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    Für Ewigmorgige: Zum Umbruch in der "DDR" - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 09.11.04 08:15:00 von
    neuester Beitrag 23.11.04 11:04:40 von
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      schrieb am 09.11.04 08:15:00
      Beitrag Nr. 1 ()
      junge Welt vom 18.10.2004 Thema

      Friedliche Revolution?

      Serie (I) Epochenumbruch 1989/91, Rückwende in der DDR vor 15 Jahren. Offenbar gab es eine Parallelität des »Neuen Denkens« in beiden Supermächten – mit unterschiedlichem Realitätsgehalt

      Uwe Jens Heuer * Zur Rückwende in der DDR vor 15 Jahren, die den Epochenumbruch 1989/91 einleitete, beginnen wir heute eine Artikelserie, die in den kommenden Wochen und Monaten in loser Folge erscheinen und am 3. Oktober 2005 beendet wird. Ihr Gegenstand ist weniger die Rekonstruktion der dramatischen Ereignisse jener Endzeit der DDR als vielmehr der Versuch, mit dem Wissen von heute die Vorgänge von damals zu analysieren und zu bewerten und so einen Beitrag zur historischen Analyse der Ursachen und Bedingungen, der Triebkräfte und Akteure der Niederlage des ersten Sozialismusversuchs auf deutschem Boden zu leisten.

      Im Jahr 1989 begann in der DDR ein Prozeß, der binnen eines Jahres zu ihrem Ende führte. Viele hatten mit ihm große Hoffnungen verbunden. Jetzt, 15 Jahre später, ist eine realistische Sicht auf den Ablauf der Ereignisse notwendig und möglich.

      Damals hatte Jürgen Kuczynski in Neues Deutschland (ND) am 8. November 1989 von konservativer Revolution zur Erneuerung des Sozialismus gesprochen. Michael Brie veröffentlichte in der Berliner Zeitung vom 30. November 1989 einen Artikel »Die Wende wird zur Revolution« und sprach von »der Gestaltung einer modernen Gesellschaft mit sozialistischer Orientierung«. Bei Manfred Kossok war im ND vom 10./11. März 1990 von demokratischer und sozialistischer Revolution die Rede. Stefan Bollinger verficht auch heute noch die These von einer demokratischen Revolution im Sozialismus, deren Thermidor mit der Maueröffnung begann.1 Diese These wiederholte auch sein mit dem Segen der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS versehener Artikel »Ein Untergang und ein Abschied« (ND, 2./3. Oktober 2004).

      In den Medien dominiert heute die Auffassung, daß es sich um eine Revolution völlig neuer »zivilisierter« Art gehandelt habe. Wolfgang Schäuble hatte 1991 den Ereignissen den Charakter einer »richtigen« Revolution abgesprochen, da glücklicherweise kein Blut geflossen sei, sonst »hätten wir ... die Vereinigung nicht erreicht«.2 Frank Brunssen rühmt 1999 »die zivilisierte Strategie der Gewaltlosigkeit«. Mark R. Thompson postuliert: »Demokratische Revolutionen haben gemäßigte Ziele. Die Opposition will die Welt nicht verändern, sondern das politische System demokratisieren.«3 Das gleiche Medium, die Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte der Zeitung Das Parlament wird fünf Jahre später am 4. Oktober 2004 mit einem Essay Tobias Hollitzers »15 Jahre Friedliche Revolution« eingeleitet.

      Kräfteverhältnisse 1989

      Zur Bewertung der Umwälzung halte ich es für notwendig, die Kräfteverhältnisse 1989 zu skizzieren sowie die Schlußfolgerungen, die daraus in den USA und in der Sowjetunion gewissermaßen im Gleichtakt gezogen wurden, an deren Vollstreckung dann die BRD aktiv mitwirkte und deren Opfer die DDR wurde – also die eruptiven Veränderungen in der DDR in die »Weltveränderung« einzubetten.

      Den Ausgangspunkt für den Ablauf der Ereignisse von 1989 bildete die neue Europa-, vor allem Deutschlandpolitik der USA im Frühjahr 1989. Philip Zelikow und Condoleezza Rice bringen sie mit der im Februar 1989 beginnenden Doppelherrschaft in Polen in Verbindung, die unverzüglich durch ein Hilfsangebot der USA honoriert wurde.4 Im April 1989 erklärte der neue US-Botschafter in der Bundesrepublik, Vernon A. Walters, ehemals stellvertretender CIA-Direktor, bei seinem Antrittsbesuch Wolfgang Schäuble, daß die Wiedervereinigung bevorstünde. Er begründete seine Zuversicht mit der Aufhebung der »Breshnew-Doktrin« durch Michail Gorbatschow. (Nina Grunenberg in der Zeit vom 28.9.1990) Im März 1989 war dem neuen Präsidenten George Bush ein Memorandum überreicht worden, das mit den Worten begann: »Heute sollte die oberste Priorität der amerikanischen Europapolitik das Schicksal der BRD sein.« Helmut Kohl solle in der BRD gestärkt und zugleich »auf dem Wege der Durchsetzung gemeinsamer Werte die Teilung des Kontinents« überwunden werden. Das entscheidende Ziel sei nach den Worten Brent Scowcrofts »die Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins, denn das würde ein klares Zeichen setzen, daß der Kalte Krieg beendet sei«.

      Bush unterschrieb die Direktive NSD-23, jetzt über containment (Eindämmung ) hinauszugehen. Helmut Kohl wurde entsprechend informiert. Alexander von Plato faßt zusammen: »George Bush und seine Regierung waren im Frühjahr und Sommer 1989 meiner Ansicht nach die einzigen unter den damaligen Regierungen, die die Möglichkeit der Einheit Deutschlands konkret ins Auge faßten und mit dieser Politik gegen einen befürchteten wachsenden Einfluß der Gorbatschow-Politik in Mittel- und Westeuropa antraten.«5

      Diese Wende der USA verlief parallel zu einer Umorientierung der sowjetischen Politik. Ein wichtiges Signal war die seit dem Gipfel 1986 in Sofia immer wiederholte These Gorbatschows, daß jede Partei für sich selbst verantwortlich sei. Ähnlich zweideutig war auch die häufig gebrauchte Formulierung vom »gesamteuropäischen Haus«. Bereits im Oktober 1986 hat Gorbatschow nach eigener Aussage die Priorität der allgemeinmenschlichen Werte und Interessen gegenüber den Klasseninteressen verfochten.6

      Diese ideologische Kehrtwende wurde im Westen zunächst für ein Täuschungsmanöver gehalten. Im Osten gab es Zustimmung und Besorgnisse. Die praktischen Schritte mußten entscheidend sein. Im Verhältnis zur DDR wurden sie von der »Germanistenfraktion« in Gorbatschows Umgebung eingebracht. In der Öffentlichkeit prellte am aktivsten Wjatscheslaw Datschischew vor, seit April 1987 Vorsitzender des »Wissenschaftlichen Beirates sozialistische Länder Europas« beim Außenministerium. Er hätte den Kalten Krieg für aussichtslos von Seiten der UdSSR gehalten. Man mußte seine Wurzeln ausreißen und die sowjetische Vorherrschaft über Osteuropa aufgeben, bekannte er im ND vom 5./6.Mai 2001.

      Es gab offenbar eine Parallelität des »Neuen Denkens« in beiden Supermächten, allerdings mit erheblich unterschiedlichem Realitätsgehalt. Wie offen diese Fragen damals wechselseitig angesprochen wurden, wird nicht offenbar. Wenn sich allerdings Bollinger (S.34, S. 43) gegen die Annahme von feindlichen Verschwörungen und geheimen Absprachen zwischen Moskau und Washington im Buch »Das Geschenk« wendet, so übersieht er, was wir inzwischen alles über sogenannte back channels etwa zwischen BRD und Sowjetunion ab 1969/70 wissen.7 Die USA-Spitze war sich im Frühjahr 1989 darin einig, daß Gorbatschow aufgrund des Scheiterns seiner Perestroika zu grundsätzlichen Zugeständnissen bereit war.

      Offene Destabilisierung

      Zum Besuch Kohls in Moskau am 24. Oktober 1988 vermerkte Gorbatschow: »Wenn erst die Entscheidungsträger sich gegenseitig vertrauen, werden viele schwierige Fragen einfacher, rascher, ohne überflüssige diplomatische Winkelzüge und Formalitäten entschieden.« Und: »Wir verabschiedeten uns – so schien es mir – in herzlicher Zuneigung.« (»Erinnerungen«,S. 703-705). Später allerdings beschwor er immer wieder seine Enttäuschungen über Kohl. Nach alledem scheint mir die Schlußfolgerung von Siegfried Prokop zwingend zu sein: »Das letzte Jahr der DDR hatte also bestimmte weltpolitische Voraussetzungen. Keine der 1989/90 agierenden DDR-Regierungen besaß noch eine Chance, eigene Intentionen zu verwirklichen, wenn sie diesen Voraussetzungen widersprachen.«8

      Auf dieser Grundlage konnte die Bundesregierung ihre Tonart gegenüber der DDR von Monat zu Monat und dann von Woche zu Woche bis zur offenen Destabilisierung verschärfen. Am 13. Juni 1989 ist in der gemeinsamen Erklärung von Gorbatschow und Kohl zu ihrem Treffen in Bonn vom Selbstbestimmungsrecht aller Völker und Staaten die Rede, beide Seiten würden zur Überwindung der Trennung Europas beitragen, aber die DDR findet überhaupt keine Erwähnung mehr.9

      Am 22. Juni legte Staatssekretär Otfried Hennig nach. Die gesamteuropäische Integration werde »auf den Werten beruhen, die auch das System der USA bestimmen: Der in Agonie verfallende Sozialismus und sein System der Unfreiheit werden überwunden« (»Texte«, S. 177 f.). Tatsächlich hatte in Polen die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei bei den Wahlen am 4. Juni eine katastrophale Niederlage erlitten, am 24. August wurde der Walesa-Berater Tadeusz Mazowiecki als Ministerpräsident bestätigt.

      An diesem Prozeß in Polen hatte die CIA im Zusammenspiel mit dem Vatikan gewichtigen Anteil. In Ungarn wurde dieser Part jetzt von der BRD übernommen. Nach dem ersten öffentlichen Abbau von Grenzanlagen in Ungarn am 2. Mai schnitt am 27. Juni der neue Außenminister Gyula Horn in Anwesenheit seines österreichischen Kollegen ein Stück des Zaunes ab und überreichte es Ronald Reagan bei dessen Besuch im Budapest am 10. Juli. Anfang August besetzten DDR-Bürger die BRD-Botschaften in Budapest und Prag.

      Am 19. August wird bei Sopron eine Massenflucht von über 600 Personen organisiert. Zehntausende DDR-Urlauber sind die weiteren Ansprechpartner. Den letzten Abschnitt seines Buches »Freiheit, die ich meine«, Hamburg 1991, leitete Horn mit den Worten ein: »Ich war überzeugt, daß die internationalen Voraussetzungen für eine souveräne ungarische Außenpolitik noch nie so günstig waren, und es eine Sünde wäre, diese einmalige Chance zu verpassen.« Ungarn hätte dabei die größte Unterstützung von der Bundesrepublik bekommen. »Ich bin überzeugt, daß die ungarischen Reformkräfte vor allem zur Zeit der Wende von 1988/89 ohne die konkrete Zusammenarbeit und die Kredite nicht obenauf geblieben wären.« (S. 293, 318).

      Kohl ging jetzt aus der Reserve. »Wir alle«, erklärte er am 22. August 1989, »sind in diesen Wochen durch die Berichte und Bilder von Budapest und Ost-Berlin aufgewühlt, die uns vor Augen führen, wie Männer, Frauen und Kinder – unsere deutschen Landsleute – einen Weg in die Freiheit suchen.« Und am 5. September: Jeder, der aus der DDR kommt, wird »bei uns als Deutscher aufgenommen«. Am 14. September konstatiert Kanzleramtsberater Rudolf Seiters, daß jetzt 18 000 Menschen über Ungarn in den Westen gelangt seien, davon 13 000 in den letzten Tagen. Am 30. September berichtete Hans-Dietrich Genscher triumphierend vom beschlossenen Auszug aus der Prager Botschaft. Das Ganze lief ununterbrochen über das die DDR längst beherrschende Westfernsehen und bereitete die endgültige Niederlage der DDR vor. Dieser Wirkung rühmt man sich heute offen. »Die Korrespondenten, besonders von Hörfunk und Fernsehen, haben einen großen Nagel in den Sarg der DDR geschlagen«, die Anwesenheit der Westjournalisten und ihre Wirkung im Osten »war auf die Dauer für das Regime nicht verkraftbar«. (Lothar Loewe und Fritz Pleitgen, Berliner Zeitung, 21.7.2004).

      Kohl: »Es ist gelaufen«

      Die nächste Stufe des Massenprotestes zielte nicht auf Flucht, sondern unmittelbar auf Veränderung in der DDR. Auch ihre Grundlage war die rasch wachsende Unzufriedenheit vor allem der Jugend, die offenbare Unmöglichkeit, den ökonomischen Abstand zur BRD wenigstens zu verringern und die Einforderung von Glasnost nach dem Vorbild der UdSSR. Im September und Oktober bildeten sich über hundert Gruppen, darunter am 1. Oktober das Neue Forum und am 7. Oktober die Sozialdemokratische Partei (SDP), die rasch, wieder vom Westfernsehen befördert, Massenprotest auslösten. Am 25. September demonstrierten in Leipzig erstmalig 6 000 Menschen, am 9. Oktober waren es 70 000, eine Woche später bereits 120 000 unter den Losungen »Wir sind das Volk« und »Keine Gewalt«. Immer mehr andere Städte folgten nach. Die größte Demonstration fand dann am 4. November in Berlin mit 500 000 Teilnehmern statt. Am 9. November wurde die Grenze geöffnet. Bereits einen Tag zuvor hatte Kohl erklärt, die BRD sei nicht bereit, unhaltbar gewordene Zustände zu stabilisieren. »Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird.« Damit ist wohl die These Bollingers im ND widerlegt, daß die Situation durch die »überstürzte, ungeordnete Grenzöffnung am 9. November« von Grund auf verändert wurde.

      Kapitalistische Restauration

      Die Maueröffnung konnte inzwischen von der BRD jederzeit herbeigeführt werden. Am 28. November forderte Kohl eine Verständigung der DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen über Verfassungsänderung und ein neues Wahlgesetz. Er dachte bereits über konföderative Strukturen nach, mit dem Ziel, »eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen«. Die Wechsel von Erich Honecker und Egon Krenz hin zu Hans Modrow und Lothar de Mazière führten nicht zu Kompromissen, sondern nur zu immer kräftigerem Auftreten Kohls. Beim begeisterten Empfang in Dresden am 19. Dezember sagte Kohl zu Seiters: »Es ist gelaufen.« (N. Grunenberg)

      Am 25. Januar 1990 wurde das Ganze im Kreml abgesegnet. Nach dem Tschernajew-Protokoll zog Gorbatschow eine Parallele zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk 19l8. (von Plato S.187-194). Modrow konnte das Ergebnis am 30. Januar 1990 nur noch entgegennehmen und seinerseits am 1. Februar die Losung »Deutschland, einig Vaterland« ausgeben. Am 13./14. Februar wurde dann Modrow und seiner »Regierung der nationalen Verantwortung«, darunter den Ministern der Opposition, die übrigens am stärksten enttäuscht waren (von Plato S. 296-299), von Kohl klargemacht, daß sie nichts mehr zu erwarten hätten. Sie sollten nur noch den Zusammenbruch vor dem Wahltermin am 18. März verhindern.

      Dem neuen Ministerpräsidenten Lothar de Mazière ging es nur zeitweise besser. Schäuble betonte längere Zeit de Mazières »unersetzliche Rolle«. »Ihm hatte ein großer Teil der Bevölkerung das Vertrauen ausgesprochen. Ohne ihn hatten wir keine Chance.« Das gelte auch für seine Nachdenklichkeit, sein Zögern. Zugleich erklärte er seinen DDR-Partnern immer wieder: »Hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt.«10 Ende Juli 1990 nahmen Kohl und Schäuble dann das Heft voll in die Hand.

      Kohl hatte, gestützt auf die USA, die taktische Meisterleistung vollbracht, die unwilligen anderen Verbündeten solange wie möglich über das eigentliche Ziel im Unklaren zu lassen, die inneren Kritiker der Politik Gorbatschows nicht zu zeitig zu verprellen sowie die fehlende Einsicht der SPD in die weltpolitische Entwicklung so zu nutzen, daß seine bereits gefährdete Wiederwahl gesichert war. Die Entschlossenheit der USA- und der BRD-Regierung, die Beseitigung der anderen Supermacht zu betreiben und dann die veränderte Lage voll auszunutzen, läßt nur die Schlußfolgerung zu, daß es 1989/90 keinerlei Chance für eine demokratisch-sozialistische DDR gab. Viele der DDR-Akteure waren sich dessen nicht bewußt.

      »Das Tragische im Agieren der DDR-Politik im 41. Jahr besteht darin, daß die Mehrheit der handelnden politischen Persönlichkeiten – auch mangels kritischer Bestandsaufnahme der Realitäten – nichts wußte bzw. erahnte.« (Siegfried Prokop, S. 164). Auf einer Veranstaltung mit Teilnehmern der Demonstration vom 4. November wurde festgestellt, daß die Hoffnung auf einen besseren Sozialismus den realistischen Blick verstellt hätte. (Berliner Zeitung, 2.11.2004).

      In Anbetracht der 400000 Sowjetsoldaten in der DDR, des Widerstands gegen die »Vereinigung« in der DDR-Bevölkerung und bei der Mehrzahl der anderen Staaten konnte das Ende der DDR nur unter der Losung »Keine Gewalt«11 und unterstützt von der Hoffnung auf einen »Dritten Weg« eingeleitet werden. Die alte Macht wurde paralysiert, aber eine neue nicht aufgerichtet, die Eigentumsfrage nicht gestellt. Auch die SED-Reformer konnten nur beim Totalabbau des alten Systems einen allerdings gewichtigen Beitrag leisten, schließlich konnte die DDR ohne SED nicht funktionieren. Gregor Gysi erklärte in seinem Referat auf der 4. Parteivorstandssitzung der PDS am 3. und 4. Februar 1990 nicht ohne Stolz: »Alle reden darüber, wie man die Strukturen der alten SED kaputtmacht. Wir haben es getan.« (»Das Geschenk« S. 343).

      Chancen für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft hatten auch die PDS-Reformer keine einzige Minute. Offensichtlich fällt es jedoch einigen sehr schwer, ihre damaligen Illusionen als solche anzuerkennen. Noch 1995 sprach der Bundesvorstand der PDS in einer Erklärung zum 5. Jahrestag der »Vereinigung« von einer großen historischen Chance: »Der Aufbruch in der DDR stellte daher am Anfang beide Systeme in Frage.« (PID der PDS 1995, Nr. 37)

      Erst mit der Machtübernahme durch einen neuen Staatsapparat mit Westdeutschen als führendem Kern und der durch die Währungsunion und die Treuhandanstalt bewirkten Umwälzung der Eigentumsverhältnisse wurde der Prozeß abgeschlossen. Der erste Teil war keine eigenständige Etappe mit offenem Ausgang, wohl aber die Voraussetzung des zweiten, und das Ganze war keine sozialistische Revolution, sondern eine kapitalistische Restauration. Dabei bildete die Umwälzung in der DDR gleichsam das Kernstück der Umwälzungen, die in Polen begannen und mit dem Ende der Sowjetunion abgeschlossen wurden und deren Abläufe sich jeweils sehr ähnlich sahen. Das »sozialistische Weltsystem« als Ganzes hat sich als schwächer als seine Gegner erwiesen, und dazu haben schwere eigene Fehler, auch strukturelle Nachteile, beigetragen. Dieser welthistorische Umschwung wird für mich am besten mit dem Begriff des Epochenumbruchs charakterisiert, also als Beginn einer neuen Epoche12, deren Gesicht – wie geplant – durch den vorläufigen Triumph des US-amerikanischen Imperialismus bestimmt wird.

      1 Stefan Bollinger (Hg.): Das letzte Jahr der DDR, Berlin 2004, in seiner Einleitung, S. 24 f.

      2 Wolfgang Schäuble: Der Vertrag, Stuttgart 1991, S. 15

      3 Frank Brunssen: Die Revolution in der DDR, Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Zeitung Das Parlament, 45/99, S. 13. Mark R. Thompson: Die »Wende« in der DDR als demokratische Revolution, ebenda, S. 2

      4 Philip Zelikow und Condoleezza Rice: Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, 2000 als Taschenbuch, S. 54

      5 Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Berlin 2000, S. 19 f.; Eberhard Czichon, Heinz Mahron: Das Geschenk, Köln 1999, S. 40 ff.

      6 Michail Gorbatschow: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 303

      7 Vgl. Egon Bahr: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 282 ff. sowie von der anderen Seite W. Keworkow: Der geheime Kanal, Berlin 1995

      8 Siegfried Prokop: Glanz und Elend des Jahres 1989/90. In: Ansichten zur Geschichte der DDR, hg. von Ludwig Elm, Dietmar Keller und Reinhard Mocek, Bd. IX/X, Bonn-Berlin 1998, S. 164

      9 BM f. innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Texte zur Deutschlandpolitik, Reihe III Bd. 7 1989, S. 148–150

      10 Wolfgang Schäuble, ebenda, S. 145 f., S. 131

      11 »Die strikte Gewaltfreiheit war der Hebel, der das System zum Einsturz brachte, ihn überhaupt ermöglichte und den Gegenschlag der Nomenklatura elegant vermied.« (Jens Reich: Rückkehr nach Europa, München-Wien 1991, S. 181)

      12 Vgl. zum Epochenbegriff U.-J. Heuer: Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten, Baden-Baden 2002, ab S. 461



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      Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/10-18/003.php
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      schrieb am 09.11.04 08:16:53
      Beitrag Nr. 2 ()
      junge Welt vom 30.10.2004 Thema

      Die DDR war nicht pleite

      Der Epochenumbruch 1989 (Serie, Teil II). Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen und das Scheitern der DDR

      Siegfried Wenzel * Zur Rückwende in der DDR vor 15 Jahren veröffentlicht jW eine in loser Folge erscheinende Artikelserie. Ihr Gegenstand ist weniger die Rekonstruktion der dramatischen Ereignisse jener Endzeit der DDR als vielmehr der Versuch, mit dem Wissen von heute die Vorgänge von damals zu analysieren und zu bewerten und so einen Beitrag zur historischen Analyse der Ursachen und Bedingungen, der Triebkräfte und Akteure der Niederlage des ersten Sozialismusversuchs auf deutschem Boden zu leisten. Im Teil I (jW vom 18.Oktober 2004) zerpflückte Uwe Jens Heuer den Mythos von der »friedlichen Revolution«.

      Auf dem Gebiet der späteren sowjetischen Besatzungszone wurden im Jahre 1936 gut 27 Prozent der gesamten deutschen Nettoproduktion der eisen- und stahlverarbeitenden Industrie erzeugt. Der Anteil der dafür erforderlichen Grundrohstoffe, vor allem Roheisen, Walzstahl, Koks und Steinkohle, betrug jedoch nur fünf Prozent; Steinkohle 1,9 Prozent, Eisenerz sechs Prozent, Roheisen 4,3 Prozent, Rohstahl 6,6 Prozent. Dieses Gebiet war auf westdeutsche Lieferungen existentiell angewiesen und ohne diese nicht lebensfähig. Außerdem bestanden auch auf den Gebieten der verarbeitenden Industrien wie Maschinenbau und Elektrotechnik sowie Chemie vielfältige Verflechtungen und Zulieferabhängigkeiten. Im Osten Deutschlands lag ein beträchtlicher Teil der Textil- und Konfektionsindustrie, als Vorstufen dazu vor allem die Webereien. Die Spinnereien lagen meist in den Westgebieten. Deshalb hieß es im Teil III, Punkt 14 des Potsdamer Abkommens: »Während der Besatzungszeit ist Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu betrachten.«

      Rohstoffe und Reparationen

      Die Sowjetunion und die jungen Volksdemokratien waren nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht in der Lage, Rohstoffe für die entwickelte Industrie auf dem Gebiet der DDR zu liefern.

      Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion und ihre Rolle für die Entwicklung und das Scheitern der DDR werden durch folgende Hauptlinien charakterisiert:

      1. Die Periode von 1946 bis 1953 war gekennzeichnet von den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, insbesondere von der Tatsache, daß die UdSSR die in Potsdam besprochenen Reparationen in Höhe von zehn Milliarden Dollar entgegen den im Potsdamer Abkommen getroffenen Festlegungen allein aus der sowjetisch besetzten Zone entnehmen mußte, und diese außerdem um zirka 50 Prozent überzog. Zu dieser Periode gehörte die Umwandlung einiger Betriebe in Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) anstelle ihrer Demontage und deren sukzessive Rückgabe an die DDR sowie die forcierte Entwicklung der deutsch-sowjetischen AG Wismut zum Abbau des einzig nennenswerten Uranerzlagers im sowjetischen Herrschaftsbereich, wodurch der DDR beträchtliche Ressourcen für die Entwicklung ihrer Wirtschaft entzogen wurden.

      Erst im Jahre 1957 entschloß sich die sowjetische Führung, offenbar in Auswertung der ungarischen Ereignisse 1956, den Grundrohstoffbedarf der verarbeitenden Industrie der DDR zu decken. Im Ergebnis erhöhten sich 1957/58 die Lieferungen der UdSSR, teilweise zu Lasten des eigenen unbefriedigten Bedarfs, um 20 bis 30 Prozent. Das bedeutete, nach Kriegsende mußte die Wirtschaft der SBZ und der DDR zwölf Jahre lang von der Hand in den Mund leben. Erst ab 1957 wurde die wirtschaftliche Entwicklung der DDR im eigentlichen Sinne berechenbar und planbar. Der Versuch, in den fünfziger Jahren eine eigene metallurgische Basis zu schaffen durch die Errichtung des Eisenhüttenwerkes Calbe an der Saale zur Verhüttung eigener eisenarmer Erze auf der Grundlage der Niederschachtofentechnologie und später durch den Bau des Eisenhüttenkombinats Ost überbeanspruchte die durch hohe Reparationen geschwächte Akkumulationskraft und brachte kurzfristig keine Lösungen.

      Bereits 1959 wurde jedoch deutlich, daß die UdSSR aufgrund der Zerstörungen ihrer Hauptindustriegebiete im Zweiten Weltkrieg und der Schwächen des sowjetischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells nicht in der Lage war, den wachsenden Rohstoffbedarf der DDR zu befriedigen. In den Geheimarchiven aufgefundene Berichte belegen, daß die UdSSR in Regierungsverhandlungen bereits im Jahre 1959 nur etwa die Hälfte der von der DDR für die Jahre 1960 bis 1962 gewünschten Lieferungen zusagte. Der Vorsitzende der Plankommission, Bruno Leuschner, schätzte im Politbüro der SED ein, daß bei dieser Basis nur unter »Aufbietung äußerster Anstrengungen« an dem für den Zeitraum 1959 bis 1965 ausgearbeiteten Siebenjahrplan festgehalten werden könne. Diese Situation bestimmte auch die Verhandlungen über die gegenseitigen Lieferungen in den folgenden Jahren, deren unbefriedigender Verlauf als einer der Gründe für den Selbstmord des damaligen Plankommissionschefs Erich Apel im Jahre 1965 vermutet wird.

      Verflechtung der Volkswirtschaften

      2. Die kontinuierliche und bedarfsgerechte Versorgung der Industrie mit Roh- und Brennstoffen war für die DDR die Schlüsselfrage, um endlich einen normalen Produktionsrhythmus zu gewährleisten. Walter Ulbricht hatte im Jahre 1968 der sowjetischen Führung Verhandlungen vorgeschlagen mit der Begründung: »Um den Rückstand von über 20 Prozent in der Arbeitsproduktivität gegenüber der BRD aufzuholen, ist es erforderlich, die Versorgung mit Rohstoffen zu klären.« Das betreffe »den ständig wachsenden Bedarf an Walzstahl, Aluminium, Erdöl, Buntmetallen und Zellstoff«. Hierzu wurden langfristige Verhandlungen bis 1980 und 1990 vorgeschlagen. Da Ulbricht – wie es hieß – aus gesundheitlichen Gründen verhindert war, hat die Verhandlungen im Juli 1968 Willi Stoph geleitet. Die DDR-Regierung ersuchte die sowjetische Seite um die Einhaltung ihrer Lieferverpflichtungen. Die Entwicklung der DDR sei nur möglich, wenn die Lieferungen der Rohstoffe kontinuierlich erfolgen und entsprechend »unserem begründeten Bedarf erhöht werden«.

      Am zweiten Beratungstag erklärte Leonid Breshnew laut geheimer Niederschrift, daß die erbetenen Lieferungen von Erdöl, Erdgas, Walzstahl, Aluminium, Kautschuk, Kupfer u.a. »um die Hälfte gekürzt werden müssen«. Er verwies auf die »angespannte wirtschaftliche Situation der Sowjetunion«, bedingt durch wachsende Militärausgaben, »Kosten für die Unterstützung Vietnams, Länder des Nahen Ostens und eine Reihe kleiner Staaten«.

      Damit war erneut die materielle Basis der ökonomischen Perspektive der DDR nach mehr als der Hälfte der ihr zugemessenen Existenz weit unterhalb ihrer ökonomischen Möglichkeiten festgeschrieben. Die bereits vertraglich vereinbarten Erdöllieferungen wurden im Zusammenhang mit dem »Erdölpreisschock« 1979/80 um zwei Millionen von 19,1 auf 17,1 Millionen Tonnen gekürzt.

      Mitte 1973 wurde begonnen, die langfristige Entwicklung der Volkswirtschaften der DDR und der UdSSR intensiver abzustimmen. Beide Länder gingen dazu über, gemeinsame Entwicklungskonzeptionen für ganze Produktionsbereiche auszuarbeiten. Man sprach von der Verflechtung der Volkswirtschaften. Dieses Konzept war seitens verantwortlicher Ökonomen der DDR mit der Hoffnung verbunden, auf diesem Wege den steigenden Rohstoffbedarf für ihre verarbeitende Industrie gewährleisten zu können. Seitens der UdSSR zielte die Verflechtung auf die Nutzung des industriellen Potentials sowie der wissenschaftlich-technischen Potenzen der DDR für die Entwicklung der schwerfälligen Basis der sowjetischen Industrie und Volkswirtschaft. Gleichzeitig spielte bei internen Diskussionen eine Rolle, daß mit einer Verflechtung der Volkswirtschaften die DDR unter den Bedingungen einer bestimmten Öffnung zur BRD fest an die UdSSR gebunden werden könnte.

      Die DDR deckte einen bedeutenden Teil des Bedarfs der UdSSR an Eisenbahnwaggons, Fischfang- und Verarbeitungsschiffen, Kranen, besonders Hafenkranen. Und sie mußte zunehmend auch Konsumgüter wie Möbel, Textilien, Porzellan u.a. liefern. Der Außenhandelsumsatz mit der UdSSR war von 1970 bis 1975 auf 168 Prozent gestiegen. Der Anteil von Rohstoffen und Materialien an den Gesamtlieferungen der UdSSR betrug über 70 Prozent. Die Lieferungen umfaßten 1985 17 Millionen Tonnen Erdöl, 6,2 Milliarden Kubikmeter Erdgas, 1 500 Tonnen Schwarzmetallerze, 105 000 Tonnen Aluminium, 1 700 Kubikmeter Schnittholz, 92 000 Tonnen Zellstoff und 92 000 Tonnen Baumwolle. Die Lieferungen der DDR beinhalteten allein in diesem Jahr zwölf See- und Küstenschiffe, 41 Fischereifahrzeuge, für 2,7 Milliarden Mark Werkzeugmaschinen und chemische Ausrüstungen, für 2,3 Milliarden Mark Landmaschinen und Traktoren sowie für 1,1 Milliarden Mark Hebezeuge und Fördermittel, 1 000 Reisezugwagen und 1 200 Kühlwaggons. Das macht zugleich die Größe des potentiellen Marktes deutlich, der aufgrund der gezielten Abwicklung des Industriepotentials der DDR durch die »Treuhand« der westdeutschen Wirtschaft offenstand.

      Erdöl: Krise und Spekulationen

      3. Mit Beginn der siebziger Jahre bahnten sich grundlegende Veränderungen der weltwirtschaftlichen Bedingungen an, ausgedrückt in der Preisentwicklung für wichtige Rohstoffe, insbesondere Erdöl, Buntmetalle, Baumwolle, Kaffee. Der Preis je Tonne Erdöl erhöhte sich sukzessive von zwei bis drei Dollar pro Barrel (159 Liter) 1970 auf 13 bis 15 Dollar 1979 und wurde von der OPEC zu diesem Zeitpunkt noch einmal auf 30 bis 33 Dollar pro Barrel verdoppelt. Im RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) wurde auf Initiative der UdSSR beschlossen, den Verrechnungen der Rohstofflieferungen die Preise der »Hauptwarenmärkte«, also die Weltmarktpreise zugrunde zu legen, wobei ein Durchschnittspreis in einer ersten Phase für drei Jahre und danach von fünf Jahren vereinbart wurde. Der Preis je Tonne Erdöl aus der UdSSR erhöhte sich dadurch von 13 Rubel 1970 auf 70 Rubel 1980 und 168 Rubel 1985. Dabei muß angemerkt werden, daß trotz der Erhöhung der Erdölpreise auf das Dreizehnfache die an die UdSSR zu zahlenden Preise bis 1985 immer unter den aktuellen Weltmarktpreisen lagen. 1982 betrug z.B. der an die UdSSR zu zahlende Erdölpreis 75 Prozent des Weltmarktpreises. Die ab den siebziger Jahren einsetzende Erhöhung der Erdölpreise auf das Dreizehn- bis Fünfzehnfache sowie der Preisauftrieb für weitere Rohstoffe schufen neue Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR, das Wachstum und die Verteilungsspielräume. Der Außenhandelsumsatz zwischen der UdSSR und der DDR erhöhte sich von 1979 bis 1985 wertmäßig auf 245 Prozent. Das materielle Produkt der Lieferungen der UdSSR hatte sich aber schon seit 1970 kaum noch erhöht (auf 107 Prozent). Im Zeitraum 1975 bis 1985 betrugen die Importe 260 Milliarden Mark (im sogenannten Valutagegenwert). Davon waren jedoch 154 Milliarden Mark reine Preiserhöhungen für Erdöl, die die DDR aufgrund ihrer Außenhandelsstruktur durch Erzeugnisse des Maschinenbaus, der Elektrotechnik/Elektronik und der Konsumgüterindustrie ausgleichen mußte.

      Ein internes Diskussionspapier der Staatlichen Plankommission aus dem Jahre 1983 schätzte ein, daß sich die »terms of trade« im Handel mit der UdSSR von 100 Prozent im Jahre 1970 auf 53 Prozent 1983 verändert hatten. Der Importpreisindex war auf 304 Prozent gestiegen; der Exportpreisindex jedoch nur auf 160 Prozent.

      Diese Entwicklung verminderte das im Inland zur Verfügung stehende Produkt nicht nur wertmäßig, sondern auch an konkreten Waren. Bei der Ausarbeitung der volkswirtschaftlichen Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzen mußten für den Export Entscheidungen gegen die innere Versorgung getroffen werden. Ohne eine solche Umschichtung wären die Lieferungen an Erdöl und Erdgas noch weiter gekürzt worden. Vor der Bevölkerung wurde diese Situation schamhaft verschwiegen. Der häufig geäußerte Eindruck, daß in den achtziger Jahren die Mangelerscheinungen ständig zunahmen, hat in diesen Fakten seine Ursachen und nicht, wie unterstellt wird, vornehmlich in funktionalen Problemen des Systems. Die Mängel und Schwächen des Wirtschaftsmodells und der Planung spielten in den »realsozialistischen« Staaten permanent eine Rolle.

      Die um ein Mehrfaches gestiegenen Weltmarktpreise für Erdöl waren verheerend für die ökonomische Entwicklung der DDR. Auf Betreiben des für Wirtschaft in der Führung der SED Verantwortlichen, Günter Mittag, wurde mit Beginn der achtziger Jahre ein sogenanntes Heizölprogramm verwirklicht, im Rahmen dessen von den gekürzten 17 Millionen Tonnen sowjetischen Erdöls noch einmal sechs Millionen Tonnen aus dem inneren Verbrauch für den Export herausgelöst und durch Rohbraunkohle ersetzt wurden.

      Eine solch weitreichende Energieträgerumstellung erforderte zusätzliche Investitionen in Höhe von zwölf bis 15 Milliarden Mark, die durch Kürzungen in anderen Bereichen freigemacht werden mußten. Die bereits weltweit höchste Förderung von Rohbraunkohle wurde kurzfristig von 258 Millionen Tonnen 1980 um gut 20 Prozent auf 312 Millionen Tonnen 1985 erweitert. Dadurch erhöhten sich die Deviseneinnahmen der DDR in der ersten Hälfte der achtziger Jahre jährlich um etwa zwei Milliarden Valutamark; und es wurde für die DDR das Konzept der US-amerikanischen »Sonnenfeld-Doktrin« unterlaufen, die sozialistischen Länder, darunter die DDR, in einer komplizierten wirtschaftlichen Situation in eine Schuldenfalle laufen zu lassen.

      Was als Befreiungsschlag gedacht war, erwies sich nach kurzer Zeit als Pyrrhussieg. Durch die sprunghafte Erhöhung der Braunkohleförderung und -verarbeitung nahm die Schadstoffbelastung erheblich zu. Von weitreichender Bedeutung für die DDR war die Tatsache, daß an der Jahreswende 1985/86 im Zusammenhang mit den Gegenmaßnahmen der entwickelten Industrieländer der Erdölpreis von rund 30 Dollar pro Barrel wieder auf 14, 12 und zeitweise sogar auf zehn Dollar abstürzte. Dadurch versiegte eine wichtige Deviseneinnahmequelle, und das Heizölprogramm erwies sich als eine gigantische Fehlinvestition in einer ohnehin angespannten wirtschaftlichen Gesamtsituation. Auf längere Frist war dieser Ausfall nicht auszugleichen.

      UdSSR-Verfall unter Gorbatschow

      4. Es ist noch wenig dokumentiert und analysiert, daß – nach der Stagnationsperiode unter Breshnew – ab Mitte der achtziger Jahre der immer offensichtlicher werdende Verfall der UdSSR unter Gorbatschow deutliche Spuren in den Wirtschaftsbeziehungen zur DDR hinterließ, die die Entwicklung der DDR existentiell bedrohten. Während der Export der DDR von 1986 bis 1989 mit rund 33,5 Milliarden Mark (Valutagegenwert) auf gleich hohem Niveau verblieb, reduzierte sich der Import aus der UdSSR von 40,2 Milliarden 1986 auf 32 Milliarden Mark 1989, d.h. er sank auf 79 Prozent.

      Die langfristig vereinbarten Lieferungen wichtiger Rohstoffe aus der UdSSR in die DDR gingen sprunghaft zurück: bei Zink von 24000 Tonnen 1985 auf 12000 Tonnen 1989 (um 50 Prozent), bei Apatitkonzentrat für Düngemittel von 430000 Tonnen 1985 auf 300000 1989 (69 Prozent), von Blei, Manganerz, Chromerz u.a. Die Lieferung von Steinkohle (im Rahmen eines Umleitungsvertrages aus Polen) sank von sechs Millionen Tonnen in den sechziger Jahren auf eine Million Tonnen 1987 und 300000 Tonnen 1988.

      Ohne UdSSR nicht lebensfähig

      Die UdSSR gewährte der DDR mehrfach Kredite, darunter auch in sogenannten freien Devisen. So im Jahre 1953 zur Verwirklichung des »neuen Kurses«; 1957/58 im Zusammenhang mit den stark ansteigenden Lieferungen zur Rohstoffversorgung der DDR und Überbrückungskredite zur Abdeckung der rasch wachsenden Erdölpreise in der ersten Hälfte der achtziger Jahre. Andererseits vorfinanzierte die DDR Investitionsbeteiligungen zum Bau der transkontinentalen Erdöl- und Erdgasleitungen aus Westsibirien in die DDR. In den achtziger Jahren entstand trotz der komplizierter werdenden ökonomischen Situation eine beträchtliche Gläubigerposition der DDR gegenüber den Ländern des RGW, darunter auch der UdSSR. Wie aus den Dokumenten ersichtlich und auch im offiziellen Bundesbankbericht »Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989« dokumentiert ist, verfügte die DDR gegenüber den RGW-Staaten 1989 insgesamt über einen Aktivsaldo von 6,1 Milliarden Valutamark, darunter gegenüber der UdSSR in Höhe von 3,1 Milliarden. Daß davon nach zähen Verhandlungen auf einem deutsch-russischen Gipfeltreffen in Weimar als feste Verbindlichkeit Rußlands nur 500 Millionen DM vereinbart wurden, hatte aktuelle politische Ursachen.

      Es war bis Ende der achtziger Jahre weder die innere Verschuldung noch die äußere – darunter auch die gegenüber dem »nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet« – die aktuell die Existenz der DDR bedrohten. Gegenüber den Freie-Devisen-Ländern hatte sich die Verschuldung der DDR entgegen den immer wieder strapazierten Zahlenangaben in Höhe von 48 und 36 Milliarden Valutamark gemäß dem Abschlußbericht der Deutschen Bundesbank von August 1999 über die verschiedenen Abrechnungsstufen bis auf 19,9 Milliarden Valutamark, d.h. zehn bis zwölf Milliarden Dollar präzisiert – eine für die aktuelle Situation nicht bedrohliche Größenordnung.

      Die DDR war im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Machtkonstellation zwischen den ambivalenten Supermächten entstanden. Dieser wirtschaftliche Torso war allein und im Wettbewerb mit der sich unter völlig anderen Bedingungen entwickelnden BRD nicht existenzfähig. Mit der Übernahme der Grundrohstoffversorgung durch die UdSSR zwölf Jahre nach Kriegsende war sie auch ökonomisch untrennbar mit ihr und dem zunehmenden wirtschaftlichen Niedergang des Kernlandes des RGW verbunden.

      Die DDR war 1989 nicht »pleite«. Aber sie hatte aufgrund ihrer substantiellen Verbindung mit der UdSSR und der politischen Preisgabe durch Gorbatschow keine Perspektive mehr. Mit der chaotischen Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 wurde auch dem Konzept der Modrow-Regierung von einer vertraglich geregelten schrittweisen Transformation der Wirtschaft der DDR in die der Bundesrepublik mit dem Ziel »Deutschland einig Vaterland« der Boden entzogen – unabhängig davon, daß dem die Bundesregierung unter Kohl gar nicht zustimmte.

      * Von Siegfried Wenzel, bis 1989 Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission für Gesamtrechnung und Plankoordinierung, ist zuletzt erschienen: Was kostet die Wiedervereinigung? Und wer muß sie bezahlen? Stand und Perspektiven. Berlin 2003, ISBN3-360-01234-8 sowie: Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlußbilanz. 2. korrigierte Auflage, Berlin 2000, ISBN 3-360-00940-1



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      schrieb am 09.11.04 08:20:58
      Beitrag Nr. 3 ()
      junge Welt vom 05.11.2004 Thema

      Kampflos zurückgewichen

      Epochenumbruch 1989, Rückwende in der DDR vor 15 Jahren. Die SED, die Krise der DDR und die Offensive der USA zur Unterstützung für Gorbatschows Perestroika-Politik. Serie (III)

      Eberhard Czichon / Heinz Marohn * In unserer in loser Folge erscheinenden Artikelserie wurden bisher veröffentlicht: »Friedliche Revolution«? von Uwe Jens Heuer, jW, 18. Oktober 2004, und: Die DDR war nicht pleite. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen und das Scheitern der DDR, von Siegfried Wenzel, jW, 30./31.Oktober.

      Die Entwicklung der ökonomischen und politischen Verhältnisse in der DDR hatte bis 1987 ein Niveau erreicht, das eine neue Konzeption zum weiteren Ausbau der sozialistischen Gesellschaft erforderte. Die bisherigen Rahmenbedingungen erwiesen sich in den 80er Jahren mehr und mehr als ausgeschöpft. Widersprüche waren entstanden, die gelöst werden mußten, das bisherige System der sozialistischen Demokratie hemmte den weiteren Fortschritt. Diese Situation kannte die SED-Führung. Es wurde von ihr ebenso diskutiert wie von den Mitgliedern der SED und in vielen Gewerkschaftsgruppen und Produktionsbrigaden. Der XII. Parteitag der SED, der im Dezember 1988 vom ZK-Plenum einberufen worden war, sollte über ein Konzept der weiteren Ausformung des Sozialismus in der DDR entscheiden. Erich Honecker hatte in seiner Sprache dazu vorgegeben, daß »die sozialistische Demokratie für die Bürger, mit den Bürgern und durch die Bürger erlebbar gestaltet werden« muß.

      Das Kardinalproblem der SED

      Doch das Kardinalproblem der SED-Führung war die Politik der Perestroika des sowjetischen Partei- und Staatschefs Michail Gorbatschow. Seiner Konzeption der Umgestaltung des Sozialismus stand das SED-Politbüro mit wachsendem Mißtrauen gegenüber, das, wie sich beweisen sollte, berechtigt war. Unter den Mitgliedern der SED und in führenden Planungsinstitutionen der DDR fand Gorbatschows Sirenengesang jedoch weitgehend Gehör. Er wurde von ihnen zunehmend mit der Orientierung identifiziert, wie der weitere Weg zum Ausbau des Sozialismus verlaufen müßte.

      Das war um so überzeugender, als die politische Führung der DDR bisher die unabdingbare Freundschaft und Zusammenarbeit mit der UdSSR als obersten Wert der Staatspolitik vertreten und propagiert hatte. So wuchs für das Politbüro und für Honecker, neben den gesellschaftlichen Erfordernissen, zusätzlich das Problem heran, für den XII. SED-Parteitag eine Weiterentwicklung des Sozialismus in der DDR zu konzipieren, die außerhalb der sowjetischen Perestroika lag. Die SED-Führung scheute jedoch davor zurück, an Gorbatschow Kritik zu üben und die auf ihre Veranlassung ausgearbeiteten gesellschaftskritischen Studien und Analysen mit den Werktätigen zu diskutieren. Ihre Beschränkung auf eine innerparteiliche Führungsdebatte entsprach zwar den althergebrachten Normen, führte aber unter dem entstandenen Erwartungsdruck immer stärker zu einer Entfremdung zwischen der Parteiführung und der Bevölkerung und so zu einer politischen Krise.

      Diese Krise in der DDR traf mit einer politischen Offensive zusammen, deren taktische Grundsätze George Bush senior im März 1989 von seinem Beraterstab hatte ausarbeiten lassen, um Gorbatschows Perestroika zur Beseitigung des Systems der sozialistischen Länder auszunutzen und – wie der stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbott es formulierte – »das zu vollbringen, wovon frühere Präsidenten hatten nur träumen können«.

      Bis heute ist seine streng geheime Direktive NSD-23 nur in der Fassung bekannt, wie sie Bush in seiner Rede am 15.5.1989 vor der A&M University in Texas vorgetragen hat. Darin wandte er sich gegen die negative Einschätzung Gorbatschows durch die CIA und begründete offiziell die Unterstützung der USA für Gorbatschows Perestroika-Politik; »ihr Erfolgt liegt in unserem eigenen Interesse«, kommentierte er seine Strategie. Wie Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin des heutigen US-Präsidenten, nicht ohne Charme in ihrem Buch »Sternstunden der Diplomatie« berichtete, wurde dann das neue Konzept von George Bush auf dem Brüsseler NATO-Gipfel am 29./30. Mai 1989 den Verbündeten in einer vom Nationalen Sicherheitsrat der USA gesondert ausgearbeiteten Version vorgetragen. Als einen Monat später wie zufällig Bundeskanzler Helmut Kohl und Michail Gorbatschow in Bonn eine legendäre »Männerfreundschaft« schlossen, war die DDR-Führung endgültig in die politische Isolierung geraten. Der Gorbatschow-Berater Anatoli Tschernjajew kommentierte den Politdeal: »Auch in der DDR wurde oben und unten verstanden, daß in der sowjetischen Deutschlandpolitik jetzt die Bundesrepublik Priorität haben werde.« Und Gorbatschow fügte 1993 schwärmerisch hinzu: »Wir haben schnell zueinander gefunden (...) auf der Ebene des Vertrauens.«

      Freie Hand für Bonn

      Nach der Brüsseler NATO-Ratstagung und dem Gorbatschow-Besuch in der Bundesrepublik befanden sich die Bonner Politiker in einer international günstigen Situation. Sie hatten von ihrem Hauptverbündeten freie Hand bekommen, gegenüber der DDR zu handeln. Von Gorbatschow hatten sie nicht zu befürchten, daß er zu den Bündnisverpflichtungen der UdSSR gegenüber der DDR stehen würde. Und in der DDR fanden sie eine politisch isolierte und ratlose Führung vor.

      In diese Bresche einzudringen sollte nunmehr die Aufgabe der »AG Deutschlandpolitik« sein, die beim Bundeskanzleramt bestand. Für die Koordinierung aller Aktionen der Umsetzung des Deutschland betreffenden Teils der US-Präsidentendirektive NSD-23 war im Bundeskanzleramt die Abteilung 2 verantwortlich, zuständig für »auswärtige und innerdeutsche Beziehungen«, die Horst Teltschik leitete. Teltschik hat über diese dramatischen Ereignisse ein Tagebuch geschrieben, das zu einem einzigartigen historischen Zeugnis wurde: »329 Tage: Innenansichten der Einigung«. Lesenswert.

      »Operation Massenflucht«

      Im Rahmen von George Bushs »strategischer Revision«, seiner »Status quo Plus«-Politik (Baker), änderte auch Kohl im Sommer 1989 seine Deutschlandpolitik, wie uns Condoleezza Rice mitteilt, und ging vom »ostpolitischen Paradigma des Wandels durch Annäherung« ab. Er kehrte zum Grundsatz Adenauers vom »Wandel durch Stärke« zurück, was heißt: Die BRD mischte sich wieder aktiv in die inneren Angelegenheiten der DDR ein, um sie systematisch zu destabilisieren. Kohl zu zügeln, berichtet Rice, wurde nunmehr mit Hilfe der USA vereitelt.

      Kohls Szenario im heißen Sommer 1989 begann zugleich auf zwei Ebenen: einmal mit der »Operation Massenflucht«. Diese Taktik hatte sich bewährt. Sie war bereits 1953 angewandt worden, als Adenauer schon einmal die DDR per »Volksaufstand« mit der BRD »wiedervereinigen« wollte. Damals kamen sowjetische Panzer dazwischen, und die USA waren zum Bundeskanzler auf Distanz gegangen. Doch bei diesem zweiten Versuch 1989 war dies »auf der Ebene des Vertrauens« von Kohl mit Gorbatschow und Bush als Rückhalt nicht zu befürchten. Zweitens mit der Aktion »Wegbeten der DDR«, der aktiven Stimulierung der antisozialistischen Opposition in der DDR. Diese hatte sich in einigen kleinbürgerlichen und christlichen Gruppen vorwiegend in Kirchengemeinden zusammengefunden. Ihre Aufgabe wurde es nun, parallel zur »Aktion Massenflucht«, nicht nur die DDR »wegzubeten«, sondern sich vor allem eine festere organisatorische Basis zu schaffen und Einfluß in der DDR-Öffentlichkeit zu gewinnen, was ihnen bei der immer schweigsamer werdenden SED-Führung nicht schwerfallen sollte.

      Ungarn war neben der CSSR für DDR-Bürger ein beliebtes Urlaubsland. Und hier wurde eine »Initialzündung« installiert. Nachdem George Bush im Juli 1989 seinen Besuch in Ungarn beendet hatte, schwoll von hier aus die Fluchtwelle im richtigen Timing an, begleitet von den elektronischen Massenmedien der BRD. Sie »informierten« täglich, psychologisch gestylt. Die Fernsehteams von ARD und ZDF arbeiteten in diesen Wochen auf Hochtouren. Sie meldeten jeden Abend die »Frontlage«. Action Shots kamen aus dem Inneren der BRD-Botschaften: Den Fluchtwilligen wurde ein Medienbild von Reisefreiheit, höherem Lebensstandard und lebendiger Demokratie suggeriert. Die Berichte wurden immer ausführlicher und dramatischer. Ein wenig erinnerten sie an Mephistos Ratschlag an Faust: »Im Fliehen etwas zu erhaschen, / bekommt’s Euch wohl, was Euch ergetzt! / Nur greift mir zu und seid nicht blöde!« Das Bonner Kalkül griff in dem Umfang, wie die Konfusion des SED-Politbüros und seine Sprachlosigkeit anhielten.

      Die Opposition formiert sich

      Parallel zu diesem perfekt inszenierten TV-Spektakel trat in der DDR die bürgerliche Opposition aus dem Schutz der Kirche heraus und schuf sich in den frühen Herbstmonaten – unbehelligt von der DDR-Staatsmacht (der »SED-Diktatur«, wie es heute heißt) – schrittweise legale Organisationsformen. Logistische Hilfe bekam sie von Bonner Diensten, die sich durch das Einheitsgebot des Grundgesetzes gedeckt fühlten.

      Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR, den Honecker noch selbstsicher und realitätsfern im Palast der Republik feierlich beging, trafen sich seine Gegner aus sieben politischen Oppositionsgruppen und bildeten eine »Kontaktgruppe«, zu deren 16 Mitgliedern unter anderen Marianne Birthler, Martin Gutzeit, Dr. Wolfgang Ullmann und Rainer Eppelmann gehörten. In wöchentlichen Zusammenkünften organisierte sie den Widerstand gegen die DDR-Partei- und Staatsführung. Von ihr gingen wohl die Initiativen zu den Demonstrationen und Kundgebungen gegen das Ancien régime, wie sie es nannten, aus, und wohl auch jene Losungen, die auf Handzetteln mit einem Bonner Druckvermerk u. a. in Leipzig verteilt wurden. Später haben Teilnehmer die Vermutung geäußert, daß der Bonner Druckvermerk kein peinlicher Fehler, sondern vorbereitet war, um machtpolitische Präsens zu demonstrieren. Die Losungen folgten wohl abgestimmt auf die visionären Etappenziele: von »Wir sind das Volk« über »Keine Gewalt« bis »Wir sind ein Volk«. Die Antikommunisten hatten besser von Lenin gelernt als manche Kommunisten im Politbüro. Sie verfügten in diesen Wochen immer über die richtige Losung zur richtigen Zeit.

      Kohl nimmt die Zügel in die Hand

      Unter diesem Druck eskalierte die Unfähigkeit der SED-Führung, die immer weniger in der Lage war, mit einer sich innerhalb der Partei entwickelnden Oppositionsströmung umzugehen und nach der Abwahl von Honecker geradezu auseinanderfiel. In dieses Vakuum stießen die SED-Reformer vor. Ihnen gelang es, die Partei- und Staatsführungsgremien zu erobern und unter den Werktätigen die Illusion zu verbreiten, nunmehr die DDR auf den Weg eines wahren Sozialismus zu führen.

      Während der rechte Rand der SED-Oppositionellen um Gregor Gysi, André Brie und Thomas Falkner dazu überging, den Schulterschluß zur »Bürgeropposition« zu suchen, versuchten die Reformer um den neuen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow, die DDR zu stabilisieren. Wir sind gegen die These, daß der Sozialismus in der DDR nicht »reformierbar« gewesen wäre. Eine solche Auffassung halten wir für fatalistisch. Doch als Modrow die Regierungsverantwortung übernahm, hatten sich die internationalen Rahmenbedingungen für die Existenz der DDR bereits entschieden zu ihren Ungunsten verändert. Den USA ging es zu dieser Zeit nur noch darum, ein störungsfreies Zusammenrücken der »beiden Deutschland« zu garantieren. Um dieses Interesse zu sichern, besuchte der USA-Außenminister James Baker den neuen DDR-Ministerpräsidenten. Nach seiner Aussprache mit Modrow telegraphierte er an Bush: Modrow sei der Reformer, der bis zu freien Wahlen in der DDR diesen Prozeß bewältigen würde. (James Baker: Die Jahre, die die Welt veränderten, Berlin 1995, S. 169)

      Wie sich die DDR nach dem Sturz Erich Honeckers entwickelte, wurde zunehmend in Bonn und Washington und nicht mehr von der SED-Führung unter Egon Krenz bestimmt. Das begann damit, daß Bundeskanzler Kohl am 8. November 1989, wenige Stunden vor der spontanen und chaotischen Öffnung der Grenze der DDR, in seinem Bericht zur Lage der Nation vor dem Bundestag jene Bedingungen formulierte, die er für einen »Reformprozeß« in der DDR für unabdingbar hielt: Die Reformer müßten, so Kohl, erstens grundlegende Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festlegen, zweitens die SED veranlassen, auf ihr Machtmonopol zu verzichten, drittens freie Wahlen zu sichern und dazu alle Parteien zuzulassen und viertens, zur marktwirtschaftlichen Ordnung zurückkehren.

      Horst Teltschik schildert in seinem Tagebuch, wie sich der Bundeskanzler nach der Öffnung der Grenzen zur DDR beeilte, ohne weitere Konsultationen mit seinen NATO-Verbündeten am 23. November einen Zehn-Punkte-Plan als »den Weg zur deutschen Einheit« zu skizzieren. Kaum getippt, wurde der Plan 23 handverlesenen Journalisten übergeben. Fast gleichzeitig skandierten in Leipzig 200 000 Menschen aus der DDR und verschiedenen Bundesländern »Deutschland einig Vaterland«.

      Wenn auch Bush senior über die Eile in Bonn zunächst irritiert war, stimmte er doch bald dieser Taktik zu. In Washington war sehr schnell erkannt worden, daß dieser Plan eine geschickte Mischung von Demagogie und Täuschung war. Er sollte den DDR-Bürgern die Illusion vermitteln, es ginge zunächst nur um konförderative Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten, und eine spätere Vereinigung würde erst und ausschließlich im Rahmen eines europäischen Einigungsprozesses erfolgen. Doch hinter dieser unverbindlichen Fassade hatte Kohl eine Fußangel eingebaut. Dies, so sah sein Plan vor, setze zwingend eine demokratisch legitimierte Regierung der DDR voraus, die das »Selbstbestimmungsrecht der Deutschen« in Anspruch nehmen kann, um die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands als politisches Ziel zu erreichen. Kurzum, Bonn schrieb der DDR-Regierung vor, worauf sie sich im weiteren Verlauf ihrer »Reformen« zu konzentrieren habe. Modrow vermochte es nicht, sich gegen diese völkerrechtswidrige Anmaßung zu wehren. Er ging Schritt für Schritt einen Weg, auf dem er sich von den Verfassungsgrundsätzen der DDR, an die er eigentlich gebunden war, entfernte.

      Interner Parteiputsch

      Nachdem es schon gelungen war, die Staatssicherheitsorgane der DDR zu paralysieren, stand jetzt noch die SED im Weg. Um auch die führende Arbeiterpartei auszuschalten, bedurfte es keiner allzugroßen Anstrengungen mehr. Die alte Führung war kampflos zurückgewichen. Krenz vermochte keine Stabilisierung mehr zu erreichen. Die Werktätigen, deren Interessen die SED lange Jahre vertreten hatte, waren über ihr Versagen mehr als enttäuscht. Und so konnten die Parteireformer wenige Tage nach Kohls Deutschlandplan einen internen Parteiputsch mit dem Ziel inszenieren, die SED zu zerstören. Gregor Gysi hat sich Anfang Februar 1990 damit offen gebrüstet. Das Putschmanagement entsprach in seinem Anspruch – damals »Revolution« genannt – ausschließlich Kohls Forderung, das SED-Machtmonopol zu brechen. Das gelang. Die Putschisten fanden keinen ernsthaften Widerstand in der Partei, und so konnten sie in den folgenden Wochen nach dem Sonderparteitag Anfang Dezember 1989 dem Ministerpräsidenten der DDR jene Rückendeckung schaffen, die er brauchte, um die DDR gewaltlos auf Kohls Weg zurück in den Kapitalismus zu führen.

      Diese »Aktivitäten« des gewaltlosen Weges lagen auch in »unseren eigenen Interessen«, schreibt Baker rückblickend in seinen Memoiren, denn sie waren dringend erforderlich, um »die Ängste der Nachbarn« nicht allzu sehr zu schüren, (...) und würden uns aus dem Spiel lassen, während die beiden Deutschland zusammenwachsen«.

      Wie sich die Akteure der SED-Reformisten heute nach 15 Jahren auch herausreden mögen, jenes »Zusammenwachsen« war keine demokratische Revolution, es war eine Konterrevolution. Die DDR ist auch nicht zusammengebrochen, sondern bewußt zerstört worden, von ihrem »großen Bruder« im Stich gelassen und der Daimler-Benz-Thyssen-Deutsche-Bank-Republik Kohls unter Bruch des Völkerrechts ausgeliefert worden. Dabei ist es unerheblich, ob Gorbatschows deutsche Helfer dies bewußt taten oder aus politischer Naivität. Zu verantworten haben sie sich vor den Menschen, die heute, 15 Jahre danach, vor Arbeitslosigkeit und Armut stehen.

      * Eberhard Czichon und Heinz Marohn haben zum Thema veröffentlicht: Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf. Ein Report. PapyRossa Verlag, Köln 1999



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      schrieb am 09.11.04 08:25:03
      Beitrag Nr. 4 ()
      junge Welt vom 09.11.2004 Thema

      Preisgegeben zum Abschuß

      Epochenumbruch 1989. Rückwende in der DDR vor 15 Jahren. Im »gesamteuropäischen Haus« Gorbatschows war nur Platz für ein Deutschland (Serie IV)
      Eberhard Czichon / Heinz Marohn

      Auch unter Linken existiert die Auffassung vom Zusammenbruch der DDR. Den historischen Tatsachen entspricht die These nicht. Die DDR wurde zerschlagen. Es ist wichtig zu analysieren, wie dies geschehen, warum die Konterrevolution siegen konnte. Dazu haben wir im ersten Artikel (Freitagausgabe vom 5. November) auf die Ende der 80er Jahre entstandene innere politische Krise in der DDR hingewiesen, die von der Alt-BRD mit Rückendeckung der USA weitgehend ausgenutzt wurde. Der Sozialismus in der DDR war »reformierbar«, die entstandenen Widersprüche hätten gelöst werden können, eine weitere Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse wäre möglich gewesen. Daher gibt es keine Veranlassung zu der Annahme, daß sich in der DDR unlösbare Widersprüche herausgebildet hatten, die zu ihrem inneren Zusammenbruch geführt haben.


      SED: Kritiklos vertraut


      Eine weitere Ausgestaltung der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR hätte freilich vorausgesetzt, die entstandenen Widersprüche zu lösen, was fraglos mit sozialen und ideologischen Konflikten und Auseinandersetzungen verbunden gewesen wäre. Diesen Prozeß gesellschaftlich auszuleben, hätte jedoch neben der Notwendigkeit einer entschlossenen politischen, mit den Werktätigen eng verbundenen Führung eine zweite entscheidende Voraussetzung erfordert: eine außenpolitische Absicherung. Gegenüber der Aggressivität der alten Bundesrepublik war sie besonders geboten, um ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR auszuschließen. Wie die Dokumente der SED-Führung aus den letzten Jahren der DDR belegen, waren sich die meisten Mitglieder des Politbüros dieser schwierigen Situation bewußt. Ihr zögerliches Verhalten resultierte aus einer angenommenen Selbstsicherheit, aus der Meinung, ihnen stünde noch immer ausreichend Zeit zur Verfügung zur Ausarbeitung einer adäquaten neuen Konzeption. Sie gingen davon aus, daß die Sicherheit der DDR völkerrechtlich garantiert und militärisch durch die UdSSR abgesichert sei.


      Ihre Einschätzung der Situation war falsch. Der mit ihr eng verbündete Partner und vertraute Freund hatte die DDR politisch bereits im Sommer 1989 zur Disposition gestellt. Kein Funktionär der DDR-Führung war sich dieser Tatsache bewußt. Und selbst, als Egon Krenz und Hans Modrow die Führung der DDR übernahmen, war ihnen eine solche Haltung sowjetischer Freunde und Genossen kaum vorstellbar. Ihre Bewertung entsprang einer für Kommunisten charakteristischen Haltung, der Sowjetunion kritiklos zu vertrauen (wobei Hans Modrow in seinen Memoiren Wert auf die Feststellung legte, nie Kommunist gewesen zu sein). Selbst Honeckers verbale Vorbehalte gegen Gorbatschow, seinen Verdacht, der sowjetische Generalsekretär spiele gegenüber der DDR ein falsches Spiel, wollte die Mehrheit der Werktätigen in der DDR nicht glauben.


      Heute wissen wir, daß Honecker sich in diesem Punkt nicht irrte. Aber blicken wir zurück. Schon Stalin hatte der Gründung der DDR in der sowjetischen Besatzungszone erst zugestimmt, als das Konzept der UdSSR, auf der Grundlage der Potsdamer Übereinkunft vom Sommer 1945 Deutschland zu neutralisieren, am Widerstand der Westmächte gescheitert war und diese der Gründung eines westdeutschen Separatstaates aus ihren Besatzungszonen im Frühjahr 1949 zugestimmt hatten. Dieser Bundesrepublik wollte Stalin die DDR als völkerrechtliches Subjekt entgegenstellen. Er kam damit zwar dem Wunsch deutscher Kommunisten entgegen, doch Stalin behielt sich die DDR stets als Provisorium vor, immer bereit, sie für ein neutrales Deutschland im Interesse der Sicherheit der UdSSR aufzugeben. Und er stand international in diesen Jahren nicht allein mit der Meinung da, ein neues Großdeutschland zu verhindern.



      Moskauer Anti-DDR-Front


      Diese Grundhaltung der sowjetischen Führung beeinflußte auch nach Stalins Tod immer wieder die sowjetische Deutschlandpolitik. Stalins Nachfolger zeigten sich 1953 bereit, die DDR lediglich gegen eine massive finanzielle Hilfe der Westmächte für die ungeheuren Kriegsverluste der UdSSR preiszugeben. Bekanntlich scheiterte dieser erste Versuch, die DDR zu verkaufen, weil Adenauer der Preis zu hoch war. Auch in den folgenden Jahren, als Chruschtschow im Frühjahr 1957 die DDR noch einmal für ein entmilitarisiertes Deutschland eintauschen wollte, gingen die herrschenden Eliten der Westmächte auf dieses Angebot nicht ein, weil sie strategisch die BRD als Bollwerk gegen den kommunistischen Osten ausbauen wollten. Sie waren entschlossen, Westdeutschland militärisch weiter zu festigen. Die Haltung in der sowjetischen Führung schlug erst um, als sie erkannte, daß sich die sowjetfeindlichen Kräfte im Westen durchsetzten und zu keinem Entgegenkommen bereit waren, in Europa ein neutrales Deutschland zu akzeptieren. Erst da wurde die DDR von der UdSSR als Verhandlungsobjekt aufgegeben und in die osteuropäische Staatengemeinschaft voll integriert. Das geschah demonstrativ am 13.August 1961, als die bis dahin offenen Grenzen der DDR geschlossen wurden. Westberlin wurde eingemauert. Im Gegenzug unterlag die DDR fortan einer Wirtschaftsblockade durch die Westmächte.


      Diese Entscheidung von 1961 wurde jedoch in einigen sowjetischen Führungskreisen nie voll geteilt. Doch die DDR – als das antifaschistische Erbe deutscher Kommunisten und vieler Sozialdemokraten, hervorgegangen aus ihrem gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus und aus ihren Leiden in den faschistischen Zuchthäusern und Konzentrationslagern – festigte sich in den folgenden Jahren als sozialistischer Staat und wurde für die UdSSR ein wichtiger Handelspartner. Wenn auch für DDR-Bürger manche materielle Nachteile blieben, die sich zum Teil aus dem Boykott der Westmächte ergaben, so erwies sich ihre Lebensqualität in vieler Hinsicht den westdeutschen Lebensbedingungen überlegen.


      Als in der UdSSR und in der Nach-Ulbricht-DDR ökonomische Entwicklungsprobleme immer stärker ignoriert wurden und ihre gemeinsame Lösung mit den Werktätigen vernachlässigt wurde, als diese Probleme sich in den achtziger Jahren zu einer Krise zu verdichten schienen, begann in außenpolitischen Kreisen der sowjetischen Führung wieder ein Rückgriff auf die alte Faustpfanddiskussion. Heute wissen wir, dahinter stand das verfehlte strategische Konzept von Gorbatschow, das er Perestroika nannte. In dem Umfang, wie sich seine Politik in ihren eigenen Widersprüchen verfing und damit jene Probleme vertiefte, die sie zu lösen vorgab, in dem Maße glaubte der sowjetische Generalsekretär, auf die Hilfe der USA und der kapitalistischen Staaten Westeuropas angewiesen zu sein. Und so schlug er vor, die osteuropäischen Länder mit der UdSSR in ein »gesamteuropäisches Haus« einzubinden.


      Dieses illusionäre Konzept war das Fazit seiner innenpolitischen Katastrophenpolitik und charakterisiert jene Situation, die der damalige Präsident der USA, George Bush senior, zu seiner Direktive NSD-23 ausarbeiten ließ, die später als »Umarmungspolitik Gorbatschows« bekannt wurde. Und während sich Gorbatschow öffentlich als modisch gekleideter lächelnder Jungdynamiker präsentierte, »neues Denken« predigte und emphatisch über die Priorität der allgemeinmenschlichen Ideen fabulierte, begann hinter dieser Public-Relations-Show in der UdSSR die Regression sozialistischer Werte, zerstörte der Generalsekretär der KPdSU systematisch die Grundsätze des sozialistischen Internationalismus und opferte damit letztlich auch die mit dem Blut von 30 Millionen sowjetischen Bürgern errungenen Ergebnisse des Kampfes gegen den Faschismus.



      Skrupellose Heuchelei


      Es war nicht nur die hilflose sowjetische Innenpolitik der Ära Gorbatschow, die verblüffte und die George Bush so sympathisch fand, oder »Gorbis« subjektive Unfähigkeit, die ihm vorliegenden Vorschläge zur Weiterentwicklung sozialistischer Produktionsverhältnisse, ihrer demokratischen Ausgestaltung, aufzugreifen und in politisches Handeln umzusetzen, sondern vor allem die skrupellose Heuchelei eines Politikers seinen Verbündeten gegenüber. Was Honecker vermutete, ist heute dokumentarisch belegt und von russischer Seite eingestanden: Hinter dem Rücken der DDR-Führung, die wahrlich mit ihren eigenen Problemen rang, formierte sich 1987 unter Gorbatschow die alte Anti-DDR-Fronde, die »Germanistenfraktion« wie sie sich nannte, neu – im sowjetischen Außenministerium um Wjatscheslaw Daschitschew, im Apparat des ZK um Valentin Falin, einem alten Geheimdienstmann Stalins, zeitweilig sowjetischer Botschafter in Bonn, und in der Berliner sowjetischen Botschaft um Igor Maximytschew – von Gorbatschows »Beratern« Wadim Medwedew und Alexander Jakowlew weitgehend gedeckt. Mit ihrem wachsenden Einfluß begann das »neue Denken« über eine »veränderte Deutschlandpolitik« der UdSSR als »geheime Stabsarbeit«.


      Als im Sommer 1989 der ehemalige Leiter der DDR-Abwehr Markus Wolf privat nach Moskau reiste, traf er mit Falin und dessen Mitarbeitern zu inoffiziellen Gesprächen zusammen, um die Lage in der DDR zu erörtern. Bekannt ist, daß dies nicht ihre erste Gesprächsrunde zu dieser Frage war. Falin bestätigte uns das. Es ging nun schon konkret darum, »den Willen vieler Menschen in der DDR nach Trennung der deutschen Nation zu berücksichtigen«, wie Wolf das in seinem Tagebuch notierte. Auch dem FDJ-Sekretär Hans-Joachim Willerding, der in diesen Sommertagen des Jahres 1989 mit Falin zusammentraf, erklärte Falin, »daß aus sowjetischen Interessen heraus die DDR ökonomisch und politisch nicht mehr zu halten war«. Zur gleichen Zeit aber charakterisierte in Berlin der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse gegenüber seinem Amtskollegen Oskar Fischer und auch gegenüber Honecker in privaten Gesprächen, die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR als eine »fast bespiellose vertrauensvolle und aufrichtige Zusammenarbeit«. Betrügerischer konnten Politiker schon nicht mehr handeln, und es war mehr als eine bewußte Täuschung eines Verbündeten.


      Auch der damalige sowjetische Botschafter in Bonn, Juli Kwizinski, wunderte sich darüber, daß sich Daschitschew, seit April 1987 Vorsitzender des »Wissenschaftlichen Beirates für die sozialistischen Länder Europas« beim sowjetischen Außenministerium, unwidersprochen als Berater Gorbatschows ausgeben und gleichzeitig die Öffnung der Grenzen der DDR fordern konnte. Daschitschew wurde der Vorreiter einer Änderung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Er hatte als »Deutschlandexperte« bereits im Sommer 1987 ein Memorandum zur »Wiedervereinigung« Deutschlands ausgearbeitet, das zunächst auf den Widerspruch Falins gestoßen war. Zu dieser Zeit, argumentiert auch Gorbatschows Berater Anatoli Tschernjajew, waren die Vorschläge Daschitschews verfrüht, taktisch unklug. Sie seien dazu angetan gewesen, die »konservativen Status-quo-Denker« in der sowjetischen Führung zu beunruhigen. Die einzige Chance der »Germanistenfraktion« bestand zu diesem Zeitpunkt darin, so plädierte der Mitarbeiter Falins, Nikolaj Portugalow, weiterhin »im Stillen zu arbeiten«, zumal die DDR noch als ein wichtiger Wirtschaftspartner für die UdSSR galt und die Gefahr bestand, daß viele Mitglieder des ZK der

      KPdSU dieser Politik nicht folgen würden.


      Doch zwei Jahre später hatte sich die Zusammensetzung des ZK der KPdSU und damit das Kräfteverhältnis geändert. Jetzt ging es offener zur Sache. Gorbatschow war klar geworden, daß in dem von ihm angestrebten »gesamteuropäischen Haus« nur Platz für ein Deutschland war. Und er wußte auch, daß ihm Honecker nicht folgen würde. Es ist richtig und läßt sich dokumentarisch belegen, daß Gorbatschow nunmehr eine neue Führung der DDR wünschte und jene ermunterte, die mit dem Führungsstil des SED-Generalsekretärs in der DDR nicht einverstanden waren.


      Die Funktion, die seine Geheimtruppe Lutsch (elitär ausgewählte NKWD-Offiziere im besonderem Auftrag) ausübte, um den Führungswechsel in der DDR zu erreichen, bleibt in einigen Details offen. Der Botschafter der UdSSR in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, bestätigte das Wirken dieser Truppe von der sowjetischen Botschaft in Berlin. Als Honecker formal freiwillig zurücktrat und sich dann auch noch telefonisch bei Gorbatschow abmeldete, war der auf die Vollzugsmeldung wartende »Gorbi« denn doch verblüfft. Der Weg für die »Germanisten« war frei, sie organisierten die Konterrevolution.


      Als Egon Krenz die Parteiführung der SED übernahm, wurde er ein Opfer der Heuchelei von Gorbatschow, der ihm noch am 1. November in Moskau die volle Unterstützung der sowjetischen Partei- und Staatsführung versichert hatte. Doch keine zwei Wochen später schickte Falin seinen Mitarbeiter Portugalow zum Kanzlerberater Horst Teltschik nach Bonn, um ihm die »Einheit Deutschlands«, sprich die DDR, anzubieten. Das Angebot, ein handschriftliches Papier, das amtlichen Charakter trage, sei mit Gorbatschows Berater Tschernjajew abgestimmt, der Generalsekretär wäre informiert, notierte der Kanzlerberater in seinem Tagebuch. Er empfand diese Mitteilung als »eine kleine Sensation«. Teltschik überging zunächst die taktischen Ratschläge Falins und eilte zum Bundeskanzler. Helmut Kohl war clever genug, um über Nacht seinen »Zehn-Punkte-Plan« für den Weg zur deutschen Einheit zu skizzieren, mit dem er selbst George Bush beeindruckte.



      Parteiputsch der Gysi-Truppe


      Inzwischen war in Berlin in einer Überraschungsaktion spektakulär die Grenze geöffnet worden (»Mauerfall«), und Gorbatschow erteilte den Befehlshabern der in der DDR stationierten Westarmee den Befehl, nicht einzugreifen.


      Was folgte, sah wie ein Fahrplan aus. In der DDR inszenierten die Gorbatschowisten um Gregor Gysi, Andrè Brie und Dieter Klein einen Parteiputsch, um die SED auszuschalten. Markus Wolf notierte, man dürfe Krenz keine Gelegenheit geben, sich zu konsolidieren. Auf Naivität und falsches Vertrauen gestützt, gelang ihnen der Streich, und Gysi wurde Vorsitzender der SED/ PDS. Gleichzeitig trafen in Malta Bush und Gorbatschow zu einem Politschoppen zusammen. Die Vorlage zu diesem Treffen (»The Sowjets and the German Questions«) war u. a. von Condoleezza Rice verfaßt. Gorbatschow spielte in diesem Szenario die ihm zugedachte Rolle. Das hieß: Die Sowjetunion stimmte einer deutschen »Selbstbestimmung« vorbehaltlos zu. Nur – so ergänzte Gorbatschow feinsinnig – solle diese Frage in einer »stillen Diplomatie« erfolgen.


      Am 28. Januar 1990 berief der Generalsekretär der KPdSU eine geheime deutschlandpolitische Stabsberatung, ein sogenanntes Brainstorming, ein. Falin will es initiiert haben. Der Zusammenkunft lag kein Beschluß eines Parteigremiums oder eines zuständigen Staatsorgans der UdSSR zugrunde. Ganz ad hoc wurde von dieser nicht legitimierten Runde beschlossen, die DDR »aufzugeben«. Dem Hinweis auf die diesem Vorhaben gegenüberstehenden völkerrechtlichen Vertragsbedingungen und auch auf den nahezu kläglichen Einwand des anwesenden sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryshkow, man dürfe Kohl doch nicht alles geben, hat Gorbatschow nunmehr kühl entgegengehalten: »Die Wiedervereinigung Deutschlands ist unvermeidlich.«


      Wenige Tage danach wurde Hans Modrow nach Moskau geladen, um mit ihm zusammen diesen Beschluß umzusetzten. Dazu legte er seinen Plan zur Einheit Deutschlands vor. »Deutschland einig Vaterland« hieß das Dokument. Nach vertrauenswürdigen Informationen hatte ihm Falin bei der Ausarbeitung hilfreich zur Seite gestanden. Nach Modrow durfte Gysi zu Gorbatschow. Seine Visite ist protokolliert und auch die Rede, mit der er seinen Parteivorständlern und -vorständlerinnen zu erklären versuchte, daß er dem ganzen Deal der Aufgabe der DDR vorbehaltlos zugestimmt habe. Das Unvermögen Gysis, dies in jenen Tagen öffentlich einzugestehen, spiegelt sich in seiner sprachlichen Diktion wider. Das ist Literatur für die Nachwelt!. Nur in einer Frage fand er klare Sätze. Als es nämlich auf der Parteivorstandstagung darum ging, sich von der Abkürzung SED zu trennen, formulierte er deutlich: »Alle reden darüber, wie man die Strukturen der SED kaputtmacht. Wir haben es getan.« Dieses Vermächtnis Gorbatschows verwaltet die PDS noch immer.


      * In unserer Serie sind bisher erschienen: »Friedliche Revolution«?, von Uwe Jens Heuer, jW 18. Oktober 2004; Die DDR war nicht pleite. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen und das Scheitern der DDR, von Siegfried Wenzel, jW 30./31. Oktober; Kampflos zurückgewichen. Die SED, die Krise der DDR und die Offensive der USA zur Unterstützung für Gorbatschows Perestroika-Politik, von Eberhard Czichon und Heinz Marohn, jW 5. November.


      -----------------------
      Adresse: http://www.jungewelt.de/2004/11-09/003.php
      Avatar
      schrieb am 09.11.04 08:35:05
      Beitrag Nr. 5 ()
      Interessant.;)

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      schrieb am 09.11.04 08:44:23
      Beitrag Nr. 6 ()
      #5 von ConnorMcLoud

      Danke für das Kompliment.

      Ja, aber irgendwo muß doch die Bleiwüsten - Tradition der Zentralorgane gepflegt werden.
      Avatar
      schrieb am 09.11.04 08:55:15
      Beitrag Nr. 7 ()
      irgendwie zu viel text am frühen morgen.
      ich schaue mir das vielleicht später noch einmal an.
      Avatar
      schrieb am 09.11.04 09:21:41
      Beitrag Nr. 8 ()
      Ich bin für noch einen Umbruch: macht die Wiedervereinigung rückgängig und baut eine neue DDR auf (incl. ganz Berlin). Und dann sollen alle Sachsen, Brandenburger, Berliner etc. endlich mal selber für Ihren Lebensunterhalt sorgen und Ihren Scheiss alleine machen!
      UNd meinetwegen können Sie sich von der PDS, der NPD oder auch von beiden regieren lassen...
      Durch diese sch... Wiedervereinigung haben die meisten Mitbürger hier im Westen doch nur Schaden gehabt!
      Avatar
      schrieb am 09.11.04 14:23:49
      Beitrag Nr. 9 ()
      Fazit: Kohl und Gorbatschow waren die Totengräber der DDR.:mad:
      Avatar
      schrieb am 10.11.04 22:32:58
      Beitrag Nr. 10 ()
      Ich lese zur Zeit "Wir sind kein Volk - eine Polemik" von Herles. Grausam, einfach grausam :(
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 16:20:11
      Beitrag Nr. 11 ()
      22.11.2004
       Thema Jörg Roesler   Begehrte Alu-Chips  
      Epochenumbruch 1989, Rückwende in der DDR vor 15 Jahren.

      Wie Wessis mit Ostgeld ihr Schnäppchen machten (Serie - V)  

      Alu-Chips, das weiß man, war der Spottname auf die DDR-Währung, abgeleitet von deren Pfennig-Münzen aus Aluminium. Alu-Chips war in den 80er Jahren manchem DDR-Bürger die verächtliche Bezeichnung für eine Währung, die nicht viel taugte, jedenfalls nicht ausreichte, um an Westwaren heranzukommen, auch nicht an jene, die es im Intershop gab. Begehrt? Das war diese Währung doch wohl nie.

      Doch das stimmt so nur für das eigene Land. Es hieße, die Geschichte der DDR-Währung unvollständig zu erzählen, wenn man nicht darauf hinwiese, daß es eine Zeit gab, da sich viele drängten, in den Besitz dieser Alu-Chips zu gelangen. Das geschah in der letzten Phase der Existenz der DDR – in den Monaten zwischen Mauerfall und Währungsunion. Das waren 1989/90 allerdings keine DDR-Bürger, die die Alu-Chips mit einem Male begehrten. Sie griffen lieber zu DM, die als Begrüßungsgeld noch bis Ende Dezember an die ins westliche Einkaufparadies einströmenden Ostdeutschen verteilt wurde bzw. die für sie ab 1. Januar bei der Einreise in die Bundesrepublik im Umtausch 1:1 (pro Person bis zu 200 DM, Kinder die Hälfte) bzw. 1:5 (bei höheren Summen) zu haben war.


      Zum Wühltisch geworden

      Zu den Alu-Chips, derer sich die Ostdeutschen, die die begrenzte Kaufkraft von 100 DM im November und Dezember rasch kennenlernten, nach dem 9. November in großen Beträgen ungeachtet eines Schleuderkurses von zeitweise 20:1 zu entledigen trachteten, griffen die »Brüder und Schwestern« aus der Bundesrepublik gern. Mit geübten Blick für Schnäppchen, erkannten sie, von den in Rundfunk und Fernsehen immer wieder gezeigten rührenden Umarmungsszenen völlig unbeeindruckt, daß selbst bei legalem Umtausch (1:3) der Einkauf für sie in HO und Konsum lohnte, sowohl im Lebensmittelgeschäft als auch im Industriewarenladen. Sogar BRD-Bürger, die DM gegen DDR-Mark zum offiziellen Kurs 1:3 tauschten, beteuerte die Stuttgarter Zeitung ihrer etwas ungläubigen schwäbischen Leserschaft, befänden sich auf dem Gebiet der DDR schon finanziell im Schlaraffenland. Billig und begehrt waren vor allem subventionierte Güter aus der DDR, von der Mastente bis zur Salami. Aber auch beim Erwerb von Benzin und Bettwäsche im Osten sparte man ungemein. Selbst bei nicht subventionierten Waren konnte der gelernte Bundesbürger, etwa angesichts der Preise für »Goldwasser«-Schnaps oder Rotkäppchen-Sekt, ob der Preisdifferenz in DM gerechnet, in Kaufrausch geraten. Wer zum Schwarzmarktkurs umtauschte, der, von Pendelausschlägen einmal abgesehen, in den sieben Monaten bis zur Währungsunion zwischen 1:6 bis 1:10 schwankte, für den lohnte es sich sogar, die in der DDR mit Akzise belegten, d.h. überteuerten Güter zu kaufen, hochleistungsfähige Fotoapparate etwa oder auch die Dampflok einer Modelleisenbahn von »Pico«.

      Die DDR war für die Westdeutschen zum Wühltisch geworden. Ganze Familien kleideten sich neu ein. »Handwerker versorgen sich mit kompletten Werkstattausrüstungen, Bäcker aus grenznahen Gemeinden holen ihr Mehl in der DDR, Eisdielen kaufen drüben Zucker zentnerweise«, wußte der Spiegel zu berichten.

      Von all diesen Aktivitäten erfährt der Bundesbürger heute, wenn er sich in den am meisten verbreiteten Publikationen über die Zeit, »nachdem die Mauer gefallen war«, unterrichten will, in der Regel nichts. Das gilt auch für Hans Georg Lehmanns »Deutschland-Chronik«, in der die Jahre 1989 und 1990 überproportional berücksichtigt sind und die die Bundeszentrale für politische Bildung für Wissenshungrige anbietet. Verständlicherweise dominieren in Lehmanns Chronik die spektakulären politischen Ereignisse. Hier und da findet sich aber auch eine Notiz zu den Auswirkungen der Maueröffnung auf den wirtschaftlichen Alltag. »Vorübergehend entstehen auch Versorgungsengpässe bei Konsumgütern«, ist unter dem Datum 11./12. November 1989 vermerkt. Ein Hinweis auf den Abkauf aus DDR-Läden? Weit gefehlt! Die Sortimentslücke entstehen nicht im Osten, sondern im Westen, weil die DDR-Bürger bestimmte Konsumgüter »lange hatten entbehren müssen (z.B. Südfrüchte). Die Preise ziehen daher an«.


      »Benzin für den Eigenbedarf«

      Was da geschrieben steht, ist nicht falsch. Aber warum wird nur der einen Seite Aufmerksamkeit geschenkt? Der Abkauf aus dem Osten war so massiv, daß die Modrow-Regierung keine zwei Wochen nach dem Mauerfall, zu – nach eigener Verlautbarung – »unpopulären Maßnahmen« greifen mußte, in der Hoffnung, damit dem Ausverkauf der DDR einen Riegel vorzuschieben. Denn Ende November waren nach Schätzungen von Professor Eugen Faude von der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst schon mindestens drei Milliarden Ostmark außer Landes gebracht worden – illegal versteht sich.

      Die begehrtesten Schnäppchen wurden am 23. November mit Ausfuhrverbot belegt. Darunter befanden sich Jenaer Glas und Meißner Porzellan, aber auch – sofern nicht für den eigenen Bedarf des Reisenden bestimmt – Damenstrümpfe, Babybekleidung, Benzin und Briefmarken, ferner Lebensmittel wie Fleisch und Konserven, auch Zucker und Eier.

      Über diesen Schritt der DDR-Regierung berichtet die Lehmannsche Chronik unter dem 23. November 1989 allerdings, ohne die Hauptverursacher zu nennen: »Der Ministerrat verschärft die Zollkontrollen, um zu verhindern, daß in der DDR nicht lebende und arbeitende Ausländer bestimmte, vor allem subventionierte Waren aufkaufen.« Wer diese »in der DDR nicht lebenden und arbeitenden Ausländer« sind, erfährt der bundesdeutsche Leser nicht. Oder doch? Der letzte Satz der Rubrik über Ausfuhrverbote enthält einen Hinweis: »Dagegen protestiert die polnische Regierung am 26.11.1989.«

      Viel geholfen hat die Modrow-Verordnung offensichtlich nicht. Möglicherweise waren die DDR-Zöllner zu verunsichert, um »scharf« vorzugehen. Jedenfalls kam mancher Schnäppchenjäger mit seiner ganzen Warenladung durch, die er für Alu-Chips eingetauscht hatte. »Mit Treibstoff«, berichtete ein Zoll-Hauptsekretär an der hessischen Grenze zur DDR dem Spiegel, »haben wir schon die tollsten Sachen erlebt. Den Gipfel der Unverfrorenheit habe sich ein BMW-Fahrer geleistet, der den Kofferraum »bis oben hin mit Plastikkanistern voll hatte, in die sonst Apfelwein abgefüllt wird«.

      Auch hatte die Ende November erlassene Anordnung der Modrow-Regierung, den Schmuggel von Geld und Gütern über die Grenze zu reduzieren, Lücken. Benzin »für den Eigenverbrauch« zu kaufen, war zulässig. 1,65 Mark kostete der Liter Normalbenzin, 1,40 Mark der Liter Diesel – Pfennigbeträge für die Bundesdeutschen, wenn sie schwarz getauscht hatten. Tankwarte in der Nähe der Grenze, wie z.B. im mecklenburgischen Dassow bei Lübeck, wußten der Zeit zu berichten, daß sich ihr Umsatz innerhalb von zwei bis drei Monaten vervierfacht bis versiebenfacht hatte. Früher, so wunderte sich ein Tankwart vom VEB Minol gegenüber einem Reporter der Zeit über das veränderte Verhalten seiner Westkundschaft, hätten Bundesbürger sich stets über die mindere Qualität des DDR-Benzins mokiert. »Da hieß es immer, der Motor klingelt und klappert davon, und heute kaufen sie’s weg.«

      An manches andere hatte die DDR-Regierung bei der Anordnung vom 23. November ebenfalls nicht gedacht. Pfiffige West-Berliner, berichtete der Stern, ließen sich Zugfahrkarten von Freunden in Ost-Berlin kaufen: »Köln hin und zurück kostet 121 Mark, die Deutsche Bundesbahn aber verlangt am Bahnhof Zoo für dieselbe Strecke 234 DM. Reingewinn beim 1:6-Umtausch: etwa 214 DM.«


      Betriebsfeste in den Osten verlegt

      Ungehindert kann zunächst auch noch jeder Besucher aus dem Westen seine über die Grenze geschmuggelten Alu-Chips in Gaststätten ausgeben. »In einem guten Ostberliner Restaurant zahlt man für das Essen keine zwei DM, also noch weniger als auf der anderen Seite in der Kantine«, berichtete der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Mitte November 1989.

      Zum Problem wurde die »Besetzung« der in Ostberlin oder sonst im Grenzgebiet gelegenen Gaststätten durch die Bundesbürger spätestens, als zwischen beiden deutschen Regierungen vereinbart wurde, zu Weihnachten die volle Reisefreiheit zwischen West- und Ost-Deutschland einzuführen. »Eine neue Berlin-Krise droht in den Restaurants und Kneipen der Ost-Halbstadt«, berichtete der Spiegel. »Seit Heiligabend, als die Barrieren für die Brüder und Schwestern aus dem Westen fielen, ist der totale Notstand ausgebrochen.« Ost-Berliner hatten deutlich weniger Chancen als früher, »plaziert« zu werden.

      Doch nicht nur Ost-Berlin war betroffen. Aus West-Mecklenburg berichtete die Frankfurter Rundschau über die dortige Gaststättensituation: Da bilden sich an jedem Wochenende lange Schlangen, da Lübecker und Hamburger stolz darauf sind, daß sie mit der »ganzen Familie für 20 D-Mark in einem Nobelrestaurant in der DDR gefuttert haben.« »In den wenigen Gaststätten der DDR«, hieß es in einem Artikel in der Zeit, fallen Bundesbürger rudelweise ein; Betriebsfeste ganzer bundesdeutscher Belegschaften werden neuerdings, der geringen Kosten wegen, in die DDR verlegt.«

      Viele Bundesdeutsche, die die Ostberliner Kneipen besetzt hielten, benahmen sich, als wären sie »drüben« zu Hause. »Jeden Abend«, erzählt der Barkeeper einer Nobelbar im Berliner Grand Hotel Friedrichstraße/Ecke Unter den Linden der Stern-Reporterin, »höre ich mir zigmal an, was wir hier in den letzten Jahrzehnten falsch gemacht haben. Das weiß jeder BRD-Vertreter ganz genau: Wir bringen euch jetzt mal das Arbeiten bei.«

      Bei den DDR-Bürgern machten sich gegenüber Westtrampeln verständlicherweise Aversionen breit. Hamburger Nachtschwärmern, so berichtete der Spiegel, sei in Schwerin aus dem Schutz der Dunkelheit schon mal »Scheiß-Wessi« hinterher gerufen worden. »Und in den Ost-Berliner Kneipen rund um den Prenzlauer Berg kam es bereits zu Prügeleien, weil Ostler sich nicht länger dummkommen lassen wollen.«

      Erst im März führt die DDR eine Regelung ein, nach der nur noch mit DDR-Mark bezahlen darf, wer eine offizielle Umtauschbescheinigung (1:3) vorzeigen kann. Das Gaststättenpersonal wird berechtigt, sich die Personalausweise der Gäste zeigen zu lassen.

      Die DDR-Bürger haben sich mit ihren Beschwerden in diesem Falle letztlich durchgesetzt.


      »Vollgefressene Wohlstandsbürger«

      Beschwerden frustrierter DDR-Bürger begleiten die Schnäppchenjagd der Brüder und Schwestern aus dem Westen von Anfang an. Besonders betroffen waren neben den Ost-Berlinern die Thüringer. Westdeutsche seien von DDR-Bürgern mit dem Ruf »Wir lassen uns nicht leer kaufen«, aus Einzelhandelsgeschäften herausgedrängt worden, berichtete die Süddeutsche Zeitung über Vorfälle in Mühlhausen und Bad Langensalza. Die Menschen in der DDR seien »empört« über die »vollgefressenen Wohlstandsbürger« gewesen, die in der DDR billig einkaufen wollten. »In den Cafés tut man sich groß und kauft Kuchen und gleich ganze Torten zum Billigpreis-Ost«, empörte sich eine Meiningerin in der in Unterfranken erscheinenden Main-Post. Im Sonneberger Freien Wort berichtete ein frustrierter Einwohner von zwei Männern in einem Opel mit Coburger Kennzeichen, die »zwanzig Tüten Zucker und fünfzehn Flaschen Schnaps« aus der Sonneberger Kaufhalle trugen. Sein bitterer Kommentar: »Wenn ich dereinst mit den für 600 Mark erstandenen 200 D-Mark kurz vor den Alpen stehe und nach der ersten Nacht im bayerischen Gasthof die Zeche geprellt habe, kann ich nur hoffen, daß mein Tee mit Ost-Zucker gesüßt und in Ost-Porzellan gereicht wurde.«

      Frustriert über die Schnäppchenjäger war vor allem das Verkaufspersonal in den heimgesuchten Läden. »Die Leute«, beklagt sich eine Verkäuferin aus Eisenach laut Spiegel im März 1990, »packen alles ein, als wollten sie jetzt noch Weihnachtsgeschenke besorgen. Manche kommen sogar ein paar Mal in die Läden zurück, um die Waren abzutransportieren.«

      Im Eulenspiegel, dem Satire-Magazin der DDR, war eine Karikatur zu betrachten. Vor dem Fleischerladen steht ein Auto mit Westnummer. Der Besitzer verstaut gerade Schinken und Würste im Kofferraum. Der Hund einer älteren Dame, die daneben steht, schaut Frauchen fragend an. Die sagt mit Blick auf das leergefegte Schaufenster des Fleischerladens: »Da hilft nix, Willi, da müssen wir dein Freßchen eben drüben kaufen.« ( Der Eulenspiegel, 17/90, S. 5)

      Von verärgerten Ostdeutschen erhalten die Zollorgane, je länger die Schnäppchenjagd der Westdeutschen andauert, um so häufiger, auch Tips. Verkäuferinnen riefen an und teilten das Kennzeichen mit, wenn das Auto des Kunden mit Lebensmitteln vollgepackt abgefahren war. Doch die Zöllner, obwohl sie zu den wenigen Staatsangestellten der DDR gehören, bei denen die Zahl der Beschäftigten im 1. Halbjahr 1990 noch aufgestockt werden durfte, reichen für die Kontrolle der bald auf 164 angewachsenen Grenzübergangsstellen in die Bundesrepublik nicht aus.


      Mehrere Kiloposten Gummibärchen

      Auch wenn sie fündig wurden, dürfte es sich nur um die Spitze des Eisbergs gehandelt haben. 8900 Zoll- und Devisenverfahren wurden in der DDR im Januar 1990 durchgeführt. »Dabei handelte es sich um die unerlaubte Ausfuhr von Waren wie Kinderbekleidung, Untertrikotagen, Schuhe, Fleisch und Wurst, Gewürze und Backzutaten«, heißt es trocken im Monatsbericht. Und weiter: »Stark zugenommen hat auch die rechtswidrige Ein- und Ausfuhr von Mark der DDR.« Zwei Millionen Mark zogen die Zöllner in jenem Monat an der Grenze zur BRD ein. Im Februar 1990 stieg die Zahl der Delikte weiter an. Im März konnten die Zöllner illegale Ein- und Ausfuhren im Werte von 4,5 Milliarden Mark verhindern. »Ich sah von Mehlvorräten, Makkaronitüten, Delikatkonserven, mehreren Kiloposten Gummibärchen über Kristallwodka und Nordhäuser Doppelkorn bis hin zu kompletten Modellbahnanlagen eigentlich alles, was das Herz begehrt«, berichtete Andreas Püschel aus dem Lager der DDR-Zollbehörde Ende März 1990 für den Eulenspiegel ganz schmucklos. Der für dieses Blatt sonst charakteristische Humor war ihm wohl vergangen. Auf über 300 Millionen monatlich schätzte die Regierung Modrow allein die Verluste durch Abkauf.

      Nach dem Zollbericht vom März war die höchste Summe, die ein Bundesbürger in die DDR einschmuggeln wollte, 135.000 Mark. Derartige Beträge ließen sich nicht mehr mit beabsichtigten Wareneinkäufen erklären. Da steckte schon die Absicht zu spekulieren dahinter. Seit Anfang Februar favorisierte die Bundesregierung die Strategie, die Vereinigung mit einer Währungsunion, genauer, mit dem Umtausch von Mark der DDR in D-Mark einzuleiten. Das war bekannt. Auch der Wunsch nach einem Umtausch 1:1 im Osten. Wenn man auf 1:1 spekulierte, und sich mit schwarz getauschtem Geld in der DDR ein Konto anlegte, dann war, so die Überlegung der Spekulanten, ein Gewinn von 600 bis 1000 Prozent zu erwarten. So genau ging die Spekulation allerdings am 1. Juli 1990 nicht auf. Wer als Bundesbürger nach dem 1. Januar auf einer DDR-Bank ein Konto anzulegen verstanden hatte, durfte 1:3 umtauschen. Das war immerhin das Doppelte bis Dreifache des ursprünglichen Einsatzes.

      Kein Wunder, daß die Alu-Chips bis zum letzten Tag ihrer Existenz als DDR-Binnenwährung begehrt blieben – beim bundesdeutschen Schnäppchenjäger.

      * Folgende Beiträge sind in der Serie bisher erschienen: Am 18. Oktober: »Friedliche Revolution«? Von Uwe Jens Heuer; 30./31. Oktober: Die DDR war nicht pleite. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen und das Scheitern der DDR. Von Siegfried Wenzel; 5. November: Kampflos zurückgewichen. Die SED, die Krise der DDR und die Offensive der USA zur Unterstützung für Gorbatschows Perestroika-Politik. Von Eberhard Czichon und Heinz Marohn; 9. November: Preisgegeben zum Abschuß. Im »gesamteuropäischen Haus« Gorbatschows war nur Platz für ein Deutschland. Von Eberhard Czichon und Heinz Marohn

      http://www.jungewelt.de/2004/11-22/003.php
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 16:24:09
      Beitrag Nr. 12 ()
      Wenn ich wüßte, daß so Leute wie Connor wieder hinter ihr verschwinden, dann hätte auch ich nichts gegen die Wiedererrichtung der Mauer.
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 17:05:33
      Beitrag Nr. 13 ()
      Diese Beiträge in der Jungen Welt sind auch eine Seite der Wiedervereinigung!
      Viele der verbreiteten Parolen relativieren sich!
      Trotzdem war die Wiedervereinigung ein bedeutendes , historisches Ereignis, auf das viele Deutsche mit Sehnsucht gewartet haben (ich auch)!
      Nun gilt es diese optimaler zu gestalten.
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 19:34:12
      Beitrag Nr. 14 ()
      #11 Erstausgabe,

      Ein sehr gut geschriebener Artikel. Vieles habe ich selbst in dieser Zeit ganz ähnlich erlebt.

      Was aber hier noch fehlt, sind die Drückerkolonnen, die den Ostdeutschen damals das Geld aus der Tasche zogen. Beispiele waren völlig überteuerten Versicherungen und Etagenheizungen für ihre damaligen Mietwohnungen, die jetzt nicht selten leer stehen. Das letztere ist ja nun auch wieder nicht so dramatisch, da die Nutzungsdauer für den damals eingebauten Billigschrott sowieso nur einige wenige Jahre betrug.
      Außerdem vermisse ich die Raubzüge der damals übriggebliebenen DDR-Wirtschaft durch westdeutsche "Unternehmer". Vor allem wären die Mechanismen dazu interessant (z.B. die künstliche Verschuldung und die anschließende "symbolische Übername", dem Abgreifen von Fördergeldern und dem schamlosen Totalausverkauf der Betriebe durch westdeutsche "Unternehmer", den "Aktentaschengeschäften", mit denen bestimmt genug Geld gewaschen wurde usw.).
      Aber es erscheinen ja noch ein paar Artikel zur Serie...

      Ronald
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      schrieb am 22.11.04 20:10:59
      Beitrag Nr. 15 ()
      #14 von gezwirbelt

      Das was du beschreibst kommt vielleicht im nächsten Artikel.

      In #11 geht es um die Zwischenzeit wo die Mauer gefallen war und noch die Ostmark Zahlungsmittel war.

      Die anderen Geschichten passierten überwiegend nach der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland.
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 20:12:44
      Beitrag Nr. 16 ()
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 20:19:29
      Beitrag Nr. 17 ()
      Stella

      Alles was anti-deutsch ist, ist dir genehm. Nichts neues bei dir und den linken. Ich finde es gut, daß die derzeitigen Entwicklungen wenigstens offenbaren, wie ihr wirklich zur Deutschen Einheit steht.
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 22:55:42
      Beitrag Nr. 18 ()
      Sicher ist daran aber aus eines:

      Weder die SPD noch die Grünen wollten die Wiedervereinigung (Quelle: Bundestagsdebatten 1988-1991) warum nur ?

      Grade die SPD hätte doch Ihre Sozialistischen Genossen und Genossinnen begrüßen müssen ;)

      ---

      Und wenn mir hier nur einer erzählt, das er erst an den anderen und dann an sich selbst und seine Familie denkt, dann LÜGT er oder heißt Connor :D

      K.E.
      Avatar
      schrieb am 23.11.04 11:04:40
      Beitrag Nr. 19 ()
      Stella ist doch wegen ihrer Heimatstadt München (ehemals Hauptstadt der Bewegung) traumatisiert und hat Angst, daß die bösen Ossis den schönen Münchner Lack abkratzen.
      Sind ja schon genug junge Sachsen als Gastarbeiter in München.

      Die Nazis

      machen es uns vor
      Niemand hat die Chancen der Wiedervereinigung
      so erfolgreich genutzt wie die Rechtsextremisten
      BERLIN taz

      Man kann nicht behaupten, die deutsche Einheit habe keine Erfolgsgeschichte. Eine, wo der Westen vom Osten wirklich Entscheidendes lernt und es nicht nur behauptet. Wo der Osten die Erfahrungen des Westens neidlos anerkennt und entsprechend handelt. Und wo um Gemeinsames gerungen wird und am Ende etwas Neues und Innovatives entsteht. Doch, das gibt es. Und das beste Beispiel dafür sind unsere Nazis.

      Als die Mauer fiel, fürchteten viele - vor allem im Ausland -, nun würde Deutschland erneut nach rechts driften. Vermutlich auch, weil Klischees so stupide sind. Doch hierzulande mochte man nicht ermahnt werden. Nicht jetzt, in der Stunde der Seligkeit. Und in aller Ruhe konnte die extreme Rechte etwas völlig Neues aufbauen.

      Wie haben sie das gemacht? Sie haben genau hingesehen, ihre Chancen erkannt, das Potenzial des Ostens richtig eingeschätzt und Schritt für Schritt auch neue Organisationsformen - etwa "Kameradschaften" - schätzen gelernt. Sie haben Themen gesetzt, in Bewegungen und Stimmungen eingebracht und sich nicht gewehrt gegen den rauen sozialrevolutionären Wind, der aus dem Osten wehte. Im Gegenteil. So wurde die NPD der Rechtskonservativen und Altnazis langsam zu einer Partei neuen Typs mit vielen Aktionsformen und durch den Osten inspirierten frischen Debatten.

      Die Kameradschaften und ihre Netze sind ein echtes Nachwendeprodukt. Hier hat der Osten gezeigt, wie es gehen kann. Zwischen autonom und führerorientiert dominierten die Kameradschaften bald ganze Landstriche im Osten, während die intellektuelle Verarbeitung und Übersetzung in Strategien als Gemeinschaftswerk auch auf den Westen auszustrahlen begann.

      Das verlief zwar nicht ohne Probleme und Rivalitäten, doch schließlich war die Herausforderung, aus Ost und West etwas Neues zu machen, verlockend. Und wirklich, bei den Nazis spielen Ost-West-Probleme heute kaum eine Rolle.

      Nazigrößen wie Steffen Hupka lockte es in den Osten. Er kaufte das Schloss Trebnitz in Sachsen-Anhalt, Günther Deckert ließ sich im sächsischen Gränitz nieder, und Thorsten Heise hat sich im thüringischen Fretterode ein Fachwerkhaus zugelegt. Doch nicht die günstigen Liegenschaften allein machten den Osten so anziehend für sie. In jeder Klein- oder Großstadt bildeten sich Gruppen - mal Kameradschaften genannt, mal Heimatschutzbund -, die mit wenig oder gar keiner Konkurrenz den Alltag beeinflussten. Sie sind aktiv, zeigen Initiative und organisieren sich. Eine echte Aufbruchstimmung seit 1989.

      Viele Menschen in Ostdeutschland fragten sich, was an den Nazis so falsch sein soll. Ist das nicht Demokratie? Es etabliert sich ein Alltag mit Nazis als immer währende Hintergrundmusik. Sogar Gewalt gehört zu diesem Alltag. Gewalt gegen die Feindgruppen: Linke, Ausländer, Obdachlose, Schwule, Juden. So zeigt sich Ostdeutschland nicht nur als Reservoir fabelhafter Immobilien, sondern als Übungsgelände. Wie weit kann man gehen im Alltag, wie die Leute ansprechen, wie Netzwerke entwickeln? Und wo kann trainiert, effektiv trainiert werden? Mit Waffen, mit Strukturen, mit Meinungsbildern. Das Modell kulturelle Hegemonie in den Gemeinden konnte nur im Osten ausprobiert werden. Die westdeutschen Rechtsextremen lernen daraus. Die Zeit wurde gut genutzt, die Erfahrungen helfen, nun auch stärker wieder den Westen anzugehen. Und dies mündet mal in Wahlerfolge, mal in dominante Jugendkultur, mal in beides.

      Zugegeben: Unsere Nazis hatten auch Hilfe. Die Wiedervereinigung wies in ihrem Charakter in Richtung Nationalstaat als eher völkischer denn verfassungspatriotischer Bund. Die Stimmung seit dem Mauerfall richtete sich augenblicklich gegen Migranten und Ausländer. Und kein Kanzler widersprach dem. Im Gegenteil. Kommentarlos und ohne Hilfe wurden 20 Prozent der Flüchtlinge in Ostdeutschland abgesetzt. Dies kulminierte als inszenierte Katastrophe im Pogrom von Rostock 1992.

      Die neuen Nazis im Osten wurden als Wende- und Jugendgewaltproblem klein geredet, zu Opfern der Umstände. Offene und akzeptierende Jugendarbeit, die schon im Westen versagt hatte, sollte es richten. Diesmal waren ABM-Muttis und -Vatis hilfreich beim Aufbau der nationalistischen Infrastruktur.

      Doch diese Erfolgsgeschichte ist ohne ein gehöriges Ignorieren, Übersehen, Abwehren und Verleugnen kaum denkbar. Und das wurde in Deutschland - auch in der DDR - gründlich trainiert. Die Ossis beharrten aggressiv darauf, kein Problem mit Nazis zu haben, und die Wessis übten milde Nach- und Vorsicht. Ausgerechnet an dieser Stelle.

      Daran hat sich einiges geändert im Laufe der Jahre. Aber eben nicht so schnell, wie unsere Nazis in der Bevölkerung erfolgreich sein konnten. Sie haben es geschafft, dass fast alles, was geschieht, sich durch ihre Linse bricht und neue ideologische Nahrung liefert. Sie haben ein Muster kreiert, das funktioniert, weil es übersehen wird. Sie haben Themen infiziert - und das durch eine Mischung aus Strategie, Gewalt und Nachbarschaftshilfe, zwischen Ideologieschulung und gemeinschaftsstiftenden Gewaltexzessen, zwischen Alt- und Neonazis, Kadern und Skinheads, Parteidisziplin und autonomer Wildheit. Zwischen Ost und West. " ANETTA KAHANE

      ANETTA KAHANE (50) ist Vorsitzende der 1998 von ihr gegründeten Amadeu-Antonio-Stiftung
      taz Nr. 7509 vom 9.11.2004, Seite 4, 189 Zeilen (TAZ-Bericht), ANETTA KAHANE

      http://www.taz.de/pt/2004/11/09/a0129.nf/text


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