das Knoblauch und verachten in Wahrheit die Arbeitsamkeit freier Menschen. Sie verachten die Mühen und Niederungen des täglichen Lebens und sehnen sich danach, die Herrschenden möchten doch das verwirklichen, was sie für richtig und gut halten, um sich alsdann bei ihren gebildeten Ratgebern mit Ehrungen und lukrativen Positionen zu bedanken. Doch glücklicherweise haben diese neomarxistischen Staatsfaulenzer in einer globalisierten Welt keine Chance.


      Beste Grüße KP


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