checkAd

    Erstaunliche Tendenz zur Verharmlosung der DDR - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 19.08.05 14:55:33 von
    neuester Beitrag 19.08.05 16:06:50 von
    Beiträge: 4
    ID: 1.001.319
    Aufrufe heute: 0
    Gesamt: 245
    Aktive User: 0


     Durchsuchen

    Begriffe und/oder Benutzer

     

    Top-Postings

     Ja Nein
      Avatar
      schrieb am 19.08.05 14:55:33
      Beitrag Nr. 1 ()
      "Erstaunliche Tendenz zur Verharmlosung der DDR"


      Der Streit um Ost-Frust und West-Lust führt in die Irre, meint die Behördenchefin Marianne Birthler. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht sie über ostdeutsche Verharmlosung der DDR-Diktatur und falsche Kritik aus dem Westen.

      Bundesbeauftragte Marianne Birthler: "Die deutsch-deutschen Befindlichkeiten sind ein sensibles Thema"



      SPIEGEL ONLINE: Frau Birthler, wenige Wochen vor der Bundestagswahl spielt unerwartet die DDR wieder eine politische Rolle. Der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm versucht, die Verbrechen einer Frau mit der Zwangsproletarisierung im realen Sozialismus zu erklären, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sieht die Zukunft der Republik durch den Aufstand der Frustrierten bedroht. Was halten Sie als ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin von diesen Analogien und Attacken?

      Birthler: In diesen Auseinandersetzungen wird deutlich, dass wir in Deutschland noch immer in zwei Kulturen leben. Ich fand es einerseits unsäglich, wie Herr Schönbohm die Kindermorde in Frankfurt an der Oder mit einer generellen Aussage über die DDR verknüpft hat. Andererseits dürfen wir uns um das Thema nicht drücken, welche gesellschaftlichen Schäden die SED-Diktatur nach sich zog. Die deutsch-deutschen Befindlichkeiten sind ein sensibles Thema, doch offenbar ist die Versuchung groß, es in Wahlkämpfen zu instrumentalisieren. In Ost und West übrigens: Die Reaktionen auf Schönbohm und Stoiber kamen auch nicht alle aus reinem Herzen.

      SPIEGEL ONLINE: Die Drangsalierung und Vertreibung des Bürgertums war offizielle Politik der SED. Gab es in der DDR interne Studien über das Problem der sogenannten Proletarisierung?

      Birthler: Vorab: Der Begriff Proletarisierung trifft die Sache nicht, wenn es um Straftaten und Gewalt geht. Die SED-Ideologie ließ es gar nicht zu, für solche Probleme das eigene System verantwortlich zu machen. Die Staatsanwaltschaften haben durchaus Erhebungen über Gewaltdelikte gemacht, aber die blieben unter Verschluss und wurden höchstens intern ausgewertet. Sicher ist, dass es wesentlich mehr Straftaten gab, als die DDR-Bürger ahnten. Vieles wurde geheim gehalten. Gewalt an Kindern, auch Kindstötungen, wurden vor allem als bürgerliches Delikt gesehen. Oder man machte westliche Einflüsse verantwortlich für Gewaltverbrechen.

      SPIEGEL ONLINE: Schönbohms Bemerkung zielte auf die gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt. Was ist daran falsch?

      Birthler: Über Ursachen von Gewalt kann und muss man reden, aber doch nicht am Beispiel eines Einzelfalles, bei dem uns allen der Atem stockt. Auf diese Weise Diktaturfolgen zu thematisieren, ist mehr als ungeschickt, es ist auch in der Sache falsch. Allerdings gebe ich Herrn Schönbohm ausdrücklich Recht, wenn er gesellschaftliche Defizite, die im Osten entstanden sind, thematisieren möchte.

      SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit genau?

      Birthler: 60 Jahre mit zwei Diktaturen und einem Krieg haben in den neuen Ländern Spuren hinterlassen, hinzu kommt in Brandenburg, dass sich zwischen der Zeit der Großgrundbesitzer und der Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften kaum ein solider Bauernstand entwickeln konnte. An Nationalsozialismus und einen Krieg mit verheerenden Folgen schloss sich die zweite deutsche Diktatur an. Wir müssten doch über Diktaturen nicht weiter reden, wenn wir nicht wüssten, wie schwer die Folgegenerationen daran zu tragen haben. Die Ideologien von Diktaturen zielen auf die Seelen der Menschen, die Hinterlassenschaft der DDR-Staatssicherheit ist voller Beispiele dafür. In Westdeutschland gab es nach der NS-Zeit einen über 50jährigen Demokratisierungs- und Zivilisierungsprozess. Es wäre ein Wunder, wenn man diesen Unterschied nicht mehr spüren würde.

      SPIEGEL ONLINE: Seit 1945 verliert der Osten Ingenieure, Intellektuelle, Akademiker an den Westen. Auch das hat schlimme Folgen.

      Birthler: Richtig, das kommt hinzu. Und in der Mehrheit waren es die gut ausgebildeten, die aktiveren, die in den Westen gingen, jene, die selbstbestimmt und frei leben wollten. Wer in der DDR Verantwortung übernehmen, Einfluss ausüben wollte oder unternehmerische Ambitionen hatte, musste sich zwischen der Flucht in den Westen und der SED entscheiden. Die Abwanderung aus dem Osten aus wirtschaftlichen Gründen hält außerdem bis heute an. Trotzdem warne ich davor, die Defizite, die es im Osten gibt, zu verallgemeinern und parteipolitisch zu instrumentalisieren. Und außerdem hat die DDR - gegen ihren Willen - auch einen Typus hervorgebracht, den es im Westen nicht gab: Das waren die Menschen, die sich bewusst der Macht entzogen haben - unauffällig im Alltag, was keineswegs einfach war, oder sogar durch offenen Widerstand. Offenbar lässt eine Diktatur nicht nur die Bösen böser werden. In vielen Menschen fordert sie auch die guten Seiten heraus.

      SPIEGEL ONLINE: Trotzdem: Hat Stoiber nicht ein bisschen Recht, wenn er den Frust zum Thema macht? Viele Westler fremdeln, wenn sie in den Osten fahren, weil sie vor der antibürgerlichen Attitüde zurückschrecken.

      Birthler: Was Sie an den ostdeutschen Stammtischen über den Westen hören, ist auch alles andere als freundlich, manchmal sogar erschreckend. Die mentale Mauer zwischen Ost und West ist gewachsen. Gerade darum eignet sich das Thema nicht für Scharfmacherei im Wahlkampf. Das Ziel der Stoiber-Rede war keine ernsthafte Ost-West-Debatte. Er wollte, wie Michael Glos das ja einräumte, "seine Leute in Stimmung bringen".

      SPIEGEL ONLINE: Vom realen Sozialismus existiert heute bei vielen Menschen ein ziemlich weich gezeichnetes Bild. So eine Art autoritäres Nachbarschaftsheim mit großem FKK-Strand an der Ostsee.

      Birthler: Ich höre manchmal von Schülern: Wenn man nicht gerade im Knast saß, war die DDR ganz ok. Das ist natürlich absurd. Meine Antwort lautet: Wer sich nicht bewegt, spürt keine Ketten. Aber auch diejenigen, die sich nicht bewegen, werden durch das Leben in einer Diktatur verändert. Wer jahrzehntelang akzeptiert, seine Meinung nicht zu sagen, wer bei einem Witz immer erst über die Schulter guckt, wer bestimmte Dinge schon gar nicht mehr denkt - der lebt doch kein gutes Leben. Das ist doch die Katastrophe in einer Diktatur: Sie zerstört allmählich Freiheit, Zivilisation und Selbstbestimmung, der Zensor sitzt irgendwann nicht mehr außen, sondern im Kopf. Eine perfekte Diktatur würde gar keine Gefängnisse mehr brauchen.

      SPIEGEL ONLINE: Die DDR wird heute viel mehr verharmlost als vor 15 Jahren, als die Wiedervereinigung vor der Tür stand und die Mauer abgetragen wurde. Wieso wird das Regime so verklärt?

      Birthler: Menschen neigen dazu, sich eher an das Gute als an Unangenehmes zu erinnern. Es schmerzt zu sehr, sich daran zu erinnern, dass wir eingesperrt waren, auch die Erinnerung an das eigene Verhalten kann unangenehm sein. Es gibt tatsächlich eine erstaunliche Tendenz zur Verharmlosung der DDR-Geschichte. Viele Menschen können die Kritik an einem politischen System nicht von ihrer eigenen Lebensgeschichte trennen. Seit 15 Jahren erlebe ich es, dass sich Menschen persönlich gekränkt fühlen, wenn sie hören, dass die DDR eine Diktatur gewesen sei. Ich habe auch dort gelebt, aber soll ich es vielleicht übel nehmen, wenn jemand das SED-Regime einen Unrechtsstaat nennt und das Politbüro eine Bande von Verbrechern? Das geht doch nicht gegen mich!

      SPIEGEL ONLINE: Sie haben auch gegen das Regime gekämpft. Die allermeisten DDR-Bürger haben das nicht getan.

      Birthler: Kein Grund, sich diese Jacke anzuziehen. Von manchen wird das geschickt ausgenutzt. Wenn das politische System der DDR kritisiert wird, jaulen sie auf und behaupten: Nun geht es wieder gegen uns Ostdeutsche.

      SPIEGEL ONLINE: Dieses Rezept benutzt die PDS seit 15 Jahren sehr erfolgreich.

      Birthler: Sie kommt auch deshalb damit durch, weil sie das im Osten weit verbreitete Gefühl der Zweitklassigkeit nährt und ausnutzt. Auf verschiedenste Weise werden wir bis heute mit dem großen Vorsprung des Westens konfrontiert. Der Westen gibt sich weltgewandter, erfahrener. Wir im Osten waren 1990 die ABC-Schützen der parlamentarischen, westlichen Demokratie. Bis heute werden die Geschicke des Landes vom Westen bestimmt.

      SPIEGEL ONLINE: Heutzutage ist immer wieder von "DDR-Identität" die Rede - als Abgrenzung zum Westen. Was ist das eigentlich genau?

      Birthler: Im Herbst 1989 war ich zum ersten Mal gerne DDR-Bürgerin. Ich spüre bis heute Genugtuung, wenn ich an die demokratische Revolution denke, die das System zum Einsturz brachte, an die Rettung der Stasiakten, an die Aufbauleistungen nach 1990. Ich freue mich, wenn ich die neuen alten Häuser in meiner Straße ansehe und weine der DDR keine Träne nach. Und dennoch gibt es manchmal so etwas wie Wehmut: Bei einem Lied, einer Redewendung.Wer lacht schon im Westen über die Frage "Auch Pferde?" - eine Anspielung auf ein Lied, das Manfred Krug gesungen hat. Die Erinnerung an unsere Improvisationen, an manche Feste und sogar an die Probleme - das verbindet. Es war einfach ein langes Stück Leben. Und nicht zu vergessen: Alle, die über die DDR reden, meinen eine Zeit, in der sie zwanzig Jahre jünger waren als heute.

      SPIEGEL ONLINE: Frau Birthler, es gibt in der Politik kaum noch ehemalige DDR- Bürgerrechtler. Günter Nooke und Werner Schulz kämpfen um ihren Einzug in den Bundestag, einen sicheren Listenplatz haben ihnen CDU und die Grünen verwehrt. Waren die Bürgerrechtler zu frech für die Bundesrepublik?

      Birthler: Die großen Demonstrationen von 1989 haben eine optische Täuschung erzeugt. Die Opposition der DDR war nicht groß, eher ein überschaubares Häufchen. Viele sind politisch noch immer aktiv, wenn auch nicht auf der Bundesbühne. Werner Schulz hat das wunderbar beschrieben: Wir waren wie ein Stück Zucker im Tee. Nun ist der Zucker weg - aber der Tee schmeckt besser.

      SPIEGEL ONLINE: Frau Birthler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
      Avatar
      schrieb am 19.08.05 16:00:43
      Beitrag Nr. 2 ()
      Hier wird künstlich etwas problematisiert, was im grunde nur völlig natürlich und folgerichtig ist.
      Es wäre nach menschlichem verhaltensmustern überhaupt nicht möglich gewesen eine vereinigung so unterschiedlicher systeme ohne den im günstigsten zeitablauf von ca. 30-40jahren zusammenwachsen zu lassen.

      Wenn man sich die etwa hundert jahre dauernde gegenseitioge abneigung der preußen und baiern anschaut oder die sogenannte erbfeindschaft der franzosen zu den deutschen oder umgedreht, dann müsste jedem klar sein, dass hier lediglich heiße luft von der presse erzeugt wird.

      Ich habe noch in den 60ziger jahren in den usa und manchmal noch heute abneigung der süd-und nordstaatler gegeneinander festgestellt.

      Dieses verhalten gehört zu unserem angeborenen stammesverhalten und erklärt z.b. auch deine frühere feindschaft als kind gegenüber der kinder in den anderen strassen oder dörfern.

      wir lassen uns von der presse in zusammenhang mit den bürgern der ehemaligen ddr nach diesem muster schlicht verarschen, denn alles ist paletti und kann nicht anders sein. es gibt nur ein problem in den köpfen der angestellten zeitungs-zeilenschinder.
      Avatar
      schrieb am 19.08.05 16:05:14
      Beitrag Nr. 3 ()
      sorry,
      ich hätte probelesen müssen. deshalb stoppel dir den zusammenhang im besten deutsch selber zu recht.bin einfach zu faul meinen mist selber probezulesen und noch einmal zu korrigieren.
      Avatar
      schrieb am 19.08.05 16:06:50
      Beitrag Nr. 4 ()
      Das Proletariat diktiert!

      Zwanghafte Gemeinschaft: Die führende Rolle der Arbeiterklasse in der DDR hat Folgen bis heute


      von Uta Baier

      Auf Jörg Schönbohm und seinem Wort von der Proletarisierung der DDR hacken fast alle herum, auch DDR-Nostalgiker, Mitläufer und Diktatur-Versteher. Zunächst einmal zu Recht, denn natürlich läßt sich neunfacher Neugeborenenmord nicht von einer DDR-Sozialisation ableiten. Doch darum geht es nicht. Schönbohms Kritiker wollen den Nachweis führen, daß es in der DDR keine Proletarisierung gegeben habe.

      Nur was bitte war dann das Ziel der Diktatur des Proletariats? " Die führende Rolle der Arbeiterklasse beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft kommt auch darin zum Ausdruck, daß Millionen von Arbeitern und Angestellten als Mitglieder der SED, des FDGB und der gesellschaftlichen Organisationen, als Abgeordnete, Mitglieder von Elternbeiräten in den Schulen usw. an der Leitung und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung teilnehmen." Das Staatsbürgerkundelehrbuch für Klasse 10 ist ein unerschöpflicher Quell solcher Selbstaussagen, die Jörg Schönbohm in jeder Hinsicht Recht geben. Er meinte mit Proletarisierung die erzwungene Abkehr von humanistischer Bildung und den Werten des christlichen Abendlandes.

      Oder wie ist das Nicht-Angebot an humanistischer Bildung in Form von Griechisch- und Lateinunterricht sonst zu bezeichnen? Wie das bewußte Ausblenden oder Stigmatisieren ganzer Literaturentwicklungen und europäischer Sprachen? Die meisten DDR-Bürger hatten durchaus Probleme, die Automarken richtig auszusprechen als die ersten französischen Autos in die DDR kamen. Und wie bezeichnet man das Dummhalten eines ganzen Volkes durch eine zensierende, bestimmte Literatur- und Kunstrichtungen einfach ausblendende Kulturpolitik, wenn nicht als Proletarisierung?

      Was ist die vollständige Kontrolle über die Erziehung der Kinder durch autoritär geschulte Erzieher und Lehrer anderes als eine Proletarisierung? Wurde doch bereits Kindern in der zweiten Klasse beigebracht, daß man seine Feinde, die bösen Imperialisten und im besonderen die Amerikaner, zu hassen habe und ein Krieg gegen sie deshalb gerecht sei. Niedere Gefühle ansprechen, keinen Widerspruch zulassen, angepaßt denken - das ist genau das, was den so genannten Unterschichten auch heute vorgeworfen wird. In der DDR sollte ein ganzes Volk so werden. Und viele sind es freiwillig geworden.

      Aber sprechen wir von den immer wieder angeführten Leistungen der DDR. Erstens: Kinderbetreuung. Nach dem Schock des viel besprochenen " Topfens" in DDR-Kinderkrippen hat sich längst Bewunderung für das perfekte Kinderbetreuungssystem breit gemacht. Ein Land in dem es kostenlose Ferienlager, Kindergärten, Horte gab, erscheint vielen heute wie das Paradies. Da verschweigt man gern (oder weiß es gar nicht), daß es nicht nur die Möglichkeit gab, in Krippe, Kindergarten und Hort zu gehen, sondern auch den Zwang dazu. Wer nicht hinging, war bereits suspekt.

      Wer eine Oma zu Hause hatte, die Hausfrau war, wer das Prinzip Großfamilie lebte, gehörte schon nicht mehr richtig dazu. Wer später als die anderen kam, störte die Kollektivbildung. Schon die Kindergartengruppe war ein Kollektiv, das zwar manchmal auch ins Theater gefahren wurde, aber viel öfter seine Patenbrigade (Arbeiter) besuchte. Für Mitbestimmung war kein Platz. Die Eltern wurden entmündigt, die Lehrer erzogen die Kinder. Manche Eltern haben ihre Kinder überhaupt nur am Wochenende gesehen, weil sie sie in Wochenkrippen abgeschoben haben. Wahrscheinlich haben sie das sogar ohne schlechtes Gewissen getan.

      Zweitens wird gern der Einfluß der Kirchen beschworen. Zuerst einmal: Wer in die Kirche ging und Christ war, war ein Außenseiter in einem System, das sich dem Atheismus verschrieben hatte. Wer in die Kirche ging war am weitesten vom Ziel " sozialistische Persönlichkeit" entfernt, mußte deshalb mit Abiturverbot oder Studienablehnung rechnen. Und trotzdem trauten sich in den letzten zehn DDR-Jahren viele in die Kirchen. Das ist durchaus richtig, doch wann gingen sie dorthin? Nicht zum Gottesdienst, sondern zu Blues-Messen, nicht zur Andacht, sondern in dem - leider falschen - Glauben, einmal ohne Stasispitzel ihre Meinung sagen zu können. Und die Kirchen nahmen sie gern auf. Keineswegs um sie zu agitieren, sondern um sie zu beschützen. Vielleicht haben einige von den Besuchern an der Doktrin, Glaube sei " Opium für das Volk" , zu zweifeln begonnen. Gläubige Christen sind sie deshalb keineswegs geworden, sonst wären die Ost-Kirchen heute voller.

      Doch das beste Beispiel für Proletarisierung sind die heiß geliebten Plattenbausiedlungen, diese normierten, minimalgroßen Überlebenskästen, die mit dem Ziel gebaut wurden, die Wohnverhältnisse der Arbeiterhaushalte zu verbessern. Daß sie so beliebt werden konnten, hat weniger mit der Unmöglichkeit zu tun, eine Altbauwohnung herzurichten, als mit proletarischer Mentalität. Der Kleinbürger baut ein Haus, der Proletarier lebt traditionell zur Miete. Und daß Plattenbauten schlechte, hellhörige Häuser mit schrägen, löchrigen Wänden waren, konnte auch in der DDR niemand bestreiten. Noch nicht einmal ein gewöhnlicher Sarg paßte durchs Treppenhaus.

      Und ganz zum Schluß soll mit noch einem besonders ärgerlichen Mythos aufgeräumt werden. Immer wieder heißt es, daß es bei den Menschen eine ausgeprägte Solidarisierung und Mitmenschlichkeit als Reaktion auf den obrigkeitlichen Druck gegeben habe. Wirklich? Wer hat sich mit wem solidarisiert? Und warum? Die Schulkinder, die zur Solidarität mit Angola gezwungen wurden, die, kaum mit allen Buchstaben vertraut, Protestbriefe gegen die Inhaftierung von Louis Corvalán unterschreiben mußten? Oder etwa die so genannten Wohngemeinschaften, in denen Hausbücher geführt wurden und Nachbarn von der Stasi nach dem Charakter 15jähriger Kinder, die Abitur machen wollten, ausgelauscht wurden? Oder die Arbeitskollektive, in denen zwanghaft gemeinsam Frauentag gefeiert und die Fahne zum 1. Mai geschwungen werden mußte? Und überhaupt - warum sind dieselben Menschen, die einst so solidarisch waren, es nun plötzlich nicht mehr?

      Die Antwort ist lächerlich einfach. Mitmenschlichkeit bedeutete eben nicht selbstlose Hilfe und Freundschaft, sondern Warentausch: Hast du ein neues Waschbecken, geb` ich dir drei Trabi-Reifen.


      ------------------


      Beitrag zu dieser Diskussion schreiben


      Zu dieser Diskussion können keine Beiträge mehr verfasst werden, da der letzte Beitrag vor mehr als zwei Jahren verfasst wurde und die Diskussion daraufhin archiviert wurde.
      Bitte wenden Sie sich an feedback@wallstreet-online.de und erfragen Sie die Reaktivierung der Diskussion oder starten Sie
      hier
      eine neue Diskussion.
      Erstaunliche Tendenz zur Verharmlosung der DDR