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    Sind wir alle biotechnische Maschinen? - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 04.07.00 21:22:28 von
    neuester Beitrag 05.07.00 13:46:49 von
    Beiträge: 5
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      schrieb am 04.07.00 21:22:28
      Beitrag Nr. 1 ()
      Sind wir Menschen determinierte biotechnische Maschinen oder gibt es doch so etwas wie eine Seele und Raum für Metaphysik?

      Wer sich für dieses Thema interessiert, dem empfehle ich den Artikel "Heiliges Erschauern" ("Die Zeit" v. 29.6. S. 39)

      Es wird eine Schicksalsfrage behandelt, von der unsere Zukunft abhängt!

      Meinungen erwünscht!
      Avatar
      schrieb am 04.07.00 21:34:39
      Beitrag Nr. 2 ()
      Kannst Du den Artikel hier reinstellen? oder einen Link angeben? danke!
      Avatar
      schrieb am 05.07.00 13:00:47
      Beitrag Nr. 3 ()
      Hier der umfangreiche Artikel:

      Am Ende der Weimarer Republik bereitete die sozialdemokratische Reichstagsfraktion einen Gesetzentwurf vor, der für rückfällige Straftäter, so genannte "Gewohnheitsverbrecher", die freiwillige Sterilisation vorsah. Als einige Zeit später die Nazis ein Gesetz über die zwangsweise Sterilisation von Gewohnheitsverbrechern verabschiedeten, wurde dies von der Auslands-SPD vorbehaltlos als fortschrittliche Maßnahme im Kampf gegen das Verbrechen begrüßt. Dass Kriminalität erblich sei, galt als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis.

      Trotz vereinzelter Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, ein "Kriminalitätsgen" ausfindig zu machen. Heute würde man vermutlich auch nicht zu einer so einschneidenden Maßnahme wie einer Sterilisation schreiten, sondern vielleicht einen genchirurgischen Eingriff versuchen. Indes war die Vermutung, Kriminalität sei erblich, schon damals nicht so sicher bestätigt, wie diejenigen glaubten, die daraus politische Schlussfolgerungen für die Strafgesetzgebung zogen. Doch die Autorität der Naturwissenschaften stand außer Zweifel, und ihre eindrucksvollen Fortschritte, vor allem in der von Darwin begründeten Evolutionstheorie, ließen der Politik scheinbar keine andere Wahl.

      Eine noch viel stärkere Überwältigung der Öffentlichkeit durch die Wissenschaft scheint gegenwärtig stattzufinden. Wiederum sind es neue, in rascher Folge gewonnene Erkenntnisse über die Natur des Menschen und Techniken ihrer Veränderung, welche ein heiliges Erschauern hervorrufen. Neben Humangenetik und Hirnforschung, Soziobiologie und Evolutionspsychologie treten die beeindruckenden Leistungen der Computertechnik, der Nanotechnologie und jener Wissenschafts- und Technikzweige, welche beide Entwicklungen miteinander verknüpfen, also Biophysik und -informatik, die Entwicklung intelligenter Software oder die Robotik. Deren Möglichkeiten erscheinen zugleich als Bedrohung und als glückliche Chance.

      Wiederum sind es vor allem die auf wissenschaftliche Autorität gestützten Schlussfolgerungen, welche die Zukunft bedrohlich erscheinen lassen. Wenn die Soziobiologie Vergewaltigungen von Frauen durch Männer mit einer genetischen Verhaltensprogrammierung erklärt, ist dann nicht jeder Vergewaltiger unschuldig? Wenn Menschen ihr Erbgut durch technische Eingriffe verändern oder gar im Wege der Klonierung verdoppeln können, muss man sich dann nicht vor den Missbrauchsgefahren fürchten und Kontrollen einführen? Sind solche Regeln nicht eigentlich Züchtungsregeln für Menschen? Wenn ein Psychotiker wie der "Unabomber" die Nanotechnik in die Hände bekommt - droht dann der Welt nicht eine Katastrophe, gegen die sich die Pläne der notorisch Bösen in jedem James-Bond-Film geradezu idyllisch ausnehmen?

      Wir sind leichtgläubig gegenüber der Autorität der Wissenschaft

      Gewiss wäre es falsch, solche Gefahren herunterzuspielen oder gar zu leugnen, wie umgekehrt die Augen vor den neuen Möglichkeiten zu verschließen. Irritierend sind jedoch die Leichtgläubigkeit und Leichtfertigkeit, mit welchen Wissenschaft und Technik Autorität zugeschrieben werden. Das gilt auch noch für jene radikalen Gegner, die hinter jeder soziobiologischen Forschungshypothese gleich Faschismus wittern und daher die Soziobiologie am liebsten ganz verbieten möchten. Die Kardinaltugend der Wissenschaft ist jedoch die Skepsis, denn nur der beständige Zweifel motiviert zur Überprüfung scheinbar gesicherter Erkenntnisse, bis sie sich als falsch herausstellen.

      Leider wird diese Tugend oftmals auch von der Wissenschaft selbst nicht beachtet, wenn sie euphorisch oder furchtsam von den ungeahnten Möglichkeiten der Zukunft schwärmt. Lässt dieses Staunen, anders als bei Platon, die Kritik verstummen? Die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte treffen jedenfalls auf eine auffallende Bereitschaft, die Strapazen der Kritik nicht mehr auf sich zu nehmen oder Bedenken als wissenschafts- und technikfeindlich zu verdammen. "Wissenschaft", so war kürzlich zu lesen, "ist spannend wie ein Thriller, spannender als viele Romane oder Filme." Ja, Wissenschaft kann sehr spannend sein - aber warum soll die Selbstauslegung des Menschen in Literatur und Film weniger spannend sein? Weil Kunst dem Betrachter die Fragwürdigkeit seiner eigenen Selbst- und Weltdeutung offenbart und Gewissheiten relativiert? Die gläubige Bejahung der Wissenschaft räumt dagegen mit Selbstzweifeln auf. Warum soll man sich durch Kunst ins Leiden an der Endlichkeit treiben lassen, wenn man sich doch klonen kann?

      Das geht freilich nur, wenn dabei die Wissenschaft selbst sakralisiert und zu einer säkularen Religion erhoben wird. Dann werden einfach ihre kulturellen und politischen Relativierungen abgestreift, und die konstruktivistische Natur der Wissenschaft als eine menschliche Problemlösungspraxis wird unsichtbar gemacht. Ulrich Raulff hat in der FAZ angesichts der Berliner Ausstellung Sieben Hügel die nötigen Stichworte geliefert. Endlich würden die Wissenschaftsobjekte dieser Ausstellung kontextfrei präsentiert - "zur Freude all derer, die sich an den pädagogischen und sozialhistorischen Ausstellungen satt gesehen haben ... Zugleich erscheint sie als eine ideale Form, um eine Wissenschaftsreligion zu zelebrieren, die endlich die kulturellen Ketten des neunzehnten und die politischen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts abgeschüttelt hat und im Begriff ist, eine reine Religion zu werden: die stärkste Form der Bindung und Bündelung geistiger Energie."

      Das ist die Zumutung einer Paradoxie. Die Wissenschaft, die vom methodischen Zweifel lebt, die sich nur der Bemühung um Falsifikation verdankt, soll fraglos hingenommen und von jeglichem Zweifel, der ja nur ein törichter wäre, gereinigt werden. Die Vernunft soll ihre Ansprüche aufgeben; die Gläubigen sollen demütig ihr "Amen" beten. Demgegenüber scheint die kulturelle, politische und sozialhistorische Reflexion der Wissenschaft langweilig. Sie macht aus dem Thriller eine trockene Abhandlung und aus dem Neuen Testament eine historische Untersuchung über das Leben Jesu. So wird im Zeitalter der Globalisierung Wissenschaft zur neuen Religion, die unser Selbstverständnis angreift, um es zu verändern.

      Dabei könnte schon eine einfache Überlegung davon überzeugen, dass es die reine Naturwissenschaft ohne sozialhistorischen Kontext nicht gibt: Einer der wichtigsten Paradigmenwechsel in der Evolutionstheorie steht in einem auffälligen Zusammenhang mit sozialhistorischen Veränderungen. Es dürfte nämlich kein Zufall sein, dass die Evolutionstheorie die Erhaltung der Art zum wichtigsten Selektionskriterium zu einer Zeit erhob, als der Nationalismus den Vorrang des Kollektivs vor dem Einzelnen forderte. Und wenn heute demgegenüber behauptet wird, die treibende Kraft der menschlichen Evolution sei allein die Weitergabe der individuellen Gene, so dürfte ein Zusammenhang mit dem gegenwärtig dominierenden Individualismus der Ökonomie nicht ganz fern liegen.

      Man denke nur an den Ende des 19. Jahrhunderts ausgetragenen Streit zwischen Virchow und Haeckel über den "demokratischen" oder "autoritären" Aufbau der Zelle. An dieser Kontroverse lässt sich nachvollziehen, wie sehr die Naturwissenschaften bis in die Wahl ihrer Metaphern den kulturellen und sozialhistorischen Kontexten verhaftet sind. Auch bieten die Verflechtungen zwischen Naturwissenschaften, technischen Wissenschaften und Ökonomie genügend Anlass, kontextorientiert über die Wissenschaft zu denken. Gewiss löst sich Wissenschaft dabei nicht in Sozialhistorie auf, und der Nachweis eines genetischen Zusammenhangs zwischen sozialen Veränderungen und wissenschaftlicher Erkenntnis berührt deren Wahrheitsgehalt nicht. Aber allein schon der Streit zwischen Experten und Gutachtern über die politisch relevanten Fragen der Wissenschaft sollte uns vor einer religiösen Einstellung bewahren.

      Möglicherweise birgt die Wissenschaftsreligion größere Gefahren als die einzelnen Ergebnisse der Wissenschaft selbst. In der Geschichte sind es nämlich stets die Wissenschaftsgläubigen gewesen, die Popularisierer und großen Vereinfacher, die sich zu leichtfertigen Schlussfolgerungen hinreißen ließen. Das eindrucksvollste und zugleich schrecklichste Beispiel ist die simple Übertragung der Darwinschen Evolutionstheorie auf Ethnien, Gesellschaften und Kulturen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Vor allem zwei Probleme werden bei solchen popularisierenden Schlussfolgerungen leicht übersehen: der so genannte "naturalistische Fehlschluss" und der Reduktionismus. Der Philosoph David Hume und mit ihm die Aufklärung hatten auf den logischen Fehler aufmerksam gemacht, den begeht, wer aus einem Sein ein Sollen, aus der Natur verbindliche Verhaltensnormen herleiten will. Ob eine Verhaltensweise oder ein biologischer Vorgang "normal" ist, ist eine Frage der Kultur und nicht der Natur. Oder mit einem Beispiel aus der Soziobiologie: Selbst wenn die Behauptung zutreffen sollte, dass Männer in der Evolution ein Verhaltensprogramm ausdifferenziert haben, das eine Disposition zur Vergewaltigung von Frauen erzeugt, folgt daraus nicht, dass es "normal" ist, wenn Männer Frauen vergewaltigen. Dem voraus geht die Setzung einer Norm, die sich an kulturell vermittelten Kriterien des Nützlichen und Schädlichen, Gerechten und Ungerechten orientiert.

      Die Suggestionskraft wissenschaftlicher Entdeckungen verführt oft dazu, mit ihnen alles und jedes zu erklären. Das war mit Darwins Evolutionstheorie nicht anders als mit Freuds Entdeckung des Unbewussten. Wenn die Evolutionspsychologie bestimmte Verhaltensweisen der Menschen auf ihre Funktion im Wettbewerb um die günstigsten Fortpflanzungschancen zurückführt, bedeutet das weder, dass diese Verhaltensweisen ausschließlich damit erklärt werden können, noch, dass sämtliche menschliche Verhaltensweisen allein darin ihre Ursache haben. Es mag ja sein, dass dieser Wettbewerb eine größere Rolle in der Evolution von Kulturen spielt, als bislang angenommen wurde. Der Variantenreichtum menschlicher Kulturäußerungen wird jedoch schlicht verkannt, wenn von ihm behauptet wird, er bestehe letztlich in nichts anderem als verschiedenen Versuchen zur Optimierung von Fortpflanzungschancen.

      Vielleicht wurde ein Physiker zur nobelpreiswürdigen Lösung eines Problems der Quantentheorie durch den Prestigegewinn angetrieben, den er sich davon im Kampf der Männer um die Frauen mit den "besten" Genen erhoffte. Doch damit ist weder erklärt, warum dieser Mann die Quantenphysik und nicht die Evolutionspsychologie als Arena für sein Balzverhalten wählte; noch lässt sich entscheiden, ob seine quantentheoretischen Lösungen wahr oder falsch sind. Und alle Versuche einer monokausalen Erklärung scheitern spätestens dann, wenn es um singuläre Ereignisse menschlichen Verhaltens geht. Die Evolutionspsychologie vermag wichtige Einsichten zur Erklärung kriegerischen Verhaltens liefern. Aber damit lässt sich nicht vollständig erklären, warum 1618 der Dreißigjährige Krieg ausbrach.

      Was der Mensch ist, lässt sich nicht von außen bestimmen

      Ein ähnlicher Reduktionismus liegt auch den Befürchtungen über eine Entmachtung des Menschen durch Roboter oder sich selbst reproduzierende Maschinen zugrunde. Es wäre falsch, die Gefahren dieser technologischen Entwicklungen zu leugnen. Aber die Behauptung, Maschinen könnten Menschen ersetzen, setzt voraus, dass man vorher festgelegt hat, wodurch der Mensch bestimmt sei. Gewisse mathematische Fähigkeiten des Menschen lassen sich schon jetzt durch Maschinen ersetzen und sogar bei weitem übertreffen. Aber deshalb ist noch niemand auf den Gedanken gekommen, menschliche Intelligenz auf diese mathematischen Fähigkeiten zu reduzieren, um dann anschließend zu behaupten, der ganze Mensch würde in Zukunft durch Maschinen ersetzt werden.

      Was den Menschen ausmacht, lässt sich nicht allein von außen bestimmen. Menschen leben nämlich immer in zwei Welten zugleich - als biologische Wesen in der natürlichen Welt und als Kulturwesen in einer Welt symbolischer Bedeutungen, die vor allem durch die Sprache repräsentiert und durch Kommunikation vermittelt wird. Zu dieser Welt gehören auch die Selbstdeutungen der Menschen, mit denen sie bestimmen, wer sie sind und wer sie sein wollen. Die Frage, wie sich diese zwei Welten zueinander verhalten, ist eines der hartnäckigen und vielleicht auch unlösbaren Probleme der Philosophie, die gegenwärtig vor allem zwischen Hirnforschern, Psychologen und Neurophilosophen diskutiert werden.

      Gewiss lassen sich kulturelle Symbolsysteme ihrerseits wiederum "biologisch erklären" - vielleicht als ein erfolgreiches Mittel der Evolution, durch das menschliche Gehirne sich wechselseitig so beeinflussen, dass sie die höherstufigen Strukturen erwerben, die ihnen ein Überleben in einer hochkomplexen Umwelt ermöglichen. Aber von einer solchen Erklärung führt kein Weg zu dem kulturellen Bedeutungsgehalt selbst. Was die Betroffenen jeweils unter einem bestimmten kulturellen Symbol verstehen, von welchem sie in ihren sozialen Beziehungen Gebrauch machen, erschließt sich durch eine solche Erklärung nicht. Wir brauchen sie auch nicht, wenn wir verstehen wollen, wie Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, deuten. Ein Mann, der einer Frau seine Liebe erklären will, scheitert, wenn er sich dabei ohne Ironie des soziobiologischen Vokabulars bedient. Einer Frau, die vor der Entscheidung steht, ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen will oder nicht, ist nicht damit geholfen, dass ein Verhaltensbiologe sie über die "wahren" Ursachen ihrer Entscheidung aufklärt und ein Hirnforscher nach Untersuchung ihrer Gehirnstrukturen das Verhalten voraussagt. Nun mag Freiheit aus der Perspektive eines naturwissenschaftlichen Beobachters nichts als eine Illusion sein, und es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob es so etwas wie einen Anfang ohne Ursache, eine Wirksamkeit aus sich selbst in der Natur geben kann oder nicht. Nach allem, was wir wissen, gibt es sie nicht. Sobald Menschen aber miteinander kommunizieren, einander ein Versprechen geben, eines Fehlverhaltens beschuldigen oder einander verzeihen, können sie nicht umhin, an diese Illusion zu glauben und sich wechselseitig als Personen zu deuten und zu behandeln, die anders hätten handeln können und daher auch fähig und willens sind, einander Rechenschaft über ihr Handeln in der Weise zu geben, als ob es ihr jeweiliges Handeln wäre - und nicht das Resultat von Naturprozessen.

      Auch wenn sich die Kultur der Selbst- und Weltdeutung nicht vollständig auf Natur reduzieren lässt, so bleibt es doch zumindest eine offene Frage, wie sich diese Kultur unter dem Einfluss einer Wissenschaftsreligion verändern wird. Zwei gegenläufige Entwicklungen zeichnen sich ab: Auf der einen Seite nehmen die Verfügungsmöglichkeiten des Menschen über seine eigene Natur und die seiner Nachkommen erheblich zu. Zu unserer gegenwärtigen Kultur der Welt- und Selbstdeutung gehört es nun aber, dass wir uns wechselseitig als Personen deuten, die über Wahlmöglichkeiten verfügen und - bei Abwesenheit von Zwang - auch frei sind. Wer sich in dieser Situation für die eine Handlung entscheidet, hätte sich auch für die andere entscheiden, also anders handeln können. Weil wir einander wechselseitig diese Freiheit zuschreiben, können wir uns auch verantwortlich machen.

      In dem Maße aber, wie es uns möglich wird, menschliche Gene zu verändern, hat die genetische Ausstattung eines Menschen für uns nicht mehr die Bedeutung eines hinzunehmenden Schicksals. Wenn wir sie verändern können, dann müssen wir auch die Verantwortung dafür übernehmen, ob wir sie verändern oder nicht. Auf dieses Symbolsystem, auf die Deutung des Menschen als freie, verantwortliche Person, beziehen sich auch jene Wissenschaftler, die wie Bill Joy nach einer Verantwortung von Wissenschaft und Technologie rufen. Mit der Ausdehnung unserer Verfügungsmöglichkeiten über die innere und äußere Natur wächst also auch die Zurechnung der Folgen zur individuellen Verantwortung - und dann auch die Haftung für zurechenbare schädliche Folgen - ins Unermessliche.

      Es könnte jedoch sein, dass diese Kultur der Verantwortung durch denselben Prozess untergraben wird, der zu der gewaltigen Steigerung unserer Möglichkeiten führt. Es geht nicht nur um das Problem, ob es der Menschheit gelingen wird, die Folgen von Wissenschaft und Technik zu beherrschen. Fraglich ist auch, ob wir unsere heute praktizierte Kultur der Verantwortung auch künftig noch fortsetzen können, weil wir inzwischen unser Selbstverständnis so verändern, dass wir uns gar nicht mehr als verantwortliche Personen verstehen. Das erscheint vor allem dann fraglich, wenn wir den Predigern der Wissenschaftsreligion folgen und die Forschungsergebnisse umstandslos in unser Selbstverständnis übernehmen: wenn wir zum Beispiel die Behauptung der Evolutionsspsychologie so übernehmen, dass wir uns wechselseitig als Geschlechtswesen deuten, ständig besorgt, ihre Position im Wettbewerb um die besten Gene für die Fortpflanzung zu verbessern. Wenn wir den Forschungen der Soziobiologie in der Weise folgen, dass wir uns ausschließlich als determinierte Wesen verstehen. Schließlich auch, wenn wir mit der Nanotechnologie die Grenze zwischen menschlicher Natur und Technik verwischen oder in immer größerem Umfang menschliche Gene zur Produktion von Ersatzteillagern verwenden.

      Jürgen Habermas hat bereits die Frage gestellt, ob ein menschlicher Klon sich selbst noch als eine verantwortliche Person wird verstehen können, wenn er einen Designer für seine genetische Zusammensetzung verantwortlich machen muss. Wie berechtigt diese Frage ist, wird spätestens an der Vorstellung eines sich selbst reproduzierenden Roboters deutlich. Würde es selbstverständlich sein, diesen Roboter für seine "Handlungen" verantwortlich zu machen und vor einem Strafgericht anzuklagen? Oder würde uns das ähnlich merkwürdig erscheinen wie die Strafaktion des persischen Königs Xerxes, der das Meer auspeitschen ließ?

      Das Konzept einer verantwortlichen Person gehört zu den zentralen Fundamenten einer demokratischen Verfassung. Schon immer lautete das wichtigste Argument der Demokratiegegner, bestimmte Menschen müssten von der politischen Meinungs- und Willensbildung ausgeschlossen werden, weil sie unfähig seien, verantwortlich zu entscheiden. Doch die Gründung der Gesetzgebung und des Staates auf die Zustimmung gleicher und freier Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wird nur dann zu einer hinreichenden Legitimation, wenn diese sich wechselseitig als Personen deuten, die aus Freiheit entscheiden und Verantwortung übernehmen können. Sobald wir mit der Freiheit auch die Verantwortung aus unserer Selbstdeutung streichen, verliert eine demokratische Legitimation des Staates ihren Sinn.

      Werden Menschenrechte bald zu Züchtungsregeln?

      Es ist daher widersprüchlich, wenn Bill Joy angesichts der Bedrohungsszenarien eine Ethik der Wissenschaft fordert. Sein Ruf geht ins Leere, wenn wir uns nicht mehr als verantwortliche Personen verstehen können, wenn Verantwortung und Freiheit nicht mehr in unserer gemeinsam geteilten Selbstdeutung vorkommen. Dann wird es auch sinnlos, Wissenschaft und Technik über Normen steuern zu wollen. Diese Konsequenz droht aber in dem Maße, wie wir wissenschaftliche Ergebnisse so in unsere Selbstdeutung übernehmen, dass wir uns auf genetisch determinierte, den Gesetzen der Soziobiologie unterworfene Wesen reduzieren. Der Vorschlag, Werte und Normen des Humanismus als "Züchtungsregeln" zu verstehen, nach denen Menschen selektiert werden, ist ein Schritt in diese Richtung. Zwischen den Regeln, welche die Bildung eines autonomen Gewissens ermöglichen, und Regeln für die Auswahl reproduktionswürdiger Gene wird dann kein Unterschied gemacht.

      Wenn wir anfangen, Menschenrechte als Züchtungsregeln zu verstehen, haben wir sie schon abgeschafft. Es geht nicht darum, ob dieser oder jener genchirurgische Eingriff zulässig ist. Die Gefahren beginnen dort, wo wir unser Selbstverständnis ausschließlich an naturwissenschaftlichen Erklärungen und technischen Eingriffsmöglichkeiten ausrichten. Was sollten denn Freiheit und Verantwortung aus naturwissenschaftlicher Sicht bedeuten?

      Es wird schwierig werden, die Kultur der Verantwortung gegen das neue Priestertum der Wissenschaftsreligion aufrechtzuerhalten. Wer sich im Internet einmal die Seiten angeschaut hat, auf denen weibliche Eizellen und männliche Samenzellen zur Versteigerung angeboten werden, lässt sich vielleicht noch verstören von den Werbetexten, die den evolutionären Vorteil schöner Körper anpreisen. Die Bilder der Menschen, die sich dafür hergeben, zeigen die glatten, durchtrainierten Körper der Werbewelt, denen vor allem eines gemeinsam ist: ihre Verwechselbarkeit und Austauschbarkeit. Der Mensch, der sich selbst auf seine Funktion für die Evolution reduziert, wird zu einem schönen Niemand. Dass es allerdings immer noch viele Menschen gibt, die so nicht leben wollen, kann man an dem großen Zulauf sehen, den Kunstgalerien wie die Tate Modern in London derzeit haben. Ja, auch Kunst kann man evolutionsbiologisch erklären - aber das interessiert die Kunstbetrachter in dem Augenblick nicht, wo sie an einem Kunstobjekt erfahren, dass sie deutende und verstehende Personen sind. In London kann man auch die Bilder des englischen Malers Lucien Freud sehen, die zumeist nackte menschliche Körper darstellen, in welche sich Spuren einer individuellen Lebensgeschichte eingezeichnet haben und die allen Maßstäben der Werbewelt widerstreiten. In ihrer bloß raumfüllenden Anwesenheit, in der sie nichts aussagen als sich selbst, so wie sie als gelebte Körper in diesem Augenblick an diesem zufälligen Ort da sind - daraus beziehen sie ihre Würde. Es ist die Würde von Menschen, deren Körper endlich ist und zugleich eine einmalige, unwiederholbare und deshalb unendliche Lebensgeschichte ausdrückt. Für diese Unendlichkeit geht uns vielleicht der Sinn verloren, je mehr wir uns mithilfe von Wissenschaft und Technik der körperlichen Unendlichkeit annähern. Nach ihr sehnten sich alle Untoten der Literatur, die durch eine göttliche Strafe dazu verdammt waren, nicht sterben zu können.

      Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie und Strafrecht an der Universität Frankfurt am Main
      Avatar
      schrieb am 05.07.00 13:39:31
      Beitrag Nr. 4 ()
      Du hast ein Komma vergessen! ;)


      Alles selbst eingetippt oder eingefügt?
      Avatar
      schrieb am 05.07.00 13:46:49
      Beitrag Nr. 5 ()
      Ich habe Glück gehabt, der Artikel ist auch auf der Hompage der Zeit zu finden! (zeit.de)


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